Kategorie: Andrea Z bis A
Andrea Maria Dusl – Informationen, FAQ, Biographisches zu Person und Werk.
G’schichtn aus Ramasurien
Am 25. Mai 2024 war ich bei der Autorin und Malerin Rosemarie Philomena Sebek und ihrer Enkelin, der Musikerin und Songwriterin Anna Timmler in Wien Favoriten zu Gast. Wir plauderten für die Folge 38 ihres Podcasts „G’schichtn aus Ramasurien – Über Mundart und Sprachmelodie“. Der Podcast ging am 12. Juli 2024 online und ist hier nachzuhören:
https://podcasts.apple.com/at/podcast/folge-38-%C3%BCber-mundart-und-sprachmelodie/id1620217934?i=1000661951377
Andrea Maria Dusl [AMD]: Früher hat man bei Popkonzerten, hat man gesagt, auf Wienerisch „Aans, zwaa, drää, Mikrocheck“. Die haben gesagt, in den 70er Jahren bei den Rock-Konzerten, wo ich auch war, „hallo hallo hallo, tak tak tak tak“.
Rosemarie Philomena Sebek [Philomena]: Ja, „tak tak tak tak“.
Anna Timmler [Anna]: Na gut, dann sag ich einmal: Hallo Oma und hallo Andrea, wir haben nämlich heute einen Gast bei uns.
Philomena: Einen ganz besonderen Gast, die Andrea Maria Dusl.
Anna: Vielleicht magst du dich einmal kurz vorstellen, wer du bist, was du so machst und ja.
AMD: Ja, also erstmal vielen Dank, dass ich überhaupt hier sein darf und ihr mich eingeladen habt in den schönen, ist es der Wienerberg oder es ist, jedenfalls im Zehnten?
Philomena: Das ist Favoriten.
AMD: Es ist im schönen Favoriten, im zehnten Hieb und wir sind hier auf einem Berg oben und es ist herrlich und man sieht über die Stadt, wenn man aber hinaussieht, dann wendet man sich vom Mikrofon ab und muss wieder an den Tisch schauen, um das hörbar zu machen. Ja, wer bin ich, das weiß ich manchmal selber nicht, aber was ich mache, ich mache sehr viel. Man könnte es zusammenfassen, ich versuche die Welt zu verstehen und bei diesem Verstehensversuch andere mitzunehmen, darüber zu schreiben, das zu zeichnen, oder sonst wie vielleicht auch musikalisch, wobei das Wort musikalisch klingt so ein bisschen abgenudelt. Also Musik ist mir wichtig, und das Erzählen in welcher Form auch immer. So könnte man das beschreiben. Und was auch immer dann beruflich daraus sich ergibt, findet statt.
Philomena: Das ist sehr schön, was du jetzt gesagt hast, auch übers Erzählen. Da fällt mir ein der Ausdruck Mundart – ein anderer Ausdruck für Dialekt ist das. Aber Mundart löst bei mir aus, mit dem Mund, mit dem Sprechen, Kunst zu erzeugen, und Sprechen kann Kunst sein. Und daher auch die Sprachmelodie, die Sprachmusik, weil letztendlich ist alles Musik, weil alles Schwingung ist. Da hast du mich jetzt herausgefordert, das hinzuzugehen.
AMD: Wobei ich dich gerne wieder hereinfordere. Und ich muss zur Mundart gleich was bekennen. Ich bin Migrantin. Ich komme aus einer Migrantenfamilie. Ich bin zwar eine Wienerin, aber keine, und auch hier geboren. Aber meine Eltern sind von woanders. Ich bin sogar zweisprachig – eigentlich bin ich einsprachig aufgewachsen, aber musste Deutsch als Fremdsprache lernen. Und Wienerisch ist für mich auch eine Fremdsprache.
Anna: Für mich auch.
AMD: Das macht aber gar nichts. Man kann Fremdsprachen so erlernen als besser als die, die es in die Wiege gelegt bekommen. Weil die Leute dann aus der Mundart sagen, „na wer bist denn du? Ti ti ti ti.“ Und da hab ich gelernt beim Lukas und bei den Resetarits-Brüdern, wieso kennts ihr so gut Wienerisch, hab ich sie gefragt. Weil wir das lernen haben müssen, sonst hätten wir gleich Fotzen abgehaselt. Und das war wichtig, dass man richtig reden kann. Haben sie das gelernt als Fremdsprache? Und da bin ich draufgekommen, dass es mir auch so ergangen ist. Zwar jetzt nicht so, die sind auch in Favoriten aufgewachsen. Nicht nur in Stinatz und in Floridsdorf, sondern auch in Favoriten. Und richtig sprechen zu können, ist immer schon eine Art Überlebensstrategie gewesen. Im richtigen Augenblick das Richtige zu sagen.
Philomena: In der richtigen Sprache, die verstanden wird.
Anna: Ja, oder in der richtigen Art, wenn man die Sprache nicht ganz zusammenbringt. Das heißt, alles, was wir miteinander machen, ist Sprache. Wir können gar nichts anderes. Auch Bildsprache, Literatur, was weiß ich.
Philomena: Kommunikation, ja.
AMD: Es gibt nichts anderes. Und wenn man allein ist zu Hause, dann redet man mit sich selbst. Ich spreche auch zu Hause mit mir selbst.
Anna: Ich spreche auch zu Hause, aber nicht mit mir selbst, sondern mit meinem Kater.
AMD: Aha, gut, das geht auch. Aber man kann sich auch selber Witze erzählen.
Philomena: Ja, ich lache sehr viel, wenn ich allein bin. Ich lache pausenlos über mich, weil ich so viel Blödsinn mache. Und das ist lustig, ich ärgere mich nicht darüber.
AMD: Wir haben ja vorhin in dem, wie sagt man, Lockermachen-Gespräch, wir waren schon locker vorher, aber wir haben so ein bisschen gesprochen beim Frühstück – eigentlich war es ein Brunch, aber in Wien bruncht niemand, außer die Gstopften, da fällt mir das schwarze Kameel ein, da bruncht man wahrscheinlich um 11 und trinkt ein Prosecco und ein Jour-Gebäck und redet vernünftige Sachen. Aber gut, wir haben uns locker gemacht und da haben wir gesprochen über Blödheiten und so und dann sind wir zu dem Schluss gekommen, dass natürlich alle blöd sind. Die Erfahrung der Blödheit ist universell, so könnte man es sagen. Niemand ist ausgeschlossen. Und man kann sich dem stellen, man kann von dem mitgenommen werden und man kann einfach die eigene Blödheit als eine Konstante annehmen. Das macht einen vielleicht sogar gütig. Es gelingt aber nicht immer, weil andere können das besser, das Blödsein.
Philomena: Na ja, aber wenn man sich selbst dazu bekennt, im Zuge des Prozesses der Selbsterkenntnis, kommt man irgendwann einmal zu diesem Punkt. Wünschenswert ist es zumindest. Eine meiner Töchter sagt dann immer zu mir, du kannst jetzt sagen, was du willst. Du kannst auch deine Meinung ändern, wie du willst. Denn du hast den Weishaar-Bonus. Ab einem gewissen Alter ist das alles offiziell möglich.
AMD: Ja, und dann haben wir auch darüber gesprochen, dass man natürlich immer ein Kind bleibt. Und das ist sogar, ja wie soll ich das sagen? Es ist in Vergessenheit geraten, weil es so ein unglaublicher Fetisch ist, erwachsen zu sein. Also ein richtiger Fetisch, an dem sich alle ergötzen und in dem sich alle verlieren. Die Kinder sind von Anfang an sehr klug und sehr neugierig und möchten alles verstehen und sind kritisch. Also die Verdammung des Kindseins, ja, das ist leider schon in der Gesellschaft angekommen, aber um Kunst zu machen, muss man wieder in dieses ursprüngliche Format zurückkehren.
Philomena: In das Staunen.
Anna: Da fällt mir ein, als ich ein Kind war, ist bei mir jetzt vielleicht noch nicht ganz so lange her, da wollte ich immer erwachsen sein, erwachsen sein, dann ist das Leben leichter. Jetzt bin ich erwachsen, jetzt denke ich mir, Kind sein, das wäre schon schön, vor allem jetzt, wo ich meinen Neffen sehr oft sehe. Und da habe ich letztens ein Foto gemacht, und der steht da und das war so lebensbejahend und wunderschön, dieses Kind, das hat mich so motiviert, dass ich gesagt habe, das war für mich damals, wenn ich jetzt so dran denke, die glücklichste Zeit, Unbeschwertheit, einfach lernen, Leben genießen, alles ist schön.
Philomena: Das Leben ist schön, ja.
Anna: Und das hat mich total positiv wieder in das zurückgeworfen ist. Auch jetzt kann das Leben schön sein. Nicht nur damals als Kind, sondern eben jetzt auch als Erwachsener. Vor allem mit meinem Neffen, der zeigt mir das immer wieder.
AMD: Ich muss dich dann auch ermahnen, dass du dich erinnerst dran, wie gut es immer ist. Nicht, wie gut es einmal war, die gute alte Zeit.
Anna: Das hört man immer früher, aber es ist besser.
AMD: Ja, und man vergisst die furchtbaren Sachen, die man erlebt hat. Sogar die furchtbaren Sachen, die einen wirklich bedroht haben, werden romantisiert, in eine anekdotenhafte Schönheit gestellt. Und, ja, ich muss gestehen, es gibt Furchtbarkeiten, die niemand romantisiert. Wenn es um Leben und Tod geht und um Vernichtung, das ist nicht mehr romantisch. Aber diese Pimperlprobleme, die wir, wenn wir es gut gehabt haben, als schlecht in Erinnerung kamen, die werden dann, „mein Gott, wir haben noch Ravioli auf einem verkehrten Bügeleisen heiß gemacht. So haben wir gekocht.“ Ja, als man das gemacht hat, war es nicht so lustig. Mim verkehrten Bügeleisen.
Anna: Ich finde, das klingt schon sehr lustig.
AMD: Es klingt lustig. Ravioli ist die Speise der sehr, sehr armen Künstlerinnen gewesen. Eine Dose Ravioli am Tag oder in der Woche. Man hat nicht verhungert. Man ist nicht verhungert. Ich kann die deutsche Sprache nicht wirklich gut. Ist man verhungert oder hat man verhungert? Man hat sich vielleicht verhungert.
Philomena: Man hat sich verhungert und man ist verhungert. Ja, man ist, aber das darf man dann… Man ist verhungert. Dieses ist darf man nicht mit scharfem S schreiben.
AMD: Man darf überhaupt das scharfe S nur sehr vorsichtig benutzen. Dort, wo man darf und es verändert sich immer. Ich habe eine Zeit lang nur Doppel-S verwendet, damit ich ja keinen Fehler mache. Und sofort sind die Sprachpolizisten gekommen und haben mich verhaften wollen. Du weißt aber schon, dass dort ein scharfes S hingehört. Und dann war ich beschämt und habe gesagt, ja, ich weiß natürlich, aber ich habe es absichtlich falsch gemacht.
Philomena: Diese seltsamen Rechtschreibänderungen, die um die Jahrtausendwende waren, die glaube ich nicht, das hat mir dann auch große Schwierigkeiten gemacht. Weil ich war vorher ja Lektorin. Ich musste korrigieren und Beistrichregeln und scharfe S und Doppel S und das alles genau wissen und Groß- und Kleinschreibung. Und auf einmal hat sich so viel geändert. Und diese Prägung von vorher loszuwerden, ja, ich muss es ja nicht mehr.
Anna: Da muss ich aber was dazu sagen, weil ich mache ja Musik und wenn ich etwas veröffentliche, brauche ich Presse-Texte. Und wenn ich diese Presse-Texte fertig habe, schicke ich sie immer sofort an die Oma. Und sie sagt, bitte liebe Oma, kannst du kontrollieren? Und dann tut sie mir immer die Beistriche ausbessern. Und ich glaube, die werden sicher immer gleich bleiben, die Beistriche, wie sie schon damals waren. Aber da bin ich so froh, dass ich die Oma habe, weil sonst, glaube ich, wäre das ein bisschen peinlich, meine Texte.
Philomena: Ach so, tragisch ist es auch nicht. Nein, passt schon.
AMD: Das ist wirklich ein Problem in der modernen Publizistik. Früher hat man ja einen Presse-Text zwar geschrieben, aber da konnte man nicht ins Internet stellen, da hat es kein Internet gegeben. Nichts. Das hat dann jemand bekommen und das wurde lektoriert, immer. Das ist ein großer Luxus, und der verliert sich langsam. Aber ich glaube, es macht nichts. Dann schreibt man halt irgendwas. Früher hat man sich auch, Goethe hat geschrieben, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Texte, die in Originalausgaben [vorliegen], da sind nicht die richtigen Beistrichsetzungen erfolgt. Das würde man heute sagen, Herr Goethe. Dann hätte er gesagt, Geheimrat bitte, so viel Zeit muss sein. Also Herr Goethe, da müssen wir noch drüberfahren, mit dem Korrekturstift. Na gut, bittesehr.
Anna: Wenn wir gerade drüber sprechen, du hast nämlich ein Buch mitgebracht. Vielleicht wollen wir das kurz ansprechen. Wien für Alphabeten. Wunderwelt von A bis Z. Magst du da vielleicht ein bisschen was drüber erzählen?
Philomena: Entschuldige, lustig. Alpha und Beten.
AMD: Ja, das ist nicht zufällig.
Philomena: Die das Alpha beten. Bitte erzähl uns etwas darüber.
AMD: Ich fange mal mit dem Schlimmsten an. Das Buch wurde gedruckt und geschrieben. Zuerst wurde es geschrieben und ausgedacht. Von mir gezeichnet und lektoriert und gedruckt. Und dann ist es nicht erschienen. Weil der Verlag eingegangen ist. Wir sprechen über etwas, was sich niemand kaufen kann. Das macht aber nichts. Ich verteile es trotzdem. Es ist im Metro-Verlag „nicht“ erschienen. Die haben es aber gemacht. Die Details kenne ich selber nicht. Aber das Buch handelt eigentlich von mir. Alle Bücher handeln von mir. Wie überhaupt alle Bücher von den Autorinnen immer handeln. Egal was.
Philomena: Entschuldige, wenn ich dich unterbreche. Alles, was jemand schreibt, ein Autor, es ist alles autobiografisch. Auch wenn es am Fantastischsten daherkommt. Es ist autobiografisch.
