Tschari gehen, tschari sein

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 46/2023 vom 15. November 2023

Liebe Frau Andrea,
mein Mann und ich rätseln, woher der Begriff „tscharre gehen“ kommt – zumindest in dieser Schreibweise gibt auch das Internet nicht viel her.
Besten Dank!
Karin Mayr, Ottakring, per Email

Liebe Karin,

wie Sie schon dem Titel dieser Kolumne entnehmen können, schreibt sich unser gesuchtes Wort tschari“ (ausgesprochen dschari, dschare), in der Bedeutung „verloren gehen“, „verschwinden“. Es ist bestes, blumiges Urwienerisch. Lange bemühten die Sprachforscher das tschechisch-ziegelböhmische čáry (Zauber, Hexerei) als Ursprung von „tschari“, indem sie sich der durchaus schlüssigen Interpretation hingaben, das Verschwinden von Pretiosen, Geld und Möglichkeiten sei als Verzauberung aufgefasst worden.

Eine etwas bessere Etymologie führt tschari auf ein westösterreichisch-alemannisches, jedenfalls aber lautmalerisches schädern, tschädern (zerspringen, zerbrechen) und tschäderig, schätterig (klirrend, scheppernd, gebrechlich, hinfällig) zurück. Dass hier alte germanische Verwandtschaften vorliegen, liegt nahe. So bedeuten mittelenglisch „scateren“, altniederländisch „schetteren“, und niederdeutsch „schateren“ zerbrechen, in Stücke bersten, auseinanderfliegen. Modernes englisch „to shatter“ heißt noch heute zerbrechen, zerschmettern, zerreißen, zerrütten.

Eine weniger bekannte Variante unseres tschari ist tschali (dschali, auch dschäuli ausgesprochen), es bedeutet ebenfalls „verloren gehen“. Für diese Form ist das jiddische challa, schalet, scholent, tscholent (Opferkuchenteig) produktiv gewesen. Dieser wird am Nachmittag vor dem arbeitsfreien Sabbath von der Hausfrau gebacken und als (die) chále zeremoniell als Opfergabe ins Feuer geworfen, womit der Bedeutungszusammenhang mit „verloren, verschwunden“ gegeben ist. Die chále, Tschale kommt nicht, wie volksetymologisch nahe läge, von der zerbrechlichen Schale, sondern über das altfranzösische chauld, spanische caliente, cálido (warm) vom lateinischen calidus (warm, heiß).

Wem das alles noch nicht zu kompliziert ist, kann zum Verlustiggehen auch „futsch“ sagen, oder noch schöner: Futschigatto.

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Saisonlegende Badewaschl

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 45/2023 vom 8. November 2023

Liebe Frau Andrea,
dieses Jahr war ich klimahitze-technisch sehr oft bezüglich dringender Abkühlung im wunderschönen Wiener Schafbergbad. Bei meinen Schwimmrunden sah ich immer wieder zu dem Herrn Bademeister auf, und fragte mich, woher der Begriff „Badewaschl“ kommt? Von den Badeschlapfen? In meiner Kindheit noch sehr häufig verwendet, jetzt kaum noch verwendet.
Vielen Dank
Anton Bojkowszky, 1180 Wien, per Elektropost von meinem/meiner Galaxy gesendet.

Lieber Anton,

er ist meist braungebrannt und gutraisert, sonnengegerbt und in zierliche Falten gelegt ist sein strenges Gesicht. In der Regel ist der Mann blond, und modisch, wenn auch sparsam tätowiert, über den semimuskulösen Oberkörper und den altersbedingten Gösserbauch spannt sich ein weißes Dienst-T-Shirt (wienerisch: Ruderleiberl). Das genretypische Kurzbeinkleid ist von den Tennislehrern abgeschaut, ebenso die futkarlistische Spiegelbrille und die Pausenzigaretten im Hosentaschl. Die obligatorischen Schlapfen erzwingen Gelassenheit. Am Handgelenk trägt er ein Roleximitat, um den Hals echtes Gold. Sein wichtigstes Utensil aber ist: Das Pfeiferl. Wer je österreichisches Bad besucht hat kennt den Badewaschl. Seinen Spruch, seine Autorität, die schneidenden Pfiffe am Beckenrand.

