Wien, Wien, nur du allein …

Auf der Suche nach dem Kern des echten Wieners.

Gespräch mit Andrea Maria Dusl über Verzwergung und Attitüde, Sprache, Schwergewichte und Humor.

BARBARA HUTTER, Salzburger Nachrichten vom 13. November 2021, Kultur/Leben, Seite 9.

„Es gibt keine echten Wiener.“ Ein bisserl schlucken muss man schon bei dieser kategorischen Verneinung. Weil: Schön war’s schon, im Ausland immer sagen zu können, ja, ich bin eine Wienerin, ja eine echte. So was. Vor allem bei den deutschen Nachbarn kommt das ziemlich gut. Wien, hach! Aber Befindlichkeiten beiseite, die Person, die das eingeboren Wienerische so ganz generell in Abrede stellt, muss halt schon als Fachfrau, ja wenn nicht gar Autorität auf diesem Gebiet respektiert werden. Andrea Maria Dusl, aus alteingesessener (gilt das?) Wiener Großbürgerfamilie mit schwedischen Episoden, Kulturwissenschafterin, Autorin und Zeichnerin, Kolumnistin in Falter, Standard und vor allem in den „Salzburger Nachrichten“, diese kleine Eigenwerbung darf sein, sagt also auf die Frage, ob es so etwas wie echte Wiener gebe: „Nein.“

Na gut. Dusls Expertise lässt sich durch drei Bücher belegen, „Wien wirklich!“, „So geht Wien“ und „Wien für Alphabeten“. Und, wenn man so will, auch ein viertes Buch, „Boboville“, das sich allerdings mit einer Teilmenge der Wiener und Wienerinnen befasst, wenn auch einer wachsenden. Wien, das ist ein ewiger Zuzug. Manche bleiben hier, andere ziehen wieder weg.

Die Historie zählt sie auf: Die Ziegelböhm’, nach dem Ersten Weltkrieg dann die Altösterreicher aus Triest, Czernowitz und Reichenberg, später die Gastarbeiter, erst vom Balkan, dann aus Anatolien, in letzter Zeit die laut Dusl „unintegrierbaren“ Deutschen. Ein hartes Urteil. Über das man gleich ins Grübeln kommt. Dusl hat eine Theorie: „Alle, die hierherkommen, lieben diese Stadt.“ Vielleicht hat ja sogar Thomas Bernhard, in dessen Stammcafé „Bräunerhof“ dieses Gespräch stattfindet, trotz seiner Schimpftiraden Wien geliebt. „In der G’ham“ sozusagen.

Andere sind weggezogen, nicht selten nach Berlin, der „geheim-ungeheimen Exildestination enttäuschter Wiener“. So auch der Kaffeehausliterat Anton Kuh. Er lästerte: „Lieber unter Wienern in Berlin als in Wien unter Kremsern.“ Wobei für Wiener a priori nichts gegen Krems einzuwenden ist, wer so viel Grünen Veltliner erzeugt wie die Kremser, kann kein schlechter Mensch sein.

Das resche Tröpferl hat jüngst einen Siegeszug durch die Weinbars von New York hinter sich, die Erinnerung an die Dauermigration ist auch sehr wienerisch. „New York ist die Fortsetzung von Wien, selbst wenn man die Sprache nicht beherrscht, ist alles sehr wienerisch. Woody Allen könnte ein Wiener sein.“ Und Hollywood – ein Wiener Exporthit. „Das sind eigentlich Operetten, mit Wiener Programmmusik von Max Steiner, Erich Korngold. Die Regisseure haben dort mit dem weitergemacht, was sie am Theater in Wien getan haben. Der Kern kommt eben aus Wien, auch der Humor.“

Apropos Humor. Die Schreiberin dieser Zeilen – als echte oder jedenfalls gebürtige Wienerin, wir erinnern uns – kommt aus dem Kichern gar nicht mehr heraus beim Blättern in „Wien für Alphabeten“. Bassena, so steht hier, das Facebook der Metternichzeit. Opernball, seit Beginn der Treffpunkt der zweiten und dritten Gesellschaft. Und man fühlt sich leicht ertappt. Und manchmal sogar ein bisserl, na, sagen wir, ang’rührt. „I wü’s gar ned wissen, ned so genau“, singt Willi Resetarits, alias Dr. Kurt Ostbahn, der musikalischere der beiden bühnenpräsenten Resetarits-Brüder.