AMD: Man entleuchtet sich.
Anna: Das kann ich bei der Musik auch sagen.
AMD: Man kann auch nichts erfinden. Man kann es nur anders erzählen. Und alles, was man erzählen kann, ist, was man erlebt hat, was man nicht erlebt hat. Egal, und wenn man von einer Mars-Kolonie erzählt, im 37.000. Jahrtausend, es ist immer eine Erzählung vom eigenen Ich und was das Ich sich gerade gedacht hat beim Schreiben. Dann schreibt man das um. Dann kommt es dazu, was man in diesem Moment sich denkt.
Schreiben ist immer eine Ich-Offenbarung. Ich wollte ein Lexikon. Das prägende Buch meiner Kindheit hat geheißen Die Kinderwelt von A bis Z. Das war ein Lexikon für Kinder mit Zeichnungen. Da haben sie so betulich erklärt, wie die Welt funktioniert, sodass Kinder das verstehen. Die Kinder, so wie ich, haben natürlich die Lexika der Eltern auch gelesen und haben sich gedacht, na gut, sie versuchen es uns so zu erzählen, weil sie halt lieb sind und glauben, wir sind Trotteln. Und dann schreiben sie das für Kinder, das Kinderbuch. Wir sind ja ununterbrochen von Erwachsenen umgeben und nicht von Kindern. Man kann uns auch alles zutrauen. Wir wissen auch, was die Eltern machen im Ehezimmer. Wir turnen herum aufeinander. Aber gut. Und da dachte ich mir, so was könnte man über Wien schreiben. Man könnte über Wien, ich will jetzt nicht sagen ein Kinderbuch, aber ein Buch der Genauigkeit, ein Lexikon über Wien und wienerische Befindlichkeiten in einer für mich notwendigen Genauigkeit.
Philomena: Das wären viele Bände, das wäre sehr umfangreich.
AMD: Die Phantasie hätte das eh angestrebt, einen großen Umfang, aber der Herr Verlagspräsident hat gesagt, ja, nein, wir haben da, da gibt’s immer so magische Zahlen, wie viel ein Buch, wie dick ein Buch sein darf, bevor es überhaupt gemacht wird, wissen Sie immer, wie dick das Buch ist und welchen Umfang. Und kannst du uns schon eine Inhaltsangabe oder für den Pressetext schon was schreiben? Dann schreibt man was und das ist natürlich erfunden. Dann ist es eine ganz seltsame Welt geworden oder vielleicht war die immer schon so.
Philomena: Nein, sie war nicht immer so. Ich habe in den 60er Jahren in einem Verlag oder in den 70er Jahren in einem Verlag gearbeitet.
AMD: Und das war anders?
Philomena: Ganz ganz anders.
AMD: Dann ist das, wie man auf Wienerisch sagt, eingerissen. Und das ist so weit fortgerissen, dass es inzwischen gar nicht mehr erscheinen muss. Das Buch, wichtig ist, dass es geschrieben wurde. Aber die anderen Bücher sind erschienen. Und ich wollte einfach eine… Ich wollte Wien für die, die es… Der Qualtinger hat das so gesagt. „Helmut Qualtinger, wer ihn kennt“, sagte der Resetarits, wenn er einen Namen hervorgerufen hat, der Willi hat immer gesagt, „Helmut Qualtinger, wer ihn kennt.“ Also Helmut Qualtinger hat gesagt „Österreich ist das Labyrinth, in dem sich alle auskennen.“
Philomena: Sehr gut, das ist ein toller Ausdruck.
AMD: Es kann auch sein, dass es nicht von ihm ist, es ist aber völlig egal. Es wird ihm zugeschrieben. Und in Wien kennen sich natürlich die Leute noch besser aus in diesem Labyrinth. Also kann man etwas schreiben für die Leute, die Labyrinth-Wissenschaftler sind, nämlich alle Wienerinnen und Wiener sind Wissenschaftlerinnen des Wienerischen. Und zwar ununterbrochen. Ja. Es gibt kein Entkommen. Und denen kann man das erzählen, was sie eh schon wissen. Das ist die Aufgabe dieses Buches gewesen. Und das hat große Freude gemacht. Weniger Freude hat es gemacht, als es nicht erschienen ist. Also es klingt jetzt so, als ob mich das bedrückt. Und ich das nur mit einem Lächeln überspiel. Ja, man kann auch tragische Sachen lustig finden. Oder es ist ja nicht so tragisch. Was ist denn das im Vergleich zum Weltfrieden, dass irgendetwas momentan nicht in der Buchhandlung steht? Das ist doch ein Luxusproblem, oder?
Philomena: Wichtig ist eigentlich, dass man es geschrieben, oder dass du es geschrieben hast. Es ist, ich sag dann immer, also die ersten Materialisierungsprozesse, es kommt die Idee, dann kann sich in einem Gedanken materialisieren, dann in der Sprache, dann in der Schrift. Und der nächste Materialisierungsprozess ist das Buch. Und dann bedarf es der Menschen, die das lesen und etwas anfangen können damit. Aber das mit dem Verlagswesen, das ist schon sehr bergab gegangen. Und es geht nur mehr ums Geld und um die Schickeria, weil die bringt Geld.
AMD: Gibt’s eine Schickeria noch?
Philomena: Ich glaube, ich weiß es nicht. Na ja…
AMD: Sind die nicht schon alle … ?
Philomena: Da gibts ja die Wichtelhuber. Die Wichtelhuber!
AMD: Die Geschaftlhuber.
Philomena: Die Geschaftlhuber ist auch gut. Wichtelhuber is auch gut!
AMD: Ja, und so funktioniert die Sprache. Plötzlich ist ein Wort da. Und dann ist es da und ist richtig.
Und hat Bedeutung. Wichtelhuber! Der Geschaftlhuber ist eine ganz wichtige Figur. Also er selbst hält sich ja noch wichtiger als man glaubt. Und er muss es unterbrochen unter Beweis stellen, die Geschaftlhuberei. Und natürlich sind alle die Kunst betreiben, und es herzeigen auch Geschaftlhuberinnen. Und wie?
Philomena: Und wie!
AMD: Und das ist leider, wenn man drüber nachdenkt, denkt man sich, oje, oje, oje. Ich würde viel lieber im Elfenbeinturm sitzen und dann kommt eine Fee vorbei und entnimmt mir das Kunstwerk. Und ohne, dass ich drüber nachdenke, wird es jemandem überreicht. Und ich werde gelobt und spüre es durch einen kleinen, feinen Wind, der es mir zuträgt oder so. Und ich bin nicht gestört durch Lob und Anerkennung, weil ich es gar nicht brauche. Aber nein, man muss herumtun und sich wichtig machen. Und wird von den anderen der Wichtigmacherei bezichtigt. Und dann sagen sie, „na ja, mir gefällt das nicht, das haben andere schon besser gemacht“. Oder wie es in der abstrakten Kunst so oft war: „das kann ja jedes Kind“. Und dann musste man sagen, obwohl es natürlich nicht stimmt, „ja, natürlich, darum geht es ja“. „Das könnte ich auch“, war auch so ein Satz früher, „das könnte ich auch“. „Ja, dann machen sie es doch!“
Anna: „Das kann ich aber besser.“
AMD: Auch das ist erlaubt. „Machen sie es doch besser! Und ich werde sie nicht dran hindern.“ „Ja, aber das war jetzt nicht die Frage.“ Jetzt haben sich die Diskursformen schon wieder verändert. Also, alle sind Autorinnen. Alle sind Autoren. Sie können ununterbrochen von überall einen Tweet, jetzt ein Xerl oder wie das heißt, ein Posting absetzen und für 15 Sekunden die Meldung Nummer 1 sein.
Philomena: Ja, so ist es.
AMD: Und das auch genießen. Und was sie nicht bedenken, und das fällt mir auf, ist, sich des eigenen Namens zu erfreuen. Die meisten Menschen wollen nur publizieren, aber nicht, dass man weiß, wer sie sind. Sie haben immer alle so… Die meisten Poster, so heißen diese Leute, jeder von uns weiß, was Poster sind, was da erzähle ich da, also die haben dann so, heißen dann „Willibald015“ oder so, oder „das große Weltungeheuer“ oder irgendwelche blöden Namen, weil sie Angst haben, da könnte jetzt was passieren. Es könnte jemand zu Hause anrufen und sagen, „sie Falott sie!“
Anna: Ja, aber da frage ich mich schon, wenn ich schon Angst habe, dass da was passieren könnte, dann kann ja irgendwas nicht stimmen mit dem, was ich da grad preisgeben möchte.
Oder?
AMD: Meistens bei Beschimpfungen ist ja das so. Das ist eine… Und das sogenannte… Wie heißt das? Es ist ja nicht anonym, in dem Sinne, weil die Poster ja nicht wissen, dass sie gar nicht anonym sind, weil sie ihre IP-Adresse immer mitschicken. Sie können dann auch geklagt werden. Es ist ein Fetisch, dieser… Gut, die Künstlerinnen aller Zeiten haben sich immer auch eigenen Namen gegeben, aber das hat einen anderen Grund. Du weißt das ja aus deiner Künstlerbiographie, Lebensgeschichte. Man wollte sich selbst einen Namen geben, weil man autonom war. Es war nicht eine Verstellung, sondern es war eine Präzisierung. Man hat sich einen Namen gegeben, um man selbst zu sein.
Philomena: Ja!
AMD: Kannst du das bestätigen?
Philomena: Ja, das kann ich. Ich war zum Beispiel mit dem Namen „Rosemarie“ überhaupt nicht einverstanden, lange Zeit. Ich wäre glücklich gewesen, Lieselotte zu heißen. Ich hab daher meine Puppe „Lieselotte“ genannt. Es hat also lange gedauert, bis ich mich mit „Rosemarie“ angefreundet gehabt habe. Und jetzt steht in meiner Geburtsurkunde „Rosemarie Philomena“. „Philomena“ ist von meiner Großmutter der Name, die aus Südtirol kam. Das hat mich sehr angesprochen. Jetzt nenne ich mich eben „Rosemarie Philomena“. Und dann halt irgendeinen Nachnamen, der Nachname bei Frauen meiner Generation. Also der hat ja immer sich geändert. Und ich habe einmal auch gesagt, es ist egal, ich könnte Rosemarie Philomena Blau oder Rosarot oder wie immer heißen, denn der Nachname hat für mich wenig Bedeutung. Also ich hieß Dubkowicz, Schwarz, Mayrhofer, Sebek. Es ist total egal. Ja, so ist das mit den Namen bei mir zumindest gewesen.
AMD: Aber dein…, oder Annas Großvater, sagen wir das so, damit wir dich da…, hat sich ja Barabbas genannt. Er hat mehrere Namen eigentlich genannt.
Philomena: Also er hat sich „Barabbas“, er hat Claus Mayrhofer geheißen, „Claus“ mit C geschrieben. Und als er mit dem Padhi Frieberger zusammen war und beschlossen hat, dass er nicht Künstler wird, sondern bereits Künstler ist, hat er nachgedacht über einen Künstlernamen. Und da ist er auf die Geschichte gestoßen, wo Jesus bei Pontius und Pilatus ist, weil ich meine, auch der Padhi Frieberger, der war ja biblisch beschlagen bis zum Gehtnichtmehr. Und da kam die Geschichte von Pontius zu Pilatus, wo Jesus kam und dann ist es darum gegangen, wer wird zum Tode verurteilt. Und der Pilatus sagt, na ja, ich frage das Volk soll entscheiden. Wen wollt ihr haben? Und das Volk rief, wir wollen den Barabbas. Und da hat der „Barabbas“ gesagt, der Jugendliche, 15jährige, ich bin ein Rebell und mich will das Volk und meine Malerei und meine Kunst wird heiß begehrt sein. Und daher hat er sich „Barabbas“ genannt. Und dann ist er zum Islam konvertiert und hat den [Namen] „Harun Ghulam“ angenommen, „Harun Ghulam Barabbas“. Und dann ist er wieder auch von dem Islam abgekommen. Und wie er nach Australien ist, musste er, also ging das mit dem „Harun Ghulam“ nicht mehr, musste er ja seinen nachweislichen Namen nennen. Und da hat er sich „Claus Mayrhofer“ und den „Barabbas“ als Künstlernamen noch angehängt. Also es war so eine komplizierte Namensgeschichte eigentlich.
Anna: Ich möchte jetzt noch auf eine Sache ganz kurz, die möchte ich gerne fragen, weil mir die aufgefallen ist, wie ich deine Wikipedia-Seite gelesen habe. Und das hat mich gewundert, weil da steht, du bist Freimaurerin.
AMD: Ja.
Anna: Kannst du, darfst du da vielleicht ein bisschen was erzählen? Oder ist das mehr…
AMD: Ja, ich kann drüber was erzählen. Und warum darf ich das überhaupt? Also es gibt ja Gerüchte, das darf man nicht erzählen.
Anna: Genau, das hat mich nämlich gewundert, weil…
AMD: Ja, also man selber darf es erzählen. Man darf sagen, man ist das, es ist kein Geheimnis. Es ist allerdings in Österreich nicht immer üblich, weil manche haben Berufe, in denen sie, sagen wir mal so was wie, leichte Schwierigkeiten bekämen. Es ist noch immer ein bisschen… Es ist nicht verpönt, aber es gibt eine Geschichte des Verbots, der Freimaurerei in Österreich, insbesondere in Österreich. In Ländern, wo es keine Verbote gab, so wie England, Skandinavien, Südamerika, teilweise Italien, also Länder, in denen es keinen Faschismus gab. Oder keinen Faschismus als Staatsdoktrin. Und da zähle ich auch die Sowjetunion, den Stalinismus dazu.
Überall, wo es totalitäre Regime gab, war die Freimaurerei sofort verboten. Noch bevor irgendwas anderes verboten wurde. Und aus dieser Tradition erklärt sich, dass es in Österreich nicht darum erzählt wird. Ich kümmere mich da nicht darum, aus zwei Gründen. Die, die es herausfinden wollen, um mich zu töten, wenn das Kalifat kommt, dann bin ich dran. Wenn der Hitler noch einmal kommt, auch. Also, die finden das raus, ohne dass ich das jetzt bekenne. Aber, ich kann anderen ein Signal geben und sagen, Schauts her, habt keine Angst, das ist etwas, was mit Humanismus zu tun hat. Und es können auch Frauen Freimaurer werden. Und das ist nicht so bekannt. Es gibt Frauen in der Freimaurerei seit fast 140 Jahren. Nicht in Österreich, aber in Österreich zumindest seit den 20er Jahren.