Wie oft in Fragen der sprachlichen Herkunft bezieht der Badewaschl (offiziell Bademeister) seine Nämlichkeit aus seiner einstigen Funktion. Heute Regent war er ursprünglich Domestik. Der Wasch(e)l, der Wäscher im Bad war Badediener und oft auch Barbier. In ähnlicher Weise bezeichnet Kuchelwaschel den Abwäscher in der Küche, und Kirchenwaschl den Hausknecht in der Dorfkirche. Waschel ist auch der Badeschwamm, der großen Pinsel und der Scheuerbesen mit Aufreibfetzen.

Selten ist der Matador des Schwimmbades ein Wastl (Sebastian), ein dicker Kerl, und niemals ein Waserl (ein Waisenkind), ein Feigling, ein ängstlicher Mensch. Alles am Badewaschl ist Übersicht, Souveränität und Autorität. Eindruck, Aussehen und Ansehen bestimmen sein Handeln. Kein Berufsbild schreit wortloser: „Östarrech!“


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Mal schnell noch AI gefragt

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 44/2023 vom 1. November 2023

Liebe Frau Andrea,
warum soll ich Frau Andrea und nicht etwa eine AI fragen, wenn ich etwas wissen will, was mir Google und meine Umgebung nicht oder nur sehr diffus erklären können? Frage für eine Freundin.
Beste Grüße,
Lara Mayer-Schmidt, Wien Neubau, per Email

Liebe Lara,

wir wollen diese Frage an die alternative Instanz weiterreichen. Schauen wir mal, was die Fragentante ChatGPT zur Sache beisteuern kann. Der Konversationsautomat antwortet dies:

„Liebe Lara, es ist großartig, dass du eine so vielfältige Informationsquelle wie das Internet nutzt, um Antworten auf deine Fragen zu finden. Es gibt jedoch einige Gründe, warum es sinnvoll sein könnte, Frau Andrea vom Falter zu kontaktieren, besonders wenn es um spezifische, lokalbezogene oder spezialisierte Informationen geht: 1. Frau Andrea vom Falter könnte über spezifische Expertise oder Zugang zu Informationen verfügen, die nicht allgemein über Suchmaschinen verfügbar sind. Insbesondere, wenn es um lokale Angelegenheiten in Wien geht, könnte sie tiefergehende Kenntnisse haben. 2. Der Falter ist eine Zeitschrift, die aktuelle Nachrichten und Hintergrundinformationen bietet. Wenn es um brandneue Entwicklungen oder Themen geht, könnte Frau Andrea möglicherweise besser informiert sein als eine allgemeine Suchmaschine. 3. Frau Andrea könnte eine persönliche Meinung oder Einschätzung zu einem Thema haben, die nicht in offiziellen Informationen oder Nachrichtenartikeln zu finden ist. Dies könnte eine zusätzliche Perspektive bieten. 4. Falls das Thema komplex ist oder mehrere Facetten hat, könnte Frau Andrea in der Lage sein, mit anderen Experten zu sprechen oder Ressourcen bereitzustellen, die für eine vollständigere Antwort wichtig sind. 5. Insbesondere wenn es um lokale Angelegenheiten in Wien geht, könnte Frau Andrea möglicherweise Kontakte zu Experten, Organisationen oder Personen haben, die spezifische Informationen haben.

Es hängt von der Art der Frage und den benötigten Informationen ab, welche Quelle am besten geeignet ist. Wenn noch weitere Fragen auftauchen, stehe ich gerne zur Verfügung.