Womit wir in der Vorstadt wären, in den proletarischen Bezirken, zwischen – siehe oben – Bassena und dem Beserlpark, einer der Brutstätten heimischer Fußballerfolge. Die Familie Resetarits als Burgenlandkroaten übersiedelte zu Beginn der 1950er nach Wien, nach Favoriten. Dort lernten die Buben Willi und Lukas Deutsch. Als Waffe. „Es ging darum, wer den besseren Schmäh hat und daher das bessere Deutsch.“ Das Wienerisch des entsprechenden Soziotops, in dem Fall Favoritnerisch, das Dusl so definiert: eine Schwestersprache von Meidlingerisch mit tschechischer Grammatik. Wienerisch gebe es gar nicht, es sei vielmehr eine Art von Effekt. „Wenn man wissen will, wie früher Wirte oder Kutscher in Wien gesprochen haben, muss man ins Weinviertel fahren. Ein Hollabrunner Bauer spricht wie ein Wiener aus dem Jahr 1900.“

Favoritnerisch ist jedoch nicht zuletzt Idiom von Edmund Sackbauer, dem Mundl, der in den 1970ern zum „echten Wiener, der nicht untergeht“ wurde. In der Person von Karl Merkatz, im weißen Feinrippleiberl und mit Bier in der Hand. Kindheitserinnerungen kommen hoch. An die Großmutter, ebenfalls in Favoriten ansässig, die mit erstarrter Miene und einem Blick voll Verachtung die Tirade an Kraftausdrücken, die aus dem SchwarzWeiß-Fernseher quoll, über sich ergehen ließ. Allerdings nur ein einziges Mal und mit dem abschließenden, eisigen Kommentar: „So ordinär reden wir Wiener ned.“

Eins allerdings hat der Mundl mit dem Vater der Oma gemeinsam: das Gewichtheben. Ein zeitlich begrenztes Phänomen in Wien. Der Volkssport – fast jedes Wirtshaus hatte seinen eigenen Gewichtheberverein, der Uropa hatte beides – geht auf Markgraf Pallavicini zurück, Alpinist, begeisterter Gewichtheber und Erfinder der Hantel, so will es die Anekdote, als er vor dem Sacher zwölf Personen in eine Kutsche klettern ließ und dann die Achse hochhob.

Wienerisch gibt es nicht, das ist eine Art von Effekt.

Andrea Maria Dusl
Kolumnistin, Autorin, Zeichnerin

Wien ist eine alte Stadt. Einst größte Stadt im Heiligen Römischen Reich, noch 1910 viertgrößte Stadt der Welt. Wen wundert der Phantomschmerz? Dusl: „Die zwei Weltkriege haben Stadt und Land verzwergt. Aber alle Attitüden sind noch da, ein österreichischer Diplomat fühlt sich auf Augenhöhe mit russischen oder britischen Kollegen.“ Vom scheinbar Servilen soll man sich nicht täuschen lassen: Das Aufmüpfen zählt ebenfalls zum Wesen des Wieners. Hier musste sich die Intelligenz immer entscheiden: Aufrührer oder loyal?

Und noch etwas: Die wirklichen Deals werden im Kaffeehaus gemacht. Die byzantinische Technik, in Halbsätzen was anzudenken, Nuancen im Dialog. Übers Handy? Das ist provinziell. Alles passiert gleichzeitig: Verzwergung und Überhöhung, Provinzialisierung und Internationalisierung. Qualtinger hat gesagt: Österreich ist ein Labyrinth, in dem sich jeder auskennt. Das stimmt auch für Wien. Dem Besucher rät Andrea Maria Dusl, in ein gutes Kaffeehaus zu gehen, sich hinzusetzen und den Mund zu halten. Was man da trinken soll? Wurscht. Ein Wiener würde ohnehin nichts empfehlen. Besichtigen? Gar nichts. Alle Sehenswürdigkeiten seien Fantasieorte, erzählen keine lebendigen Geschichten, seien Statuen. „Lesen ist einfacher. Lesen Sie Thomas Bernhard und alle meine Bücher.“