Und das weiß man nicht. Und das sollte man aber wissen, weil es gibt viele Frauen, oder es gibt Frauen, die sich dafür interessieren würden. Und um denen ein Signal zu geben, habe ich das nicht verschwiegen. Ich gebe aber jetzt da keine großen Pressekonferenzen oder irgendwelche, schreibe es auch nicht irgendwie. Ich schreibe keine Bücher darüber, aber man kann mich befragen. Und was darf man erzählen?
Natürlich darf man erzählen, dass man dabei ist. Man darf erzählen, was die Freimaurerei ist. Es ist ein Projekt, ein demokratisches, humanistisches Projekt der Gleichheit, Geschwisterlichkeit, manche sagen Brüderlichkeit, sehr hohe Ideale, die die Gesellschaft verbessern. Und gegen etwas auftreten, was man unter Faschismus zusammenfassen könnte oder auch Rassismus, [das] liegt der Freimaurerei fern. Im Gegenteil, es ist ein Projekt der Menschlichkeit. Ja, aber warum muss es geheim sein?
Es muss eh nicht geheim sein. Es muss nur deswegen geheim sein, weil es die Gegner nicht wollen. Das ist eine Sache, die [wir] in Österreich oder in Gesellschaften mit einer politischen Geschichte des Faschismus haben. Es gibt Länder, wo das nicht ist. Da stehen die Mitglieder der Logen auf den Websites. Die Mitglieder mit ihren Namen stehen auf den Websites. Man kann das lesen in Schweden, Norwegen, teilweise in Amerika. Es ist nicht geheim. Was geheim ist, teilweise geheim ist, es gibt ein paar Dinge, die mit freimauerischem Erleben zu tun haben, die geheim sind, weil man sie nicht erzählen kann.
Man muss sie erleben. Man muss sich diesen Idealen verpflichten. Man muss sich jetzt nicht verpflichten im Sinne, ich muss jetzt einen heiligen Eid schwören und dann werde ich geköpft und zerrissen, wenn ich das breche. Aber man bekennt sich sozusagen zu einer Menschlichkeit und zu einem, wir nennen das „Arbeit,“ zu einer „Arbeit am Tempel der Menschlichkeit“. Die besteht darin, dass man sich regelmäßig trifft. Das Vereinslokal heißt Loge, bekannt. Da drinnen finden Arbeiten statt. Da wird aber nicht der Teufel angebetet oder Kinder zerstückelt oder die Weltverschwörung geplant, sondern es wird darüber gesprochen, worüber man sprechen kann. Im Wesentlichen war es das, was heute in Universitäten gemacht wird. Es werden Vorträge gehalten und über Erkenntnis gesprochen.
Und die Demokratie wurde dort… Natürlich wurde die Demokratie als Wort und als Idee schon im alten Griechenland erfunden, aber einige haben nicht teilnehmen können. Die Sklaven haben nicht an der Demokratie teilnehmen können oder irgendwelche Barbaren, aber an der Freimauerei können alle teilnehmen, die sich dem nahe fühlen. Es gibt, ob es ein König ist oder ein Lakai, wobei Lakaien gibt es ja nicht, aber es kann ein Arbeiter sein, es kann der Präsident sein und der Präsident ist dort in der Loge genauso wichtig wie der Gärtner vom städtischen Garten oder ein Müllkübler, weil es nicht geht darum, wie reich bin ich, wie gut bin ich, was für einen Beruf habe ich, sondern: Wie denke ich.
Und das ist gefährlich für die, die das nicht wollen. Und deswegen ist es teilweise verboten. Und man kann jemandem das kaum erklären, der es nicht… Was ist das Schöne daran? Da sitzts ihr alle herum und tuts euch Geschichten erzählen? Ja, so könnte man es sagen. Aber da kann ich auch in den Yogakurs gehen und in einen Sitzkreis. Ja, eben, kannst du auch.
Philomena: Ja, kann man auch.
Anna: Sehr, sehr spannend. Danke, dass du uns das jetzt erzählt hast. Ich fand das immer schon sehr interessant. Und ebenso, dass es halt doch nicht jetzt ganz so geheim ist, sondern diese Ideale einfach man so auch offen kommunizieren kann, was ich ja generell wichtig finde, dass man humanitär denkt.
Philomena: Na, sehr schön, sehr schön. Vielen Dank, dass du das so verständnisvoll gebracht hast, jetzt.
AMD: Ja, gerne.
Philomena: Und jetzt donnerts uns krachts.
Anna: Danke, dass du da warst heute. Sehr gerne auch wieder, wenn du Lust hast.
AMD: Ja, ich komm gern. Ihr müsst nur sagen, komm und erzähl uns was anderes. Oder das gleiche noch mal.
Philomena: Es gibt genug, ja.
Anna: Na gut, dann sagen wir Tschüss.
Philomena: Ahaja…
Anna: Bussi, Bussi und Baba.
Philomena: Bussi, Bussi und Baba müssen wir ja jetzt sagen.
AMD: Bussi, Bussi und Baba?
Philomena, Anna: Bussi, Bussi und Baba.
Meine 32 Urururgroßeltern, und wo sie herkamen
Joseph DUSEL (Fleischermeister aus Horn, Niederösterreich)
Barbara ZANITZER (Horn, Niederösterreich)
Joseph ZÖCHMANN (Hauer in Roseldorf, Niederösterreich)
Rosalia HIRSCH (Roseldorf, Niederösterreich)
Biagio PATAT (Gemona del Friul)
Lucrezia FORGIARINI (Gemona del Friul)
Martin ZOHAN (Schmelzknecht, Petrovce, Slowenien)
Helena MOYSI (Magd in Cilli)
Heinrich Ernst Friedrich GELPKE (Höxter in Westfalen, Buchdrucker in Pyrmont)
Anna Marie Elisabeth LANGE (Fürstenau, Westfalen)
Liborius LANGE (Fruchthändler, Fürstenau, Westfalen)
Judith WIEDRICH (Windhag in der Capelln, Niederösterreich)
Anton SCHMELZER (Dobritschan, Böhmen)
Theresia KEMPE (Oberleutensdorf, Böhmen)
Georg GULDER (Viechtach in der Oberpfalz, Hutmacher in Oberleutensdorf, Böhmen)
Veronika KEMPE (Oberleutensdorf, Böhmen)
Bernard JÜLIG (Oberlehrer, Ottersdorf bei Rastatt, Baden)
Catharina MAYER (Baden-Baden)
Franz II. POSSANNER von EHRENTHAL (Graz, Verwalter, Bezirksrichter in Krain)
Susanne FRÖHLICH (Cilli, Unter-Steiermark)
Franz SCHEIMPFLUG (Mödling, Wirt in Iglau. Kaufmann in Znaim)
Jeanette WEHRL (Müllerstochter, Trautmannsdorf, Niederösterreich)
Dr. med. Ernst RINNA von SARENBACH (Görz, Hofarzt in Wien)
Anna HUFNAGEL (Tabakdirektorstochter, Klagenfurt)
Carl Wilhelm PATERSON (Seekapitän, Göteborg, Schweden)
Maja Lena MAGNUSDOTTER (Gärdhem, Schweden)
Jöns JÄDERLUND (Schiffszimmermann, Gävle, Schweden)
Brita Greta SJÖBERG (Gävle, Schweden)
Johann Christian RAABE (Sachsen-Anhalt)
Johanna Rosina Wilhelmine KUNZE (Niederholzhausen, Sachsen-Anhalt)
Hugo Adolf HAMILTON af HAGEBY (Freiherr, Generalpostmeister, Schloss Boo, Schweden)
Lena Stina NILSDOTTER (Magd, Hällestad, Östergötland, Schweden).
Comandantina Mixtur
Ich habe 9 Generationen meiner Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, Ururgroßeltern usf. nach Herkunft und Ethnie analysiert. Demnach bin ich zu:
34% Österreicherin
17% Schwedin
19% Sächsin
13% Slowenin
13% Alemannin
6% Friulanerin
5% Niedersächsin
5% Steirerin
3% Britin
3% Ladinerin
3% Oberfränkin
2% Tirolerin
0.5% Kroatin
0.5% Holländerin
0.3 % Oberpfälzerin.
Welche Leitkultur wäre das?
Meine Himmelsrichtungen
Meine Wohnung hier in der Upper Westside Leopoldstadt ist an meinem Haus ausgerichtet, und dieses an der Gasse und der daranstossenden. Die beiden Gassen (und damit das Haus) sind parallel zum Donaustrom ausgerichtet und zum nächstliegenden Ufer-Abschnitt des Donaukanals. Ich habe die Gasse, in der ich wohne, in Gedanken (und auf der Landkarte) verlängert und nochmals verlängert, als würde sie geradewegs irgendwo hin führen. In eine ferne Stadt, eine Gegend mit Klang. Und mit der anderen Wienerischen Himmelsrichtung, der Gasse nämlich, die auf meine stosst, bin ich gleich verfahren. Weil ja das Haus und darin meine Wohnung an beiden ausgerichtet ist. Wenn ich also vom Bett zur Kaffeemaschine gehe, ist das die Achse Pilsen-Timișoara. Und wenn ich vom Küchenfenster ins Bad gehe, und gedankenhalber, rein vorgestellt, immer weiter ginge, käme ich zwischen Kattowitz und Krakau nach Polen. Ginge ich wieder zurück, vom Bad zum Kühlschrank, und noch weiter und weiter, käme ich irgendwann nach Venedig. Wie gesagt, immer in gerader Line. Meine Bücher, drüben im nördlichen Trakt, stehen Pilsnerisch-Temeswarisch. Hier, am Schreibtisch sitzend, ist mein Kopf und mein Gedankenstrahl genau nach Venedig ausgerichtet. Lehne ich mich zurück, polstert es mich polnisch.
Eingestürzt
Ich habe mal, um einer schweren Depression zu entkommen, einen Turm gebaut, einen therapeutischen Turm aus Legosteinen. Indem er wuchs, der Turm, richtete er mich auf, meine Depression wurde kleiner. Da stand er nun, sehr schön und hoch, er hatte mich aufgerichtet. Ein halbes Jahr lang hatte ich daran gebaut. Er hatte mich glücklich gemacht. Er war ein Werk. Und dann trat ich, nicht dass ich es vorgehabt hätte, auf eine Diele, die einzige im Raum, die wackelig war. Und dann passierte es. Der Turm schwankte und zitterte, neigte sich, und wie um mir zu zeigen, wie zerbrechlich das Unternehmen insgesamt war, stürzte er um. Ganz langsam, unabwendbar. Zerprang, als er am Boden ankam, in tausende seiner einzelnen kleinen, Glück und Trost erzeugt habenden Teile. Ein halbes Jahr Arbeit war dahin, ins Unsichtbare gefallen. Jeder Stein, der mich aufgerichtet hatte, lag am Boden. Ich habe den Turm wieder aufgebaut, abermals in einem halben Jahr an Arbeit. Und jetzt ist etwas, das mich ebenfalls aufrichten sollte und aufgerichtet hat, was mir Hoffnung und Zuversicht gegeben hatte, nach sieben Jahren langer Arbeit in sich zusammengefallen. Ein Filmprojekt voll Feuer und Leidenschaft, schön und dicht, tief und weit. Man möge mir verzeihen, wenn ich mit sehr leiser Stimme durchgebe, dass das heute kein guter Tag ist für mich.
Comandantina Fakten
Comandantina-Vulkanismus-Faktum. Anzahl der Vulkane, auf denen ich schon oben war: 1. Name der Vulkane auf denen ich schon oben war: Mount Hood, Oregon.
Comandantina-Maritimal-Fakten. Anzahl der Meere, in denen ich schon geschwommen bin: 7. Namen der Meere, in denen ich schon geschwommen bin: Ostsee, Nordsee, Tyrrhenisches Meer, Adria, Ionisches Meer, Atlantik, Pazifik.
Das Bonbongeschäft
Boboville hat 1968 begonnen, da war ich sieben, sieben auf einen Streich, es war Sommer und Boboville war heiß. Gegenüber vom rosagestrichenen Haus, wo am 1. Mai die roten Fahnen der Sozialisten hingen, gegenüber vom rosa Haus mit der Putzerei, ein schönes Bild, das rosa Haus der Sozialisten mit der eingebauten Putzerei, gegenüber von diesem Haus lag das Geschäft. Die Keimzelle von Boboville. Das heilige Geschäft. Das Bonbongeschäft. bonbons stand in großen Lettern über dem Geschäft. Bonbonville hätte ich meine Insel genannt, hätte ich als Kind gewusst, das Zuckerl und Bonbons das Gleiche sind.
Das Bonbongeschäft, es existiert noch heute, meine ich, vierzig Jahre nach 1968, es war rot gestrichen und ist es noch. Rotsein hatte eine Logik für mich, lange bevor das Wort in mein Leben treten sollte. Als Siebenjährige hielt ich es für richtig, wie ich es damals nannte, dass gegenüber von Onkel Christians rosa Sozialistenhaus mit der Putzerei das rote Zuckerlgeschäft lag. Seine Auslagen waren mit Krapfen geschmückt, mit Indianern, Pariserspitz, leeren, vergilbten Bonbonnierenschachteln. Mit gelber Plastikfolie war sie ausgelegt, die Auslage, darin lagen Vanillekipferl, zu kleinen Vulkanen aufgeschichtet, Mannerbruch in Scheiterhaufenform, Windringe in zirkulär geschichteten Windringringen. Und manchesmal stand eine Nusstorte in der Auslage. Mit einem dicken Kakaocremekringel an der Schulter, gekrönt von einer Walnuss. Oder war es eine Kaffeebohne, mit der Schamspalte nach oben in den Kakaocremekringel gedrückt?
Die Scheibe des Bonbongeschäftes hatte 1968, wenn man die Scheibe gut kannte, auf Kindernasenhöhe leichte Blindheiten. Die kamen von den gierigen Häuchen, die wir beim Anblick von Torten und Mannerbruchgebirgen auf den kalten Scheiben hinterließen. Ein Besuch des Bonbongeschäftes ohne minutenlanges Verharren an der Oberfläche der Bonbongeschäftauslagenscheibe wäre kein Besuch des Bonbongeschäftes gewesen. Man musste sich genau einprägen, was man brauchte. Ob und welches Torteneck, welche Kombination wievielwelcher Zuckerl. In unserer linken Kinderbobofaust befanden sich, zwischen gekrümmte Finger geklemmt, die Schillinge. Schillinge. Einschillinge und Zehngroschenscheiben und kleine, randgerillte Fünfziggroschenknöpfe. Abgezählt. Zu imaginierten Groschentürmen gestapelt.