Beste Grüße nach Wien Neubau!
ChatGPT, nach Diktat verreist “


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Wenn die Straße ein Aua macht

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 43/2023 zum 25. Oktober 2023

Liebe Frau Andrea,
auf dem Weg zum Kindergarten hüpfen, laufen, tanzen, springen mein 4jähriger Enkel und ich über viele Pflastersteine. „Pflastersteine“, sagt der Kleine, „die heißen sicher so, weil man ein Pflaster braucht, wenn man hinfällt!“ Ich finde, das ist eine sehr schlüssige Erklärung, aber ist sie auch richtig? Bitte klären Sie mich auf!
Liebe Grüße,
Susanne Jungnikl, von meinem iPhone gesendet

Liebe Susanne,

die spontane Begriffsdeutung Ihres Enkels ist ein typischen Beispiel für eine sogenannte Kindesetymologie. Den Versuch von Kindern, sich die Bedeutung komplexer Wörter selbst zu erklären beschrieb erstmals das differenzial- und enwicklungspsychologisch forschende Paar Clara und William Stern. Sowohl korrekte als auch misslungene Deutungen kämen dabei zustande. Den Beginn solcher Bemühungen setzten Stern und Stern für das späte dritte und das vierte Lebensjahr an. In ihrer psychologisch und sprachtheoretischen Untersuchung „Die Kindersprache“, 1907 erschienen, geben sie Beispiele für solche Deutungen. Der „Ozean“, meint ein von Stern und Stern zitiertes Kind, hieße so, „weil man doch manchmal, wen man ihn sieht [staunend], oh! oh!“ sage. Ein „Erkerzimmer, so ein anderes, in der Arbeit angeführtes Kind, sei „wo man sich drin ärgert.“

Wie hängen nun das Pflaster auf dem wir gehen, laufen und vielleicht hinfallen mit dem Pflaster zusammen, das eine Schürfwunde versorgt? Pflaster, althochdeutsch pflastar wurde in beiden Bedeutungen schon früh entlehnt aus lateinisch emplastrum (Wundpflaster und übertragen Bindemittel für Steinbau), war doch in alter Zeit das Pflaster mehr Aufgestrichenes als Aufgeklebtes. Das lateinische emplastrum wiederum kommt vom griechischen emplastron gleicher Bedeutung (zu emplässein „aufschmieren“, einer Ableitung von griechisch plässein „aus weicher Masse formen, bilden, gestalten“). Wir sehen hie auch die Verwandschaft zu plastisch, Plastik.

Dazu plassend, äh passend Anekdotisches: Als ich selbst ein Kind war, war ich sicher, die marmorhellen Statuen im Kunsthistorischen Museum hießen „Plastik“, weil sie so „plas“ (blass) waren.


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Der Autokrat und sein Titel

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 42/2023 zum 18. Oktober 2023

Liebe Frau Andrea,
Kim Jong Un wird in den österreichischen Medien häufig als Diktator, Vladimir Putin als Präsident und Xi Jinping als Staatschef bezeichnet. Wie unterscheiden Journalisten mit welchen „Berufstiteln“ totalitäre Machthaber in den Medien bezeichnet werden? Sprache schafft ja bekanntlich Wirklichkeit.
Mit besten Grüßen,
Moritz Huemer aus Wien, per Email