Denn Boboville 1968, als ich sieben war, hinter den Zwergenbergen, war immer auch Berechnung. Wie viel sich wovon ausging mit wie viel an kinderbobofaustgewärmtem Metall. Die Berechnung dessen, was die linke Faust umklammerte. Um zehn Groschen, das musste man wissen, wenn man mit der Nase an der Zuckerlgeschäftscheibe hing, ging sich immerhin ein Stollwerck aus, die Grundwährung meiner Bobovillekindheit. Mit einem im Fußabstreifergitter vor der Putzerei gefundenen Zehngroschenstück ging sich in der Frühzeit von Boboville ein Stollwerck aus. Es war so groß wie ein Auge im Quadrat und so hoch wie zwei Schulhefte dick, es war eingewickelt in ein zwergentischtuchgroßes Wachspapier. Das Stollwerck. Das Wachspapier, man musste es ablösen, solange das Stollwerck kalt war. War es warm, klebte das Wachspapier am Stollwerck. Fünf Minuten milchzähneverklebendes Lutschen ging sich aus mit dem Zufallszehngroschenstück aus der Bobovilleputzerei im Sozialistengebäude, dem TheodorHerzl-Hof. Theodor-dem-Erfinder-von-Israel-Herzl-Hof. Dass die Gasse ums Eck Malzgasse hieß, hatte Richtigkeit für uns. Schmeckte doch das braune, klebrige Stollwerck nach Malz. Oder nach dem, was wir für Malz hielten. Wir. Wir, die Bobovillekinder vorm Bonbonvillegeschäft. Und wo waren wir her? Aus der Leopoldsgasse, aus der Schreygasse, aus der Rembrandtstraße, aus der Nestroygasse. Aus der Unteren Augartenstraße, aus der Malzgasse. Die, nach der das Malz in den Stollwerck seinen Namen hatte.
Das Bonbonvillegeschäft in der Leopoldsgasse war eine Art Maschine, eine Konsumboboismusmaschine, die erste Konsumboboismusmaschine der Welt. Das Bonbonvillegeschäft musste man besteigen, es war nicht ebenerdig zu betreten. Ein kleiner, halbstufenhoher Absatz führte in eine rotbemalte Nische, rot, wie ja alles Holz am Bonbonvillegeschäft rot gestrichen war. In einem Rot, das eine leichte Fähle hatte, ein sonnengeblichenes, vom blauen Himmel ausgelaugtes Rot. Ein Rot, wie wenn man von oben in ein Himbeerkracherl schaute. Es knirschte, wenn man die Betretungsnische des Bonbonvillegeschäfts bestieg, es machte knarrende Geräusche. Selbst dem federleichtesten Leopoldsgassenkind aus der Schreygasse, in jedem Fall war das immer ich, denn ich war das zarteste, kleinste und gewichtsloseste aller bonbonaffinen Kinder in Frühboboville, selbst dem Hauch eines Kindes gelang es nicht, die Eingangsnische ohne das Eintrittsknirschen zu besteigen. Das Knirschen war Teil der Maschinerie.
Der zweite Mechanismus der Bonbonvillemaschinerie war nicht minder geräuschvoll. Eine Türe, rot gestrichen war sie und dreiviertelgläsern, sie musste an einer Griffstange gehalten und gegen den Widerstand eines Kugelschnappmechanismus aufgedrückt werden. Der Bonbontürmechanismus schärfte mein Talent für technische Zusammenhänge. Ich hatte damals keine Ahnung und heute ebensowenig, wie das Schloss hieß, war es ein englisches Patent oder ein amerikanisches? Für das Kindermich war es eine kleine Messingnuss, die von einer Feder in die Außenwelt gedrückt wurde. Sie war mit honigfarbenem Schmierfett verklebt und roch nach Fahrradkette. Die Messingnuss hielt die Türe im Schloss. Man musste mit dem ganzen Gewicht eines zuckerschuldigen Kindes an der Türe drücken, um den Widerstand der honigschmierfetten Messingnussfeder zu überwinden. Das geschah, so es geschah, denn es war nicht leicht, stets mit einem Knall, von dessen mechanischer Erschütterung die Glasscheibe in der Bonbongeschäftstüre klirrte. Leicht, so dachten wir, könnte dieses Glas brechen und zu enormen Kinderschulden bei den Bonbongeschäftsinhabern führen. Schellende Ohrfeigen, markzersetzendes Angeschrienwerden, schmerzhafte Schüttelungen und daheim dann schlicht lebenslanges Fernsehverbot nach sich ziehen. Der Eintritt ins Bonbonparadies war untrennbar mit der Angst verbunden, die Zuckerpforte zu zerstören. Indes, das Dilemma war Teil einer ausgeklügelten Inszenierung. Nie nämlich, ja nie ist das Glas des Paradiesportals aus seinen Kittfugen gesprungen. Die Diabolik dieses Mechanismus war ebenso perfide wie gefürchtet.
Hatte man die Türe aufbekommen, schlug ihr Blatt rechts oben, eine Handbreit aufgedrückt, gegen ein Glöckchen. Als hätte das Knirschen der Betretungsnische und das Knallen der Türe nicht schon genug Bonbongeschäftsalarm ausgelöst. Knirschknallklingeling, das war, in Geräusche umgesetzt, das Süßigkeitenprogramm des Bonbonvillegeschäfts. Zuckerlkauf war ein Abenteuer, dessen Ritualpartikeln sich nicht alle von uns aussetzen wollten. Ich jedenfalls hatte bald eine Technik einstudiert, die Sesam-öffne-dich-Arbeit anderen aufzuschultern. Einem anderen Kind, einer Bonbonnierekäuferin, einem Schokohurtigen, einem Diabetiker auf Selbstzerstörungstour. Irgendjemandem jedenfalls, der die honigfette Nuss für mich aufdrückte. Sobald ein Helfer nahte, stellte ich mich in die Nähe der Eingangsnische, studierte den Mannerbruch, zählte die heidelbeergeschmackigen unter den Hellerzuckerln oder dachte mir sonst eine Unauffälligkeit aus. Das hatte ich mir von den Bienen abgeschaut. Die zuckelten doch auch zögerlich vor den Kelchen herum, um mit ihrem Schwirren andere Bienen zum Blütenbesuch anzustiften. Diese Vorgänge wollen deshalb in aller Ausführlichkeit erzählt werden, weil zum Verständnis Bobovilles das Verständnis für die Abweichung gehört. Bobovillains sind am Ungleichartigen interessiert, nicht am Uniformen. Auch von diesen Vorgängen wollten die Blindheiten stammen, die in Kindermundhöhe in die Auslagenscheiben geätzt waren. Von den Häuchen der Wartenden. Von den perfide vor dem Kelch taumelnden Kinderbienen.
Und dann kam sie, die dicke Hummel im Hubertusmantel, die Tortensuchende, den Seppelhut aufs weiße Lockengebirge drapiert. Und die knirschknalldrückte mir die Türe zum Süßigkeitenjerusalem auf.
Von Innen, das will ich gerne zugeben, ließ sich die bestialische Türe so leicht wie geräuschlos manipulieren. Von Innen sehen alle Initiationsrituale lächerlich aus. So geräuschvoll der Eintritt war, so leise, so sakristeihaft still war es im Inneren des Bonbongeschäfts. Ein Zimmerchen, von einer L-förmigen Glastheke beherrscht. Keine von den Bonbonischen befand sich je bei Eintritt in ihr Reich hinter dieser Budel. Die Bonbonischen befanden sich in lauernder Stellung, in der Tiefe ihrer Geschäftsräume. Ich entwarf ein Bild von ihnen, wie sie auf rosaledernen Sofas, im Lichte schokoladenfarbener Stehlampen vollgeklebte Fußballbilderalben studierten und Eskimoeiskataloge, Keksbestelllisten ausfüllten oder auch nur die Kreuzworträtsel in der Zuckerbäckerinnungsgazette. Vielleicht schliefen sie auch auf großen Schaumrollen? Designschaumrollen gewiss. Aus der Carnaby Street. Im Lichte himbeersaftfarbener venezianischer Luster.
Wie auch immer, nach dem Vergehen einer guten Minute krabbelte eine der Bonbonischen aus ihrem Versteck, nach meiner Erinnerung eine kleine, dicke Frau mit blaukarierter Textilviertelschürze, die Leopoldstädter Friseurbesuchsfrisur im Haar, zur Zeit, in der meine Erinnerung spielt, war es das silberblau getönte Lockenhaupt. Die Frisur der Gegend war uniform, silberblaue Dauerwelle. Nur Frau Natiesta im dritten Stock unseres Hauses in der Schreygasse, einen Apfelbutzenwurf von hier Richtung Leopoldsberg, hatte weißgoldenes Haar.
Die Bonbonische war mürrisch, sie hatte dicke Hände wie die Babuschkas in der Ukraine, wie die Waldviertler Kartoffelbäuerinnen. Dicke, kurze Hände. Und mürrisch war sie. Alle Bonbonischen sind mürrisch, anders als mit militanter Mürrischkeit lässt sich ein Bonbongeschäft nicht führen. Die Mürrischkeit paarte sich mit Präzision. Der Bonbonischen konnte man die ungeheuerlichsten Listen vortragen. Mehrstellige Listen. Listen, die von 17 weißen Stollwerck handelten, drei Liebesherzen, zwei Fizzersrollen, zwei Bazooka-Kaugummi-Paketen, drei Kuverts Fußballbildern, zwei Schlangen, zwei Colaflascherln aus Gummi, einer Packung Brause Orange, einer Packung Brause Zitron, einem Leberknödel.
Die Bonbonische hatte im Kopf mitnotiert, und schon beim Ausklang des Wortes Leberknödel, oder was auch immer das Ende der Liste markierte, die Summe parat. Dreizehn dreißig. Mehr als Dreizehn dreißig überstieg so ein Großeinkauf im Bonbongeschäft nie, und es war immer eine Kombination aus Groschen und Einschillingmünzen. Und immer zahlten wir sofort. Nach Bekanntgabe der Liste. Erst dann grub die Bonbonische in den Details und schichtete mit einer Genauigkeit, für die sie Uhrmacher beneideten, unser Zuckerwerk in weiße Papiersäckchen. Mit denen man später, waren sie leer und aufgeblasen, einen bobovilleerschütternden Knall machen konnte. Mürrische Genauigkeit. Die lernten wir bei der Bonbonischen. So waren die mehrstelligen Listen ja auch zusammengestellt worden, durch mürrisch genaue Kalkulation von Zuckerlpreisen. Zehngroschenscheiben ließen sich gegen Stollwercke tauschen, Fünfziggroschenknöpfe gegen Fizzersrollen, Bazooka-Gums, Brausesäckchen und Gummilutschzeug. Nur die Panini-Fußballbilder waren in Schillingwährung geerdet. Und der dicke, fette Leberknödel, das Zweischillingmonster. Sein wuchtiger Preis folgte gestalterischer Logik. Nach dem Essen der Nougatbombe war der Kindermagen verklebt. Nicht mal Brause konnte dann den fetten Nougatleberknödel durch den Bauch spülen. Der Nougatleberknödel war der Gruftdeckel des Zuckerlgrabs.
Das Reich der Bonbonischen war im Gegensatz zu den anderen Geschäften auf der Insel auch an Sonntagen geöffnet. Manchesmal musste ich hier Sonntagsmilch für daheim einkaufen. Oder Sonntagskaffee. Oder Sonntagszucker. Die Bonbonischen verwahrten Milch auch an Nichtsonntagen in einem Geheimkühlschrank. Denn die Zuckerlgeschäftkonzession verbot 1968, im Jahr, als am Boulevard SaintGermain die Pflastersteine flogen, gewiss den Verkauf von ungezuckerten Nahrungsmitteln. Es war mir damals schon bewusst: Geschäft ist immer auch Verbrechen. Milch verkaufen, wo Milchverkauf verboten ist. Kaffee verkaufen, wo Kaffeeverkauf verboten ist.
Bei den Bonbonischen saßen manchmal Leute vom Grund. Ausgemergelte Gestalten bei einer Tasse schwarzen Mokkas, die sich vorgaukelten, bei den Bonbonischen etwas für die Gesundheit zu tun. Mokka und Underberg tranken sie, an einem Resopaltischchen sitzend, und auch wenn sie dabei keine Falk inhalieren durften und keine Ernte 23, war das für die Ausgemergelten gewiss so gesund wie Zuckerzeug für Kinderzähne.
Das himbeerkracherlrote Bonbongeschäft gegenüber von Herzls sozialistischer Dampfbügelei ist der Nabel von Boboville. Auch wenn andere Bobovillains von anderen Nabeln wissen wollen. Von Nabeln im Village oder im Marais. Oder Umbilicae in Castro, Mitte und Kreuzberg. Alles Quatsch. Der Omphalos von Boboville ist das rot gestrichene Bonbongeschäft gegenüber vom rosa Gemeindebau, der nach Theodor Herzl benannt ist. Gestern habe ich das Schreiben des Bobovillebuchs unterbrochen, um in einem hastigen Anflug von Bekümmerung in die Leopoldsgasse zu fahren und Nachschau zu halten, ob das Bonbongeschäft überhaupt noch existiert. Ich parkte vor dem rosa Gemeindebau, wie es sich für Bobovillains gehört, mit drei Rädern im Kriminal, auf der Bushaltestelle nämlich. Mein Schreck war groß. Das Bonbongeschäft existiert. Unverändert. Sogar die gelben Plastikbahnen in seinen Auslagen sind noch da. Etwas gebleicht von der Leopoldstädter Sonne.
Aus: Dusl, Andrea Maria: Boboville, Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg, 2008, pagg. 10ff.
Muttersprache
60erjahre. Schwarzkatholischer Erzieher „empfiehlt“ meiner Mutter dringend, mit den Kindern, also auch mir, nicht in meiner und ihrer Muttersprache zu sprechen. Die Kinder, also auch ich, würden ansonsten „verblöden“. Viele Tränen. Alle heimlich. Ungesehen. Das Sprachenverbieten hat Tradition. Auch bei der ÖVP. Röstet in der Hölle, kulturfeindliches Faschistengesindel.
Lá Fhéile Pádraig
Ich bin Haplogruppe h64. Auskenner wissen, das ist der mitochondriale DNA-Subtypus. Mehr Auskenner wissen, dass mitochondriale DNA nur über die Mutter vererbt wird. Weniger bekannt: Haplogruppe h64 originiert in Irland. Oder jedenfalls finden sich dort die allermeistem Träger·innen dieses Typus. Wollte ich sagen, weil heute Lá Fhéile Pádraig (Sankt-Patricks-Tag) ist. Und ich, wie gesagt mütterlicherseits Irin bin.
AB+
Comandantina Bio-Fact: Ich habe die sehr seltene Blutgruppe AB+. Kann also nur anderen AB+lern Blut spenden. Man könnte sagen, ich habe gefährliches Blut. Anderseits bin ich transfusionslogistisch sehr genügsam. Ich kann von ALLEN Blutgruppen Blut empfangen, mache also kaum Mühe.
Mit dem Steppenwolf im Raucherkammerl
Interview für die 150-Jahre-Festschrift des Wasagymnasiums, publiziert im Oktober 2021. Meta Gartner-Schwarz sprach mit Andrea Maria Dusl am Dienstag, den 19. März 2019 über ihre Schulzeit am Wiener Wasagymnasium.
Meta Gartner-Schwarz, Wasagymnasium: Sie haben, wenn ich das richtig recherchiert habe, 1980 an unserer Schule maturiert. Übernehmen Sie bitte kurz die Rolle einer Zeitzeugin: Was war das für eine Zeit? Wie dürfen sich unsere Schülerinnen und Schüler diese vorstellen?
Andrea Maria Dusl, Alumna: Es ist schwierig, die Zeit aus der heutigen Perspektive mit den damaligen Augen zu sehen, weil sich alles zusammenschiebt. Ich müsste mich jetzt erinnern, nicht an meine persönlichen Erlebnisse, sondern daran, was eigentlich zwischen 1970 und 1980 passiert ist. Aus schulischer Perspektive hatte ich überhaupt keine Ahnung, was politisch ablief. Das war nicht wichtig. Wir waren politisiert in einem viel engeren Sinn, als es der gesellschaftliche Aufbruch war. Wir sind vielleicht auf Demonstrationen gegangen, aber wir waren nicht parteipolitisch politisiert. Wir waren auch nicht ideologisch motiviert, wir wollten ganz einfach nicht unterdrückt sein. Das war ein Beweggrund, aber das hat man auch gar nicht so ausgedrückt, es war irgendwie alles ein bisschen reglementierter. Und ich? Ich kann jetzt nicht wirklich in Erinnerung rufen, wie die 70er Jahre waren, ich kann es nur an den Unterschieden festmachen.
Welche prägenden Erinnerungen haben Sie an Ihre Schulzeit in der Wasagasse?
Ich will es jetzt mal so ausdrücken: Es gibt nichts in meinem Leben, was nicht durch die Schulzeit geprägt worden wäre, absolut nichts. In jedem Aspekt meines Daseins hat die Schule Spuren hinterlassen. Es ist sozusagen mein ganzes Leben schuldurchwirkt und seltsamerweise mehr durchs Gymnasium als durch die Volksschule. Das stelle ich immer dann fest, wenn es Situationen gibt, die ähnlich sind. Etwa beim Aufenthalt in Räumen, in denen man nicht das Kommando über das eigene Tun hat. Ich versteh darunter so Sachen wie das geplante Zuhören, das Konzentrieren gegen die eigenen körperlichen Wünsche, und der Aufenthalt mit und in einer Gruppe.
Solche Situationen kommen immer wieder. Auf der Universität kommt es wieder, bei Seminaren und bei Vorträgen, und da merke ich, dass ich von der Schule sozialisiert wurde. Wie geht man mit der eigenen Energie um, wie geht man mit den eigenen Wünschen um? Wie geht man mit dem Drang um, entweder etwas zu sagen oder zu verschweigen? Ja, wie interagiert man? Da gibt es ja so Strategien, ich weiß jetzt gar nicht, ob man sie Kommunikationsstrategien nennen sollte, aber es gibt in diesen geschlossenen Räumen, die wir in der Schule zum ersten Mal erfahren, so etwas wie nonverbale Kommunikation mit anderen, sehr komplexe Geflechte von Einbindung oder Ausgrenzung. Und das betrifft nicht nur die Lehrer und die Schüler. Wobei, jetzt fällt mir wieder auf, dass wir damals nicht Schülerinnen und Schüler sagten, sondern Schüler, und da war natürlich immer Schülerinnen und Schüler gemeint, aber es wurde nicht darüber gesprochen, dass darin alle inkludiert waren.
Wir hatten auch eine ganz andere Reflexionsebene über Sprache und über gesellschaftliche Zustände, und die Zeit, in der wir in der Schule waren, war insgesamt die ganze Suppe heute sehr berühmter Dinge. Da waren sehr viele Dinge drinnen, die wir ganz normal fanden, die aber gar nicht normal waren zu dem Zeitpunkt, als sie passierten. Zum Beispiel Gratis-Schulbücher, dass wir gratis mit der Straßenbahn fuhren, dass Mädchen und Buben – eigentlich hieß es damals Knaben und Mädchen – überhaupt gemeinsam in einer Klasse saßen. Das alles war damals absolut normal, aber aus heutiger Perspektive war es gerade eben erst eingeführt worden. Es muss also für die damaligen Lehrer, die aber auch nicht Lehrer hießen oder Lehrende, sondern „Professoren“, sehr anders gewesen sein. Die hatten das ja nicht so erfahren. Und selbst wenn man in einer modernen Schule war und vielleicht koedukativ erzogen wurde, war das nicht die Regel.
Für die Lehrenden war das auch etwas Spannendes, und diese 70er Jahre, die waren politisch gesehen in Österreich ein Aufbruch in sehr viele neue Felder, die vorher noch nicht beschritten waren. Daran erinnere ich mich, dass wir gespürt haben, dass sich da immerzu etwas verbessert. Etwas Analoges war der sogenannte Fortschritt, nicht der auf gesellschaftlicher, sondern der auf technischer Ebene. Jedes halbe Jahr wurde irgendetwas erfunden, das aus der Raumfahrt kam und die Welt verbesserte. Ich gebe ein Beispiel: Ich bin in die Phase hineingeraten, wo der Rechenschieber – es kann sich heute niemand mehr vorstellen, was ein Rechenschieber ist – wo also der Rechenschieber obsolet geworden ist. Wir hatten noch gelernt, wie der Rechenschieber funktioniert, aber wir haben ihn dann nicht mehr verwendet in der Oberstufe, wir konnten die ersten Taschenrechner verwenden, und das war eine unglaubliche Sensation, dass Kinder einen Apparat hatten, der einem das, was die Schule zu einem Großteil ausgemacht hat, nämlich rechnen zu können, abgenommen hat. Das war für die Eltern fast undenkbar, es gab ein einziges Modell, das an der ganzen Schule eingeführt wurde.
Die zweite technische Innovation, an die ich mich erinnere, die das Leben dann sozusagen geflutet hat, waren Overheadprojektoren. Eine heute völlig ausgestorbene Form. Der Overheadprojektor, der auf magische Weise etwas an die Wand warf, hat die Tafel abgeschafft. Die Tafel, die aus Kreide, Schwamm und diesen spezifischen Gerüchen bestand, die ist natürlich jetzt noch immer da, und auch das große Dreieck und der große Zirkel. Aber die Overheadfolie, das war ein Zauberding, und auf der haben die Lehrer, ich sag jetzt mal Lehrer, wir können das ja im Geiste gendern, mit ihren Overheadstiften herumgezeichnet. Sie haben das zwischendurch immer wieder abgewischt, oft auch unabsichtlich.
Meine Erinnerung ist gefüllt mit Vermittlungstechnik. Heute hatten wir in der Stunde, die ich besuchen durfte, einen Projektor, und da haben Sie vom Computer ein kleines Filmchen gezeigt. Das einzige, das ähnlich war an dem Ganzen, war die Tatsache, dass die Lichtsituation ungünstig war, weil es ja Tag war. Man kann nicht gut verdunkeln, sonst kann man auf den Tischen nichts mehr lesen. Das hat sich nicht verändert. Wir hatten damals 16-Millimeter-Projektoren und das ratternde Geräusch der Lehrfilme habe ich deutlich in Erinnerung. Interessanterweise war der Ton genau gleich wie heute. Er war so laut, dass er keinesfalls unhörbar war, also man konnte da kaum durchschlafen. Das ist völlig identisch mit damals, auch das schlechte Bild an der Wand ist identisch. Ich weiß nicht, ob der Projektor heute in Ihrer Stunde eine Entzerrungsfunktion hatte. Das gab es bei den bei Overheadprojektoren jedenfalls nicht, die warfen immer ein verschobenes Parallelogramm. Ja, selbst wenn es Projektionen waren, waren es greifbare Dinge.
Ich erinnere ich mich an den Geruch der Stifte, an den Geruch der Taschen. Auf dem Weg hier her habe ich mich daran erinnert, wie meine Schultasche gerochen hat, weil ich wieder denselben Weg gegangen bin, den ich in meiner Schulzeit auch gegangen bin. Ich habe dann immer entschieden am Schulweg: Soll ich die fade Straße gehen? Die neben der Kaserne, oder die spannende, wo so viele Autos durchfahren? Die roch furchtbar nach Abgasen. Schon damals war die Frage: Soll ich gesund oder spannend gehen? Ich habe mir dann irgendwann ein Fahrrad schenken lassen, damit ich länger schlafen kann. Ich weiß das deswegen, weil ich eine frühe Kassettenaufnahme gefunden habe von einem Gespräch, in dem meine Eltern debattierten, warum ich noch nicht beim Frühstück sitze. Meine Entschuldigung, warum das so sei? Ich könne mit dem Fahrrad fahren, war das Argument, und dadurch müsse ich nicht so früh aufstehen. Ich bräuchte nur 5 Minuten mit dem Fahrrad, und nicht 20 Minuten wie zu Fuß.
Und wie sind Sie über den Donaukanal gekommen?
Das war sehr schwierig. Ich musste über die Hörlgasse rauffahren, in diesem fürchterlichen, mörderischen dreispurigen Verkehr, und da ist auch mal ein Unfall passiert. Ich bin gegen die aufgehende Autotür eines Richters gefahren, dessen Tochter in der Schule studierte, und ich hab dann unglaublich viel Schmerzensgeld bekommen, konnte mir gute Ski kaufen davon, also unleistbar gute Ski von dem Schmerzensgeld. Ich weiß, das waren 4000 Schilling, das Schmerzensgeld, und es war dem Richter furchtbar peinlich. Mein Finger war ein halbes Jahr lang gelähmt, mein kleiner Finger, sonst hat mir nichts gefehlt, aber es hätte natürlich auch böse enden können. Fast niemand fuhr damals mit dem Fahrrad. Es war eine bizarre Außergewöhnlichkeit, Fahrrad zu fahren, noch dazu in die Schule. Aber nochmal zurück, wie hieß die Frage?
Welche Erinnerungen haben Sie bis heute mitgenommen?
Dass es eine Zeit galoppierender Technik und Innovationen war! Taschenrechner von Texas, Texas Instruments, TI 30 hieß dieser Rechner, der hatte so kleine rote Leuchtfäden, der hatte noch kein Display. Und mit dem durften wir in der Schule rechnen. Das war unglaublich. Was mich sonst geprägt hat, waren Freundschaften, Liebschaften. Aber das hieß nicht Liebschaften, sondern man war verknallt oder verliebt oder man ist mit jemand gegangen.
Aber noch zu den prägenden Dingen an der Schule. Ist es jetzt von mir keine günstige Betrachtung, wenn ich sage, ich habe sehr gelitten unter der Schule? Aber ich habe tatsächlich sehr gelitten unter der Schule, am meisten unter der Unfreiheit. Vielleicht ist es heute anders. Ich hoffe es, aber es gab damals unglaublichen Druck, und der Druck war permanent. Es war der Druck zu versagen. Das hohe große Ziel war es, die Matura zu schaffen. Das war gleich von Anfang an klar definiert, also das war klar da, und das war von der ersten Klasse an das große Ziel. Wenn du das nicht schaffst, hieß es, wenn du zum Beispiel nicht in die Oberstufe kommst, wenn du also die Schule nicht schaffst, ist dein Leben verwirkt! Das war so ein bisschen das Grundthema von allem, und mit dieser Angst wurde auch operiert.
Auch die Eltern haben diesen Druck erzeugt. Und irgendwie war die Gesellschaft auch so drauf. Es drohte die Lehre oder ein Zurücksinken in die Hauptschule oder in eine HTL. Das waren so unglaubliche gesellschaftliche Abstiege, dass es, sobald man im Gymnasium war, einem Todesurteil gleichgekommen wäre. Es wäre einem lebensbestimmenden Prozess gleichgekommen, der nie wieder geändert werden konnte. Es gab ununterbrochen diesen Druck. Ich weiß nicht, wie ich ihn beschreiben soll, er war allgegenwärtig. Er hat das ganze Leben durchdrungen. Das ist mit Unfreiheit gemeint. Man hatte ganz lange Zeit überhaupt keine Idee davon, wohin das münden solle; man hat gewusst, es gibt nachher die Universität. Da ist dann alles besser und so ein Studium, das dauert drei Jahre, aber es war in so weiter Ferne. Die Matura war das Licht am Ende des Tunnels.
Ganz am Anfang gab es ja nicht Semester, sondern noch Trimester und ich kann mich erinnern, dass ich eine Aufnahmeprüfung absolvierte, obwohl sie gerade er abgeschafft worden war. Es war relativ bizarr, der Direktor stellte ein paar Fragen: Ist ein Wal ein Fisch oder ein Säugetier? Wie viel ist 7 mal 8 und 13 mal 2, und die C-Dur Tonleiter. Das war eigentlich sehr seltsam. Wichtiger indes waren die Eltern, also welcher gesellschaftlichen Schicht sie entstammten. Für die Schule war wichtig, dass die Eltern die richtigen Eltern sind, und daraus ergibt sich sozusagen die Richtigkeit der Schülerinnen und Schülern, und nicht umgekehrt. Das hat sich aber in meiner Schulzeit stark gewandelt. 1970 war noch eine ganz andere Zeit. 1971 gab es ebenfalls ein Jubiläum, allerdings das Hundert-Jahre-Jubiläum der Wasagasse. Das ist jetzt schon 50 Jahre her, aber damals war es für mich unvorstellbar, dass etwas hundert Jahre existieren kann.