Lieber Alfred,
wie der verdiente Zitatforscher Gerald Krieghofer berichtet, wird der Aphorismus, nach dem Sprache Wirklichkeit schaffe, fälschlich dem Philosophen Ludwig Wittgenstein zugeschrieben, in seinen Texten ist er so nicht zu finden. Mit der gleichen Dringlichkeit, mit der „Sprache Wirklichkeit schafft“, schafft Wirklichkeit Sprache. Die Frage nach der publizistischen Berufsbenennungskultur ist nicht entgültig und auch nicht sauber zu beantworten. Kommt es doch darauf an, wer wann wo für welches Publikum ausgesuchte Teilnehmer am Weltgeschehen benennt. Eine radikale Glosse in einem Samisdat hat andere politische Tonalität als die Herausgeber-Kolumne in einem großen Boulevard-Dampfer oder die Kurznachricht einer seriöselnden Presseagentur.
Kim Jong Un ist „Oberster Führer“, „Großer Nachfolger“ und „Präsident für Staatsangelegenheiten“, zusammengefasst „Großartiger Nachfolger und Führer von Partei, Armee und Volk“. Verständlicherweise verkürzt das der Westen zum Berufstitel „Diktator“. Kims neuer Freund hält es schlichter. Der russische Momentan-Zar Wladimir Wladimirowitsch Putin will offiziell nicht mehr sein als „Präsident der Russischen Föderation“. Staatschef und Autokrat ist er dennoch. Wie sein Kollege Xi Jinping, „Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas“, „Vorsitzender der Zentralen Militärkommission“ und „Staatspräsident der Volksrepublik China“. Er gilt aufgrund seiner Machtfülle als der „Überragende Führer“ (chinesisch Zuìgāo Lǐngdǎorén, englisch Paramount Leader).
Wie halten wir es in Österreich? Mit der qualtingerhaften Frage natürlich, ob man zu einem beliebigen Bundeskanzler Trottel sagen darf. Selbstverständlich nicht, sagen die Experten. Zu einem Trottel Bundeskanzler zu sagen, sei indes nicht verboten.


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Schottern wie nur

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 41/2023 zum 11. Oktober 2023

Liebe Frau Andrea,
in meiner Kindheit und Jugend (*1954) wurde jemand, der besonders schnell laufen konnte mit dem Kompliment „nau dea kaun schodan (schottern)!“ bedacht. Frau Dr. Hornung mit ihrem Wörterbuch kann mir bei der Worterklärung da nicht weiterhelfen! Können sie es?
Im Voraus dankt
Alfred Kampel, Wien Floridsdorf, per Email

Lieber Alfred,

wir werden versuchen, etwas Licht in das Dunkel einiger Begriffe zu werfen. Eine ganze Reihe sehr ähnlich lautender Wörter in der österreichischen Umgangssprache bezeichnen das schnelle Laufen, das schnelle Fahren und jegliches Rasen, aber auch die damit verbundenen Geräusche. Wir alle kennen tschindern, tschundern, schurln, oft mit vorangestelltem „daher“ oder „umananda“ (umher). Dahertschindern also, dahertschundern, umandanaschurln.

Auch unser schoda(r)n (schottern) stellt sich in die Liste dieser lautmalerischen Zeitwörter. Bei schottern denken wir an das knirschende, eine weiße Staubwolke hinterlassende Rennen auf einer geschotterten, unaspaltierten Straße. Tschindern, Hineintschindern kann den langsamen Autounfall (und das dabei entstehende metallische Geräusch) bezeichnen, tschindern und tschundern das Gleiten auf dem Eis, gemeinhin das Klirren von Metall, aber auch die Geräusche beim Gewitter. Das Wort kommt sehr wahrscheinlich von einem slawischen čindra (tschindra; dem Ding, das rasselt, klirrt), verwandt mit čindrati (tschindrati; poltern, rumpeln). Das moderne slowenische Adjektiv čimprêjšnji (tschimperischni) bedeutet schnell (bei Erledigungen) oder rasch (bei Genesung). Ist damit unser Rätsel gelöst?

Noch nicht ganz, hat sich doch in den süddeutsch-österreichisch Dialekten in vielen Varianten ein Verb erhalten, das in der Hochsprache längst ausgestorben ist. Es würde heute schünden lauten, verwandt mit altnordisch skynda (eilen) dänisch skynde (antreiben, beschleunigen), schwedisch skynda (jemanden zur Eile antreiben, etwas beschleunigen, nacheilen, herbeieilen). Noch das Mittelhochdeutsche kannte schünden, schunden, schunten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich in schottern (schodan) und in tschundern das alte schünden, schündern versteckt.