Es war für mich eine lange Zeit. Woran ich mich erinnere ist die permanente Müdigkeit. Ich war ununterbrochen müde. Ich kann mich nicht an Munterkeit erinnern, es war immer ein Kampf gegen die eigene Müdigkeit in der Schule, die Munterkeit konnte durch Pausen nicht wiederhergestellt werden. Das war, weil die Schule zu früh begann. Eine Stunde später hätte schon sehr viel gelindert. Und sie dauerte zu lange, die Schule. Die 6 Stunden, die wir durchgehend drinnen saßen!
Man hatte seinen Rhythmus und wußte ziemlich genau, in 5 Minuten ist es so weit, dann läutet es, auch ohne auf die Uhr zu schauen. Das ganze Leben war in Minutenschritte eingeteilt. Das Ende der fünften und sechsten Schulstunde war das Anstrengendste, weil man da schon starken Unterzucker hatte. Wir haben ein Schulbrot mitgehabt, und das musste man sich gut einteilen. Die Pausen waren sehr wichtig, um kommunikativ zu sein, in den Pausen konnte man mit den anderen Kindern kommunizieren.
Ich halte das gesellschaftliche Leben für das Wichtigste an der Schule, das Lernen, wie man miteinander umgeht, wie man Freundschaften pflegt. Dafür aber gab es zu wenig Raum. Die Nachmittage waren gefüllt mit Aufgaben. Ich kann mich jetzt nur permanenter Müdigkeit erinnern. Es gab Stunden, wo man schlafen konnte, Musik war sehr, sehr gut um zu schlafen, an gute Nickerchen kann ich mich erinnern, und dann kann ich mich erinnern, dass man eine andere Beschäftigung nebenher machte, zum Beispiel in den Kalender besondere Malereien hinein zu machen oder kleine Ersatzhandlungen vorzunehmen. Die Bank einzuritzen. In der der ersten, zweiten, dritten Klasse war es sehr wichtig, die Schulbücher mit Zeichnungen zu füllen und einen Raum, einen eigenen Raum zu finden, in dem die eigenen Regeln galten, und es war natürlich furchtbar, wenn das sichtbar wurde. Das hat die Betragensnote geschmälert. Es wurde nicht als das erkannt was es ist, als ein Refugium, ein persönliches. Das war für mich prägend. Was auch prägend war – aber das liegt im Wesen der Schule – ich habe ganz viel gelernt, aber mir damals gedacht, ich lerne das falsche.
Was empfinden sie davon auch heute noch als falsch?
Aus heutiger Perspektive? Ich kann es nicht beurteilen, wie die Schule heute drauf ist, weil ich in den letzten 30 Jahren genau 2 Stunden, und zwar heute, davon gesehen habe. Ich kann nicht wirklich beurteilen, wie die heutigen Lehrpläne aussehen. Aber ich weiß, dass es die Fächer noch immer gibt von damals, und diese Fächer, das wusste ich damals das Kind natürlich nicht, folgen einem humanistischen Kanon, der im 19. Jahrhundert aufgestellt worden ist, für eine ganz andere Gesellschaft. Man sollte konversieren können, vor allem in Französisch. Man sollte humanistische Bildung haben, Technik war nicht so gefragt, das war fast ein bisschen verpönt in diesem Zusammenhang. Die Gesellschaft hat sich auch geändert.
Geographie hat mich sehr interessiert, aber mir war bewusst, dass das ein Fach ist, das sonst niemanden interessiert. Biologie konnte ich identifizieren als wichtig, weil Medizin und das Leben und das Verständnis für organische Vorgänge wichtig waren. Aber schon Physik und Chemie, die Tatsache, dass diese Fächer getrennt waren, das ist mir sehr komisch vorgekommen. Mich haben Sprachen schon sehr interessiert, aber eigentlich wurden nur zwei Sprachen angeboten, die anderen waren Freifächer. Da hätte man sich mit dem Müdigkeitsgrad, den wir durchwegs gehabt haben, sehr überwinden müssen. Oder irgendwelche Tabletten nehmen müssen, die es damals nicht gab. In der Freizeit hätte man Französisch und Italienisch lernen können. Englisch war sehr wichtig für mich, denn es konnte ganze Welten öffnen, und dafür war ich sehr dankbar. Latein wurde uns anders verkauft. Es hieß, wenn du Medizin studieren möchtest, dann musst du Latein können. Aber man hat nichts Relevantes für Medizin in Latein gelernt, sondern eigentlich nur die Grammatik, die verstörend kompliziert war am Anfang und für mich mit Sprache sehr wenig zu tun hatte. Es wurde gesagt, die Struktur von Latein sei so genau, dass man, wenn man das könne, alles könne. Interessanterweise stimmt das sogar. Das Englische erschließt sich mir über das Lateinische, die englischen Fremdwörter sind für mich übers Lateinische viel besser begreifbar, nur hat das damals niemand so erzählt.
Zwischen den Fächern gab es keine Überlappungen, zumindest keine, die ich gespürt hätte, und Latein war sehr, sehr anstrengend, weil es aus einer toten Welt gekommen ist und weil dieses Tote überpräsent war. Wir lasen Texte, die ich zum Teil noch immer auswendig aufsagen kann, weil das ein Teil dieser spezifischen Lateinlehre, ja der Kultur des Lateinlehrens war. Latein ist ja noch älter als alle anderen Unterrichtsfächer, damit wurde eine Tradition transportiert. Das konnten wir natürlich überhaupt nicht einschätzen, und das wurde uns auch nicht erzählt. Es gab hier in dieser Schule, das passt hier gut rein, eine Kammer, im Erdgeschoss, und zwar genau in der Ecke Hörlgasse – Wasagasse, die gehörte einem Professor. Ich glaube, er hieß Lanz oder so, und der hatte ein Freifach. Das hat mich sehr fasziniert, denn da kamen immer wieder, unsere Klasse lag in dieser Ecke, für mich damals als Erwachsene empfundene heraus, aus dieser Kammer. Die hatten dort das Freifach Sanskrit belegt. Sie waren ungefähr doppelt so groß wie wir, es können nur Achtklässer gewesen sein und Siebtklässer, und es waren fast nur Männer. Es gab ganz wenig maturierende Mädchen. Das hat sich dann stark in Richtung Fifty-Fifty geändert. Als ich in der 1. und 2. Klasse war, waren wir sozusagen der erste Schub von gender-equalen Kindern. Die Klassen waren aber größer, 31, 32 Kinder. Es wurde damit gerechnet, dass sich die Klassen ganz natürlich dezimieren. Die verkleinern sich selber, hieß es, und dann werden aus drei Klassen zwei.
Einer unserer Mitschüler hat sich im Klo erhängt. Es hieß, es sei ein Unglücksfall gewesen. Ich glaube aber, dass er depressiv war, dass es sozusagen ein Kindersuizid war. Wie der auf die Idee gekommen ist? Keine Ahnung. Es war nicht zu verhindern, es gab keine Anzeichen. Und es wurde nachher nicht mehr viel darüber gesprochen.
Wie alt war das Kind?
Es war in der ersten Klasse.
Ich erinnere mich auch noch dran, dass wir sehr viele Mitschülerinnen und Mitschüler aus anderen Ländern hatten. Heute würde man das vielleicht anders ausdrücken, aber es war sicher ein Drittel nichtdeutscher Muttersprache, konnte aber trotzdem blendend sprechen. Weil das Gymnasium damals einen anderen Magnetismus hatte, kamen die entweder aus Diplomatenfamilien oder aus Familien, die den gesellschaftlichen Aufstieg schon geschafft hatten. Es war ganz normal, eine Vielzahl unaussprechlicher Namen kennenzulernen. An das erinnere ich mich: Dass das eben normal war. Aber dass ich mich erinnere, dass es normal war, gibt einen Hinweis darauf, dass es für andere nicht normal gewesen ist, sonst würde ich ja gar nicht drüber sprechen. Dass es normal war, war offenbar nicht normal, aber wir haben es als normal empfunden.
Und auch gemischte Klassen, außer in Turnen. Leibeserziehung hieß das damals, Leibeserziehung für Mädchen und Leibeserziehung für Knaben. Aber niemand sagte das so, es hieß „Turnen“, auch heute noch? Es gab noch einen anderen Namenswechsel, und zwar den von Naturgeschichte zu Biologie. Geschichte wurde nicht mit dem Buchstaben G abgekürzt im Stundenplan, sondern mit H, wegen History. Daran erinnere ich mich, auch daran, dass wir es Reflexion über die Bezeichnung dieser Fächer gab, wahrscheinlich auch, um Geschichte von Geographie zu unterscheiden. Und dann hatten wir ein Fach, ich weiß nicht, ob ich das heute noch gibt, es hieß DG, Darstellende Geometrie.
In gewissen Schulzweigen gibt es das noch.
Ich bin dann in den realistischen Zweig gekommen. Da hatten wir jeden Tag Mathematik, manchmal sogar 2stündige Mathematik. Für mich war damit Mathematik noch stärker lebensdurchdringend als Latein.
Die Müdigkeit war Teil einer Polarität, eines Wechselspiels vieler Pole. Interessanterweise habe ich gute Erinnerungen an Religion, obwohl ich sehr areligiös bin, aber Religion hab ich nicht als gegenpolig empfunden, sondern als fast sowas wie freundlich entgegenkommend.
Turnen war auch eine Art Refugium, in dem alles anders war, in dem eine Art von Freiheit möglich war.
Musik hingegen war anstrengend, weil ja damals gerade die eigene Musik wichtig geworden war: Rockmusik. Für manche war das dann auch schon Jazz, aber Rockmusik war so präsent, man kann sich gar nicht vorstellen, wie wichtig war. Als Antithese zur Musik in der Schule, und ich kann mich erinnern, dass wir versucht haben, damit kleine Breschen zu schlagen in den Lehrplan. Obwohl der Lehrer selber Jazzpianist war, hat er sich an den Lehrplan halten und mit uns über Schubert und Bach, Beethoven und die Klassik reden müssen, und das auch vorspielen. Da konnte man immer gut schlafen, und ich habe das gern gehabt, im Musikunterricht zu schlafen. Natürlich musste man dann reflektieren und viel Wissen abrufen, über die Dinge, die man beim Schlafen versäumt hatte.
Ein Beispiel für eine dieser Breschen, die wir geschlagen haben: Wir haben etwas mitgebracht von der Gruppe „Emerson, Lake and Palmer“, die hatten eine elektronische Version von Mussorgskys Pictures at an Exhibition eingespielt. Das durfte man mitbringen und es wurde vorgespielt, weil es von Mussorgsky war, und dann war da eine Einspielung auf einem Moog-Synthesizer von verschiedenen Bach-Stücken, die Platte hieß Switched on Bach, und auch das durfte man vorspielen. Obwohl der Synthesizer ein Teufelsinstrument war, schlimmer als Mord oder Totschlag, und die Musik ruiniert hat, aus Sicht der klassischen Musiker. Obwohl es moderne Musik schon gab in der schulischen Welt, war es noch eine Zeit, in der noch ganz viel aus dem 19. Jahrhundert hochgehalten wurde. Wenn man also auf dem Synthesizer Bach spielte, war das okay, das ging grad noch, aber das waren Schallplatten und Schallplatten waren unermesslich teuer.
Auf dem Weg hierher habe ich mich erinnert, wie unsere Schultaschen ausgeschaut haben und ich hatte keine Idee mehr, wie meine Schultasche aussah. Wir hatten keine Schultaschen, sondern Army-Taschen. Das waren Umhängetaschen, die ein ganz langes Band hatten. Es waren original amerikanische Militär-Taschen, in denen, ich weiß jetzt nicht, Munition oder irgendwas in der Art transportiert wurde. Sie eigneten sich hervorragend zum Transport immens teurer Schallplatten. Und es war ganz wichtig, auf diese Army-Taschen mit Kugelschreiber die Namen der Lieblingsgruppen draufzuschreiben: The Who, Deep Purple, Pink Floyd, ELP, das hieß Emerson, Lake and Palmer. Ein bisschen weniger beliebt waren Uriah Heep und The Rolling Stones. Kann man sich gar nicht vorstellen, Bob Dylan hat überhaupt niemanden interessiert, das war nicht rockig genug.
Ein wichtiger Teil der Schule war, sich minutiös über diese Dinge zu unterhalten, über bestimmte Rocknummern. Irgendjemand hatte eine Schallplatte mitgebracht und die ist dann im Kreis gegangen, wurde eine Woche verborgt an die und eine Woche an den, und ist dabei natürlich immer schlechter geworden, zerkratzer. Aber man konnte sich in dieser Woche die gesamte Magie der Rock-Gruppe einverleiben und war Teil einer Geheimgesellschaft.
Haben sich Beziehungen oder Freundschaften aus dieser Zeit erhalten?
Wir machen manchmal Maturatreffen. Eigentlich alle 10 Jahre. Niemand plant es, weil es sehr kompliziert ist, die Namen, die Adressen wiederzufinden, aber es gibt erstaunlicherweise immer wieder jemand, der es organisiert. In meiner Erinnerung findet das alle 10 Jahre statt, und da treffen alle zusammen. Das Interessante bei diesen Maturatreffen ist, dass sich nichts geändert hat. Nichts. Also wer mit wem gut ist. Es ist wie damals in der Schule, es hat sich nichts geändert. Nur sind alle älter, dünner oder dicker, also älter im Sinne von körperlich älter geworden. Auch die Lehrer. Das einzige, was sich ein bisschen verändert, und das hab ich seltsam in Erinnerung, ist die Tatsache, dass die Lehrer ihre – ich kann es nur so sagen, wie ich es jetzt sagen werde – ihre Dämonie verlassen haben und Menschen geworden sind. Weil diese Hierarchie nicht mehr da ist. Das ist sehr angenehm. Die unangenehmsten Lehrer werden plötzlich zu lieben, netten Menschen. Es muss also das System sein, dass das mit uns macht oder gemacht hat, dass wir manche Lehrer fürchteten. Das ist ein interessanter Bericht: Die Furcht vor Lehrern. Es gab Furcht.
Wir haben ganz am Anfang über den Schüler Gerber gesprochen. Ich glaube, dass das ganz gewiss keine Schrift war, die Lehrer selbst empfohlen hätten, das wurde eher illegal gelesen, weil das Buch ja vom Verhältnis von Schülern und Lehrern handelt. Es handelt vom missgünstigen und dämonischen Lehrer, Gott Kupfer genannt, und es spielt in der Wasagasse, der Torberg hat seine eigenen schulischen Erinnerungen in einem Roman verarbeitet, ich glaube es war der erste, mit dem er überhaupt bekannt geworden ist. An das erinnere ich mich, das haben wir uns illegal besorgt, wussten aber nicht, dass es in der Wasagasse spielt, ja, das hat uns niemand erzählt. Es steht auch nicht im Buch. Aber sobald man gelesen hat, wie die Architektur der Schule beschrieben wird, diese kleine Gasse, auf die wir jetzt blicken, die Türkenstraße, die eigentlich eine Gasse ist, im Vergleich zur Hörlgasse, die eine Straße ist. Die ist abschüssig, und das haben wir sofort erkannt. Und auch die Beschreibung der Schule, also der Dämonie, die manche Lehrer, oder die Macht, die sie hatten.
Und dann komme ich wieder zurück zu diesem Ausgeliefertsein, das ich erst in der Schule kennengelernt habe. Das hat mir nicht gut gefallen. Ob das mit der Zeit zu tun hat, oder ob das noch alte Echos waren aus einer Zeit, die es gar nicht mehr gab? Was ich eigentlich glaube, dass nämlich Schule in einem technischen Sinn konservativ ist, also eine Gesellschaft, die draußen nicht mehr existiert, noch bewahrt. Sie ist eigentlich eine Nacherzählung anderer Zeiten, wofür es ja auch Gründe gibt, denn man kann ja die Zukunft nicht besprechen, sie hat ja noch nicht stattgefunden.
Politische Agitation war immer verboten. Was ich heute miterlebt habe, dass in der Klasse diskutiert wurde über Klimawandel, das hätte man ja auch damals schon machen können, war ja damals auch schon ein Thema. Vielleicht gab es progressive Lehrer, die das versucht hätten, so ein bisschen aus einem eigenen Antrieb. Ich kann mich erinnern an einen Zeichenlehrer, der hat uns beigebracht hat wie Filmen geht, aus eigenem Interesse, das war nicht vorgesehen.
Es hat ja auch nicht Zeichnen geheißen, sondern Bildnerische Erziehung. Da gab es noch so ein Wort, Werkerziehung hieß das. Werkerziehung für Knaben und Werkerziehung für Mädchen. Dass Mädchen da vielleicht lernen, wie man eine Zange benützt oder Laub sägt, oder umgekehrt Buben, es hieß damals Buben und Mädchen, nicht Knaben und Mädchen, Buben und Mädchen waren die Ausdrücke. Also es gab seltsame Wörter aus vergangener Zeit, Buben und Mädchen, und Buben haben sich heimlich nähen und stricken beigebracht, und Mädchen heimlich Werkzeuge benützt. Das war nicht vorgesehen.
Was aber überhaupt nicht verhindert werden konnte war, dass sich Liebe und Verliebtheiten eingestellt haben, und das war eine ganz wichtige Sache. Es war kein Ventil, sondern alles durchdringend, noch mehr als die Müdigkeit. Verliebtheit und das Verhältnis der Geschlechter waren bestimmend und durchdringend. Auch Verliebtheiten in Lehrer und Lehrerinnen waren bestimmend. Anders als heute haben da auch Beziehungen stattgefunden, von denen alle wussten. Mit Schwangerschaften, von denen alle wussten. Man wusste es, hat aber so unter der Hand gesagt, dass die in der Siebenten, weißt eh, von wem die schwanger ist. Weniger Kinder waren von einander schwanger, vielleicht ein Hinweis darauf, wie weit Beziehungen gegangen sind. Aber es waren immer zwei, drei Mädchen in der Siebenten oder Achten schwanger. Ja, heute wäre das undenkbar.
Ich kann mich erinnern, dass die Schulschikurse für die Lehrer, eigentlich für die Turnlehrer, unglaublich anstrengend waren. Erstens haben sie ihre eigenen Pantscherln auf den Schulschikursen mit den anderen Lehrern gehabt. Turnlehrerinnen und Turnlehrer konnten dort sehr viel machen, was sie zu Hause nicht gemacht haben. Die Kinder hätten das vielleicht auch wollen, so ab der 3., 4. Klasse, aber da wäre der Turnlehrer der Vormund geworden. Nein, er hätte tatsächlich Schuld getragen an der Schwangerschaft, und er hätte Alimente zahlen müssen. So wurde es erzählt, ob das stimmt oder nicht müssen Jus-Historiker beurteilen. Aber das war ganz präsent und auch die Frage: Wer geht mit wem?
Da gab es manchmal, das ist wahrscheinlich heute auch noch so, Show Cases. Das „Gehen“ war eher die Proklamation von einem Verhältnis. Man hat gefragt: „Gehst du jetzt mit mir?“ oder „Ich würde gerne mit dir gehen“. Dann hat man gesagt: “ Wir gehen jetzt miteinander“, aber das hat überhaupt nichts beinhaltet. Über die Sachen, die schon schärferer Natur waren, ist weniger gesprochen worden. Da hat man gespürt, oh da ist was Ernstes, aber es hat nicht „ernst“ geheißen, es gab dazu keine Begrifflichkeiten.
Die sind „zusammen“?
Nein, das hat man auch nicht gesagt. „Miteinander gehen“ habe ich ganz deutlich in Erinnerung. Wahrscheinlich war das Sprechen darüber tabuisiert, aber man hat es gewusst. Man hat es auch vor allem gewusst, wegen der sogenannten Partys. Es gab immer irgendwelche Eltern, die einen Wochenendurlaub gemacht haben, und dann wurde dort sofort Party gemacht. Das war das Wichtigste überhaupt, und Party war fast jede Woche, natürlich immer am Wochenende. Und diese Wohnungen wurden ausgiebig verwüstet. Wichtig war, dass man dort schmusen konnte, „schmusen“ war ein Wort. Damit hat sich ja überhaupt erst das Sprechen über Sexualität in der Gesellschaft etabliert. Was die Eltern an sexueller Befreiung durchmachten, konnte man auf kleiner Ebene gleich mitmachen.
Es hat nur eine Angst gegeben. Die vor Schwangerschaften. Man hat nicht gesagt „vor ungewollten Schwangerschaften“. Maximal haben Mütter davon gesprochen, dass verhütet werden solle, vielleicht auch vereinzelte Väter. Man hat gesagt: „Geh in die Apotheke, die werden dir schon sagen, wie das geht.“ Das war etwas, das Familien nicht miteinander besprochen haben. Das haben auch Kinder nicht miteinander besprochen. Ich kann mich aber schon erinnern, dass wir in Biologie „aufgeklärt“ wurden, nur waren wir schon alle davor aufgeklärt. Niemand wurde wirklich aufgeklärt, es war eher eine Art Bekanntmachung, dass man jetzt offiziell in dem Alter sei, in dem man aufgeklärt werden solle, obwohl, wie gesagt alle schon aufgeklärt waren. Vorher hätte man es ja nicht verstanden, die Körpersäfte nicht zuordnen können und sich nichts unter dem Begriff „Geschlechtsmerkmal“ vorstellen können. Es war sozusagen der Schritt vom kindlichen ins Erwachsenenalter. Der war radikal, nur hat niemand Pubertät dazu gesagt. Das gab es nicht, das Wort. Man war Kind und dann war man eine Frau, aber auch das hat niemand so gesagt. Sexualität wurde nicht in Sprache gegossen.
Ich erinnere mich, dass es trotzdem Momente gab, in der 6., 7. Klasse, wo es Simulationen von Fernseh-Gesprächsrunden gab, sowas wie eine Art Club 2 für die Schule. Da wurde gesprochen über Sexualität, und da war ich mal eingeladen bei so einer Gesprächsrunde als Teilnehmende und habe mich selbst gewundert, wie gut es mir gelang, über Sexualität so zu sprechen, wie man über Buntstifte redet. Ganz normal die tabuisiertesten Dinge zu besprechen. Da ist mir selber aufgefallen, wie normal mir etwas war, was offenbar davor nicht normal war. Das muss aber mit der Gesellschaft insgesamt zu tun gehabt haben.
Wichtig war es auch, in Filme zu gehen. Das Kino war noch eine Form von, nicht Refugium, sondern Paradies, ein Ort, an dem man ganz weit wegreisen konnte. Das kann man sich heute kaum vorstellen, weil es so wenig Kinos gibt, und Film nicht mehr so präsent ist. Aber ins Kino zu gehen und Filme anzuschauen, das waren große Expeditionen, und ganz wichtig. Es gab auch im Umkreis von hier mehrere Kinos.
Eine eminente Erfahrung vergaß ich zu erwähnen: Schulschwänzen war eine ganz wichtige Sache. Da gab es doch gerade eben eine Debatte, ob man bei dieser letzten Demonstration, die glaub ich diesen Freitag war, wo es drum ging, dass Schüler entweder nur unter Erlaubnis ihrer Klassenvorstände oder zusammen hingehen durften. Das Hingehen galt als unentschuldigtes Fernbleiben. Und der Minister hatte davor auch eindrücklich gewarnt, man sah so richtig, wie er sich windet, eigentlich gefällt ihm das eh ganz gut, merkte man, andererseits kann er es nicht zugeben, weil der Minister von einer rechten Regierung sowas nicht gutheißen kann. Also jedenfalls nicht, wenn es um die Natur geht.
Zurück zu unserer Schulzeit. Das Managen von Schulschwänzen war damals ganz wichtig. Es war eine richtige Managementaufgabe. Erstens: Wo? Wann? Mit wem? Wie lange? Das waren die wichtige Fragen. Und: Kann ich es mir leisten? Man war dann plötzlich, überraschend krank bei einer Schularbeit, aus dem Nichts, hat hohes Fieber gehabt – das Thermometer wurde zwischen den Händen gerieben, oder auf die Heizung gelegt (im Sommer ging das natürlich nicht), und da hat man dann spontan Fieber bekommen und musste zu Hause bleiben.
Meine Eltern haben diese Spiele gar nicht mitgemacht, ich habe nur gesagt, „ich kann heute nicht, ich bin so fertig, ich will heute nicht“. Das Schulschwänzen war eingeteilt in zwei ganz unterschiedliche Bereiche: Zuhause bleiben, oder Schulschwänzen und Wegbleiben – das hat in Wien „Schulstangeln“ geheißen. Das Zuhause bleiben war aber sehr lohnend, weil man das Vormittagsfernsehen sehen konnte. Was könnt ich werden? war eine wichtige Sendung. Im Radio gab es Sendungen von Walter Richard Langer über ganz besondere Jazzsachen. So war es also eine Zeit der Ausbildung, wenn man zu Hause geblieben ist. Russisch gabs auch schon, aber das Schichtarbeiterfernsehen wurde zum Großteil von uns Kindern geschaut. Und die haben das schon ganz gut hingekriegt. Also, dass man dann vor dem Fernseher geklebt ist, das war das Schulschwänzen zu Hause.
Das öffentliche Schulschwänzen bestand darin, ins Kaffeehaus zu gehen. Es gab noch mehr Kaffeehäuser hier in der Gegend, eins in der Türkenstraße, nein in der Berggasse, es hieß Café Liechtenstein, da ist jetzt eine Pizzeria drinnen oder ein Chinese. Dann gabs in der Kolingasse das Votivcafé, das ist jetzt irgendeine Art Bistro. Das waren eigentlich die beiden. Das wichtigere war das Café Liechtenstein, und dorthin sind auch Lehrer hingekommen, und interessanterweise haben die dazu geschwiegen. Meistens sind sie hingekommen mit irgendeiner anderen Lehrerin. Das waren immer illegale Pantscherl von Lehrern. Die haben gewusst, dass sie nicht verraten werden, wenn sie sich dort zeigen, und wir, dass wir nicht verraten werden.
Ich erinnere mich, dass das auch mit Geld zu tun hatte. Denn man konnte nicht in ein Kaffeehaus gehen ohne zu konsumieren, und wir waren ja immer zu viert oder zu fünft. Man hat gewusst, es ist sicher jemand anderer Schulstangelnder auch da, man hat bestellt ein Achtel Soda und eine Mannerschnitte. Damit konnte man drei, vier Stunden zubringen. Kaffee hat niemand getrunken, das war kein Getränk damals. Ich erinnere mich aber, dass es Kinder gab, die schon Alkoholiker waren. Sogar in der Unterstufe, und wo man auch gemerkt hat, dass die besoffen waren, sich davor irgendwo ein Bier besorgt haben. Wir haben nicht so genau gewusst, was da los ist, aber sie haben gesagt, „ja ich habe mir jetzt ein Bier eineghaut“. Das war so ein komischer, sehr seltsam entrückter Zustand.
Rauchen war auch ganz wichtig, um dabei zu sein. Es gab ein Raucherkammerl in der Schule, es war der zentrale Kommunikationsort, die Keimzelle, nein nicht Keimzelle, sondern das Herz der Schule, und es hat bestialisch gestunken dort. Es war völlig zugenebelt, aber es waren alle Wichtigen da, und da wurden die wichtigen Bücher mitgebracht und ausgetauscht.
Es war wichtig, ein Buch in der Jackentasche zu haben. Ein ganz bestimmtes, zum Beispiel Sartre, irgendetwas von Sartre, oder irgendwas aus dem Suhrkamp Verlag oder irgendwas aus dem Residenzverlag, um zu sagen: „Das lese ich gerade.“ Steppenwolf von Hesse, oder Siddhartha, das waren die wichtigen Bücher. Also überhaupt, Hermann Hesse hat eine so unglaubliche Wichtigkeit gehabt in dieser Zeit. Ich versteh noch immer nicht, warum das so war. Aber ich erinnere mich, wie ich das gelesen habe, es war wunderbar! Der Hesse ist einer von uns, war das Gefühl, und Steppenwolf nicht nur ein Buch, sondern die Musik der Band Steppenwolf. Das war keine berühmte Combo, aber diese Kombination eines Hermann-Hesse-Buchtitel und wilder Rockmusik hat beide legitimiert. Die Band Steppenwolf lieferte ja auch die Musik für den Film Easy Rider. Mit Hermann Hesse verbunden war also die verbotene, gesuchte Welt.