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Das Geheimnis der Villen von Grado

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 40/2023 zum 4. Oktober 2023

Liebe Andrea,
wir sitzen gerade beide im schönen Grado bei einem Hafen-Cappuccino und plötzlich erwächst in mir die Frage, ob die imposanten gelben Jugendstil-Villen drüben am Strand nach dem Rennräder-Konzern Bianchi, immerhin eine nationale Institution, benannt sind. Angesichts der Fahrrad-Konjunktur unter den Grado-Touristen eine begreifliche Assoziatiation. Was meinen Sie?
Gesprächsweise
Maria Capassi-Forgiarini, Wien Leopoldstadt, zur Zeit Grado

Liebe Maria,

die „Fabbrica Italiana Velocipedi Edoardo Bianchi“, kurz „Bianchi“ genannt, ist die älteste noch existierende Fahrradfabrik der Welt. Einst auch ein bedeutender italienischer Automobil- und Motorradhersteller wurde sie 1885 von Mailänder Waisenkind Edoardo Bianchi (1865-1945) als kleine mechanische Werkstatt zur Reparatur und Bau von Fahrrädern gegründet. Bianchis mechanisches Talent schlug sich im galoppierenden Wachstum seines Unternehmens nieder. Mit den Villen in Grado hat er indes nichts zu tun.

Anders Freiherr Leonhard Friedrich Ferdinand Alexander Freiherr von Bianchi, am 12. April 1846 in Venedig in eine altösterreichische-Adelsfamilie geboren. Im Jahr 1899 erwarb er auf der sonnigen Laguneninsel in der nördlichen Adria ein Strand-Grundstück abseits der frühmittelalterlichen Altstadt. Dem Zeitgeist verpflichtet setzte er auf die Konjunktur des Badetourismus, fokussiert auf eine wohlhabende Schicht aus Großbürgern und Künstlern, ihren Familien und Entouragen. Die ersten beiden Villen mit den Namen „Marina“ (Hafen) und „Adria“ wurden im Jahr 1900 errichtet, das Haupthaus „Stella Maris“ (Stern des Meeres) und die Villa „Onda“ (Welle) im Jahr 1901, und die letzte, die Villa „Spiaggia“ (Strand), im Jahr 1902. Die Familie des Barons Bianchi zog nun von Görz nach Grado.

Dass der Baron, seine Familie und die Gäste der fünf Villen den sommerlichen Gradeser Corso auch auf Fahrrädern der Firma Bianchi befuhren, ist nicht unwahrscheinlich. Die Namensgleichheit war wohl schon zur Jahrundertwende allfälliges Thema auf den Frühstücksterrassen der Sommer-Urlauber.


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Minced Pete und Hackepeter

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 39/2023 zum 27. September 2023

Liebe und immer wieder überraschende und zum herzhaften Lachen bringende Frau Andrea,
unlängst kam uns beim Plaudern über den Film „Eating Raoul“, in dem derselbige zum Abendessen serviert wird, folgende Frage: Könnte es sein, dass das britische „Minced Meat“ eines Tages durch einen simplen Hörfehler – nämlich „Minced Pete“ – zum deutschen „Hackepeter“ wurde? Also dass jemand zB. sagte: „diese Briten essen so gerne Speisen mit „p“: pies, peas und minced Pete…“? Was halten Sie von dieser linguistisch-kulinarischen Lautverschiebung?
Mit sehr herzlichen Grüßen,
Ihr Wolfgang Lalouschek aus Wien, per Email

Lieber Wolfgang,

die sprachgeschichtliche Herleitung des norddeutschen Schrippen-Aufstrichs „Hackepeter“ von „Minced Meat/Minced Pete“ folgt einer verblüffenden Logik, notabene beide Gerichte, der norddeutsche Hackepeter und das anglosächsische Minced Meat das selbe bezeichnen, feingehacktes, oder durch den Fleischwolf gedrehtes Schweinefleisch. Frisch zubereitet, weil roh konsumiert und gut gewürzt. Bei genauem Blick auf die etymologischen Zusammenhänge dürfen wir Ihre Theorie zu den privaten, wenn auch charmanten Volksetymologien zählen. Minced Meat, ein inselbritisches Gericht hat seinen Namen von meat (Fleisch) und mince(d), dem ein mittelenglisches mincen, altfranzösisches minicier vorangingen, und das aus dem vulgärlateinischen minutiare (zerkleinern) kommt. Die Minute, die Zerkleinerung der Stunde ist eine direkte Verwandte. Kommt nun der Peter aus dem Hack von Pete, einer Verballhornung von „meat“? Nein, denn meat ist unser Mett, was sich auch in der anderen Bezeichnung für Hackepeter, Mettwurst niederschlägt.

Woher also kommt der Hackepeter? Hack ist das Gehackte. Und Peter, das einige von der allfälligen Gewürzzugabe Petersilie herleiten, ist ein beliebtes norddeutsches Diminuitv, das auch in den Wörtern Ziegenpeter (Mumps), Wackelpeter (Pudding) Lügenpeter, Heulpeter, und in der Spielkarte „Schwarzer Peter“ steckt.

Etwas derber ein fast vergessener niedersächsischer Volksausdruck für den Beischlaf: Pomfideln oder Hackepetern.

Aua.


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Das Rätsel von der Getränkekarte

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 38/2023 zum 20. September 2023

Liebe Frau Andrea,
ich lese den Falter immer von hinten, um gleich in Ihrem Informationsbureau zu sein – ich liebe Sprache. Nun tat sich im Weinlokal unseres Vertrauens die Frage auf: Was sind „Afrain Getränke“? Das Angebot ließ uns erahnen, alklose Erfrischungen. Aber woher kommt „Afrain“ und was bedeutet es? Peter Ahorner verwendet diesen Begriff in seinem schönen Satz „Hagestolz nimmt im Gemach ein Afrain-Getränk zu sich, delektiert sich an Zibeben, bettet sein Haupt auf das Kaprizerl und sinniert über sein wohliges Dasein.“ Ich vermisse jedoch eine Erklärung und Herleitung des Wortes. Können Sie mir helfen? Dr. Google weiß es auch nicht.
Mit vielem Dank und freundlichen Grüßen
Mag. Barbara Bauchinger, per Email

Liebe Barbara,

in seinem großartigen Kompendium „Vergessene Wörter – Österreich“ listet der Wiener Dialekt-Experte, Lyriker, Librettist und Rezitator Peter Ahorner zwischen den Begriffen „afingerln“ (an den Fingern abzählen, erraten), und „afrig“ (mhd. afel, eiternd) das gesuchte Wort. Das „Afrain-Getränk“, so Ahorner, von französisch „afrain“, scheu, ist die alkoholfreie Erfrischung, Wienerisch auch als Tschapperlwasser bekannt. Ahorner stellt es damit neben das englische „afraid“, das mit dem mittelenglischen affrayed, affraied, und dessen Partizip Perfekt „afraien“, aus dem anglonormannischen afrayer (erschrecken, beunruhigen, stören) kommt.

Beim Lokalaugenschein im legendären Weinhaus Sittl, vulgo „Zum Goldenen Pelikan“, dem ältesten Wirtshaus Neulerchenfelds, finden wir tatsächlich „Afrain-Getränke“ auf der Speisekarte. So werden hier die alkoholfreien Getränke bezeichnet. Nach Auskunft der Gastwirtinnen wurde der Begriff einer alten Speisekarte des Lokals entnommen.

Eine lokale Etymologie scheint wahrscheinlich. Frau Andrea vermutet eine Verschreibung des franzöischen „à frein“, das wörtlich „zur Bremse“, eigentlich „zum Zügeln“ bedeutet, wie es die Lexika in den Begriffen „Disque à frein“ (Bremsscheibe) und „Train à frein“ (Bremsspritzenwagen) belegen. Sehr wahrscheinlich dürfte damit ein französelnder Fuhrwerkerausdruck aus dem frankophilen Wiener Vormärz vorliegen.

Bremsende Getränke also im Sittl.

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Wie ringt man die Hände?

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 37/2023 zum 13. September 2023

Liebe Frau Andrea,
im Morgenjournal wird derzeit vom Personalnotstand in der Gastronomie berichtet. Immer wieder fällt die Formulierung, daß „händeringend“ nach Arbeitskräften gesucht wird. Was ist damit eigentlich gemeint, woher kommt dieser Begriff?
Bitte um Weiterhilfe. Danke.
Ingrid Heinz aus Altlengbach, per Email

Liebe Ingrid,
der Begriff selbst wird weithin verstanden und in floskelhafter Sprache synonym für drängend, eindringlich, flehentlich, inständig und sehnlichst  verwendet. Was aber ist das Ringen der Hände? Ein Beringen, also das Anstecken von Ringen kann nicht gemeint sein. Sehen wir nach im Deutschen Wörterbuch, dem großen Materialsteinbruch der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm. Das Wort sei erst neuer gebildet, erfahren wir hier, früher sei, wie bei Lessing „mit gerungenen Händen“ verwendet worden, oder wie bei Goethe „mit (…) gefalteten, mitleidig gerungenen Händen.“ Das Bild gefalteter, bittender Hände wird sichtbar.
Das Zeitwort „ringen“, das wir aus der gleichlautenden Kampfsportart kennen, dialektal aus dem Rangeln, und das althochdeutsch noch ringan, altnordisch rengja (verdrehen, verfälschen), germanisch erschlossen wahrscheinlich *wreng-a lautetet, ist verwandt mit wringen (wie in auswringen) und renken (wie in einrenken und ausrenken), und bedeutet alles zwischen verwinden, krümmen, würgen, hin- und herbewegen, losrütteln, drehen, wenden.
Die gerungenen, gewrungenen Hände sind also bildlich gesehen die fest in einander gefaltenden Hände, die dabei eindrücklich geschüttelt werden, als rüttelten sie am Hals des Adressaten. Die gerungenen Hände sind gestisch mit dem inständigen Beten verbunden und in der Regel Ausdruck eines steilen Machtgefälles. Die Händeringenden ergeben sich bittstellend der Willkür der Angebeteten.
Im Falle der händeringenden, vergeblich nach Personal suchenden Gastronomen sehen wir eine polemische Verwendung des Bildes. Die Herzen der Angerungenen wären mit besseren Arbeitsbedingungen und höheren Löhnen wohl eher zu erweichen als mit falscher Metaphorik.

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Fluchen wie ein Kapskutscher

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 36/2023 zum 6. September 2023

Liebe Comandantina,
letztens ist mir ein Begriff eingefallen, den ich aus meiner Kindheit kenne und der im Umfeld meines Opas aus dem Tullnerfeld stammt: Der „Kaps“. Soweit ich es als Kind verstanden habe, ist ein Kaps ein Anhänger für ein Fahrrad, mit Metallgestell und hölzerner Ladefläche in Form einer großen Kiste. Mit dem Kaps kann allerhand transportiert werden, aber woher stammt sein Name?
Ganz herzliche Grüße,
Ruth Hauser aus Ottakring, per Email

Liebe Ruth,

der Name Kaps für einen zweirädrigen Fahrrad-, Moped- oder kleineren Autoanhänger ist weit verbreitet. Man wird vergeblich nach einem Markennamen oder einer Erzeugerfirma dieses Namens suchen. Älteren Teilnehmer·innen an der Insultkutur des alten Wien wird der Sager „Fluachn wiara Kapskutscha“ (Fluchen wie ein Kapskutscher) geläufig sein. Der Kaps braucht also einen Kutscher. Im unmotorisierten Wien der Gründerzeit waren das die Fahrer zweirädriger, einachsiger offener Schwerlastkarren für Bauarbeiten, wie sie beim Bau der Ringstraße, bei der Donauregulierung und im Eisenbahnbau zum Einsatz kamen. Die Kutscher dieser wendigen, von Schindmähren gezogenen Fuhrwerke waren für ihre unflätigen Verkehrskommentare bekannt. Die alternative Schreibweise dieser Karren – „Cabswagen“ gibt uns den entscheidenden Hinweis auf die Herkunft des Namens.

1834 hatte sich der englische Architekt und Erfinder Joseph A. Hansom (1803–1882) den Typus einer zweisitzigen, einachsigen, nach vorne offenen Kutsche patentieren lassen, bei der der Kutscher erhöht hinter dem Verdeck saß. Der Name Cab, eine Verkürzung von Cabriolet (aus dem französischen cabriole, Kapriole, soviel wie Luftsprung) spielte auf die Leichtgängigkeit des Modells an. Die wendigen „Hansom Cabs“ mit ihren riesigen Rädern waren schnell der sprichwörtliche Renner in den Großstädten der westlichen Welt, wo sie als Vorläufer der Taxis eingesetzt wurden, weshalb es kaum wundert, dass der Name in den Großstädten der US of A zum Synonym für Taxi wurde.

Das radfahrende Tullnerfeld Ihres Großvaters ist also garnicht so weit weg vom gelben Taximeer New Yorks.  


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Gib mir Tiernamen

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 35/2023 zum 30. August 2023

Liebe Frau Andrea,
wie kommt es eigentlich, dass verhältnismäßig viele Menschen „Fuchs“, „Wolf“, „Vogel“ oder „Bär“ mit Nachnamen heißen, schon deutlich weniger „Kuh“, „Gans“, „Krebs“, „Rabe“ oder „Pelikan“, aber kaum jemand „Hund“, „Schwein“, „Ratte“ oder „Hamster“. Woran mag das liegen? An einer gewissen Rang- oder Hackordnung oder sonstigen Hierarchien? Und in weiterer Folge sinnierte ich darüber, wie es wohl zur Namensgebung des „Falter“ kam.
Danke im Voraus für Ihre diesbezüglichen Überlegungen, Erklärungen oder Recherchen,
und freundliche Grüße,
Marion Minarik, Tuchlaubenviertel, per Email

Liebe Marion,

die Erforschung der Familiennamen mit tierischem Bezug ist ein Feld von großer Ausdehnung, wir können es hier nur exemplarisch betreten. Viele Tiernamen, die sich in Familiennamen manifestiert haben, sind in Vergessenheit geraten oder haben nur regionale Bedeutung. Andere vermeintliche Tiernamen sind nur Verschleifungen ähnlich lautender Familiennamen. Manche Namen lassen sich mit Hilfe genealogischer Forschung klären, andere bleiben rätselhaft. Und nicht alle Tiernamen, die zu Familiennamen wurden, sind Spottnamen –  Übernamen, die auf metaphorischen Vergleichen basieren wie Maus, Ratz, Lurch, Wurm, Fliege. Der Familienname Wolf kann die Wildheit dieses Tieres bezeichnen, aber auch nur die Kurzform des Rufnamens Wolfgang sein. Der Name Fuchs kann sich auf einen rothaarigen Erstnamensträger beziehen, oder schlicht eine berufliche Beziehung abbilden und einen Fellhändler oder Kürschner bezeichnen. Nutztiernamen wie Geiß, Gans, Schaf, Kalb, Ochs können Berufsübernamen zu Haltern oder Hirten sein, zu Metzgern oder Händlern. Und schließlich ist in urbanem Kontext an Hausnamen zu denken: Adler, Storch, Strauß, Hahn. Jüdische Tiernamen haben symbolischen Tora-Bezug. Löw steht für den Stamm Juda, Wolf für Benjamin, Hirsch für Naftali, Bär für Issachar, Katz für die Priesterfamilie der Cohanim.

Der Falter heißt so, weil die ersten Exemplare zum Lesen entfaltet und gedreht werden mussten. Genaugenommen müsste die Stadtzeitung also „Entfalter“ heißen.

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