Oder das Glasperlenspiel, das war so undurchdringlich, ein unglaublich dickes Buch, fünfmal so dick wie Siddhartha und viermal so dick wie Steppenwolf. Ach, haben wir das geliebt! Das musste man lesen, und ja, es gab zwar Philosophieunterricht, aber das waren lauter fade Leute, die Philosophen. Nichts was man in Philosophie gelesen hatte, konnte man ins Raucherkammerl als Literatur mitnehmen. Und nichts was man im Musikunterricht gehört hatte, hätte man als Schallplatte mitgenommen.
Wichtig war auch die Schulband. Im Festsaal hat an bestimmten Nachmittagen die Schulband ein Konzert gegeben. Das war unfassbarer Krach. Unfassbar laut und progressiv. Ich habe vergessen, wie die Bands hießen, hab aber selber in einer gespielt und war Teil dieser Wirklichkeit ab der fünften und sechsten Klasse. Als ich noch jünger war, waren das richtige Götter, die Menschen mit Stromgitarren. Es gab da oben in der Alserstraße ein Musikgeschäft, es hieß „For Music“, und ich erinnere mich, dass ich, obwohl ich müde war, jeden Tag ins „For Music“ gegangen bin und mir die Stromgitarren angeschaut und sie bewundert habe. Ärger als in einem Zuckerlgeschäft bewundert habe. Es hat eine religiöse Verzückung gegeben, anders kann man es gar nicht beschreiben.
Es gab diese Vermischung von Sinnlichkeit, von Liebe und Verliebtheit und Sexualität und Fremdbestimmung und Zeitmanagement und Erkenntnisgier. Ich war schon sehr gierig darauf, zu verstehen, wie die Welt funktioniert. Ich habe es eingangs schon gesagt, die Schule hat es nicht immer ganz verstanden, diese Gier zu stillen. Sie hat sie oft zugedeckt mit falschen, oder unbrauchbaren Hinweisen und das hat mich sehr, sehr traurig gemacht. Aber ich habe kein Ventil gehabt dafür. Es gab welche, die dann in der sechsten, siebten Klasse aufgehört haben. Die haben einfach aufgehört, sie haben gesagt: Ich habe keine Lust mehr. Es hat sich meistens angekündigt durch viele Fehlstunden, oder Haschischrauchen, durch eine Art von Interesselosigkeit.
Auch mir wurde attestiert, ich sei rauschgiftsüchtig. Ich habe aber weder geraucht noch Alkohol getrunken, oder irgend sonstwas genommen. Ich war nur „auf Musik“. Für mich war Rockmusik so wichtig, und ich habe meine Müdigkeit mit Schulschwänzen bekämpft. Das ist mir als Drogensucht ausgelegt worden. Mein Vater war sehr entsetzt, er musste mit mir ein Gespräch über Drogensucht führen. Empfehlung des Professors. Mein Vater war aus einer noch viel älteren Generation, gewissermaßen vormodern, für ihn waren Drogen irgendwie nicht real. „Was ist eine Droge? Sowas gibts ja gar nicht!“ Für ihn war das gar keine Bedrohung, also hat er mit mir eigentlich nur technisch geschimpft: „Du musst das mit deinem Klassenvorstand regeln, weil ich habe keine Lust für diesen Blödsinn. Sag, dass du das nicht machst und damit ist es erledigt.“ Und die, die wirklich geraucht haben, sind unentdeckt und unbetreut geblieben und haben ihre Schulkarriere hingeworfen. Interessanterweise sind die Mädchen, die schwanger waren, durch die Schwangerschaft nicht aus der Schule geflogen. Also weder selbst noch durch Fremde, die hatten dann einfach Kinder zu Hause. Also ich kann mich nicht erinnern, dass sie ihre Schulkarriere beendet hätten.
Und wie hat ihr Alltag ausgesehen?
Der Alltag war minutiös durchstrukturiert. Es gab einen Stundenplan, es war alles auf die Minute planbar, es gab kaum ein Entkommen. Ich erinnere mich, dass ich mir manchmal einen Samstag weggezwickt habe und diese unfassbare Freiheit genossen habe, dass ich an einem Samstag in die sogenannte „Stadt“ gehen kann, um dort, ich weiß nicht, irgendwelche Auslagen anzuschauen. Das wäre ansonsten nicht gegangen, als Schulkinder waren wir nicht in der Welt draußen. Wir waren eigentlich eingefangen, ich versteh schon, warum das notwendig ist und dass das auch nicht anders geht, aber es war ein Gefühl des Eingesperrtseins, und das Studieren hat das behoben. Aber das war ein Teil einer komplexen Erzählung, das eine hat das andere bedingt. Diese Karotte war immer vor der Nase: Wenn du die Matura schaffst, wird alles gut. Alles wird gut.
[Gab es sonst noch Zukunftswünsche?]
Niemand hat gesagt: „Ich heirate“. Vielleicht ist das erst später gekommen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass irgendjemand einen sogenannten Ehewunsch gehabt hätte, im Gegenteil. Sexualität war eh präsent, das hat man also durch die Ehe nicht bekommen. Kinder sind halt passiert, und man ist dann halt lieb zu den Kindern, hieß es, und kümmert sich um sie. Wenn wirklich irgendwelche ehemaligen Schulkolleginnen oder -kollegen geheiratet hätten, hätte man sich gedacht: „Was ist denn da passiert, irgendwas stimmt da nicht mit denen!“ Das war weder ein Ziel noch ein Wunsch noch irgendeine Art von realistischer Hoffnung, weder für Knaben noch für Mädchen, aber, und jetzt kommen wir zu etwas, was trotzdem sehr seltsam klingt.
Es gab nur eine sehr überschaubare Studienauswahl. Im letzten Jahresbericht musste man jeweils bekanntgeben, was man vorhätte zu studieren, und ich habe mir das genau angeschaut, weil ich nicht wusste, was man da schreibt. Man kann ja nicht hineinschreiben: Rockmusikerin oder Jazzpianistin oder irgendwas in der Art. Da ist dann immer gestanden, in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeiten: Jus, Medizin, Pharmazie, Lehramt, Architektur. Aus. Mehr gab´s nicht. Lehramt war sehr, sehr wichtig. Ich würde meinen, ein Drittel aller Maturierenden, die hießen damals alle „Maturanten“, hat gesagt: Lehramt! Das hat zwar nicht gestimmt, aber Lehramt galt als ganz wichtig. Es haben ja alle, die in der Schule unterrichtet haben, ich glaube, es waren 90%, selber Lehramt studiert. In der Hierarchie war es weiter unten. Wenn man keine Idee hatte und nichts konnte: Jus. Vielleicht Jus und dann heiraten, oder Jus und dann Richter. Also solche Sachen.
Und Ihre eigene Wahl, wie ist die zustande gekommen?
Ja, ich habe in meinen Jahresbericht hineingeschrieben: Architektur. Ich wollte eigentlich Philosophie studieren und Kunst, das wäre ein Doppelstudium gewesen, und das ist nicht gegangen, denn diese Kombination war nirgends vorgesehen. Also musste ich auf der Uni zwei Fächer belegen. Das ist heute absurd, aber ich musste auf der Uni zwei Fächer belegen. Eines, das mich interessiert hat, und eines, das mich zumindest nicht ganz abgestoßen hat. Gleichzeitig war ich auch noch auf der Akademie der Bildenden Künste. Diese Kombination war völlig undenkbar, und daher ist es auch nicht gegangen. Ich musste mich also entscheiden. Wo sie mich lieber gehabt haben, das war auf der Kunstakademie, denn da hatte ich eine Aufnahmeprüfung machen müssen. Der Prozentsatz derer, die dort nicht hineingekommen ist, war sehr hoch. Diese Chance wollte ich nicht gehen lasse, dass ich da reingekommen bin.
Später im Leben habe ich mir dann die Uni dazugeholt, mehr oder weniger als Wiedergutmachung einer schändlichen Verletzung, die mir das System angetan hat. Das hat sich bis heute durchgezogen, wie man ausgebildet sein muss, damit man in diesem System, das damals in den Siebzigerjahren implantiert wurde, als vollwertiger Mensch gilt. Das ist sehr komisch. Also, dass ich dem nicht entkommen konnte. Niemals. Weil die Flucht ist ja auch nur eine Flucht vor etwas. Sie steht in Beziehung zu dem, wovor man flieht. Ja, und das, glaube ich, habe ich schon immer erkannt, nur konnte ich es nicht immer überwinden. Und seltsamerweise ist es nie weggegangen. Eine Zeit lang konnte ich diesen Ort hier, die Schule, nicht besuchen. Mir war das Gebäude so widerwärtig, dass ich Beklemmungen bekam. Das ist nach ungefähr fünf, sechs Jahren vergangen. Der Ort selber war für mich belastet. Jetzt ist natürlich alles völlig weg, jetzt ist es hier romantisch für mich und lustig und schön.
Als mein Neffe Maximilian gymnasial eingeschult wurde, den ersten Schultag hier hatte, ich glaube das war sogar in der Klasse, in der wir heute gemeinsam waren, da habe ich zu seiner Lehrerin gesagt: „Ich bin auch vor vierzig Jahren in diese Schule eingetreten, und es ist, als ob es gestern gewesen wär.“ Und da hat sie gesagt: „Vor vierzig Jahren war ich noch nicht geboren!“ Da ist mir aufgefallen, wie die Zeit sich verschiebt. Früher war ein Jahr eine Welt, und vor zehn Jahren gab es Menschen hier, die mir erzählten, sie seien erst auf die Welt gekommen, als ich Matura gemacht habe. Das ist alles irgendwie so verschoben, weil ja mein Ich und meine Erinnerungen nicht weg sind, sondern noch immer ganz frisch und ganz da. Der Kalender hat mit einer rasenden Geschwindigkeit die Zettel heruntergezupft und auf einmal werden aus den Jahren fünf und dann zehn und dann zwanzig. Wohin ist die Zeit marschiert? Sehr komisch, sehr, sehr, sehr komisch.
Ich hätte Sie dann noch gerne noch zu [einem Teil Ihres jetzigen] beruflichen Wirken interviewt. Mein Sohn und ich haben uns eingehend mit Ihren Karikaturen beschäftigt und uns natürlich köstlich amüsiert, glauben Sie uns wird das Lachen im Hals stecken bleiben?
Hoffentlich nicht! Ich nenne sie ja nicht Karikaturen, sondern einfach nur politische oder satirische Zeichnungen. Aber das hat mit meinem Begriff von politischer Karikatur zu tun. Mir gehts weniger darum, das Gesicht eines Herrschers bis zur Kenntlichkeit zu entstellen, sondern darum, eine uns allen bekannte Situation zu beschreiben. Das Lachen ist ja nur ein Lachen über etwas Bekanntes, das Lachen liegt ja sehr nahe bei der Trauerarbeit. Wir lachen über Dinge, die eigentlich gar nicht lustig sind. Ich bin ganz gegen jede Lustigkeit. Je ernster etwas ist, desto genauer kann man es mit den Mitteln der Satire darstellen. Es ist nicht meine Absicht, dass uns das Lachen je vergeht. Denn das Lachen ist nur unsere Methode das Weinen zu überkommen. Eigentlich sind die Sachen tragisch.
Ich bin sehr optimistisch. Geschichte wiederholt sich nicht. Das ist meine Erkenntnis. Früher hat man gesagt, Geschichte wiederholt sich, aber die Geschichte wiederholt sich nicht. Wir müssen Angst haben vor den Dingen, vor denen wir keine Angst haben. Es gibt andere Entwicklungen, die wir vielleicht gar nicht erkennen, in denen wir schon drinnen stecken, über die wir jetzt gar nicht lachen. Das ist das Eine, dass wir das vielleicht gar nicht erkennen können, wo die Gefahren sind. Oder dass wir die falschen Sachen als Gefahr erkennen. Und die andere Erkenntnis, weswegen ich Optimistin geblieben bin, ist die, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Es gibt ja dieses Diktum von Marx, demnach sich Geschichte das erste Mal als Tragödie, und das zweite Mal als Farce ereignet. Das heißt, wir lachen eigentlich über Dinge, die wir schon bewältigt haben.
Also der Rechtspopulismus in Europa kann Sie nicht mehr schrecken?
Nein, davor habe ich keine Angst. Es wird auch wieder vergehen. Das ist irgendwie eine gesellschaftliche Erektion. Trump ist eine unfassbare Klamaukfigur, aber ich glaube nicht, dass er den roten Knopf drücken wird. In den Siebzigerjahren hätte man gesagt, der wird den Atomkrieg entfesseln. Es gibt keinen roten Knopf. Dieser Koffer ist ein James-Bond-Utensil, den gibt es nicht.
Und die Codes für die Atomraketen gibt es auch nicht. Warum kann ich das sagen? Weil es, wenn es diese Mechanismen gäbe, schon passiert wäre. Also, das gibt es nicht, das sind Surrogate, die uns erzählt werden, damit wir das Gefühl haben, es gibt Symbole, die das ausdrücken. Die Macht gibt sich ein Symbol, in Wirklichkeit ist es ganz anders.
Aber mir hat das gut gefallen, dass die Schüler (ich weiß nicht, wie das in der Wasagasse war) gerade eben auf die Straße gegangen sind, um für ihre Zukunft zu demonstrieren. Das habe ich außerordentlich gut gefunden. Ich finde auch wichtig, dass sie erleben, dass es verboten ist. Das klingt paradox. Dass jemand sagt, machts das nicht, ist sogar wichtiger, als dass es alle erlauben, oder es begünstigen, weil eine Demokratie, wenn sie in Gefahr ist, muss immer gegen die Gefahr gerettet werden. Ich hätte plädiert, dass man es ein bisschen mehr verbietet. Dass das sehr viele waren, ist eine starke Hoffnung, weil die Generation davor nicht sehr viel demonstrieren ging, und die sind jetzt gerade regierend. Also die Generation Kurz und Blümel. Deren Ventil sich auszudrücken ist der Machtapparat. Wenn sie aber vorher mehr gegen die Macht ankämpfen hätten müssen, mit Aufstand, oder mit Schulschwänzen, dann wäre es jetzt nicht notwendig, die Macht so auszukosten. Aber das sind jetzt schon wieder politische Sachen, und um die Frage abschließend zu beantworten, ob uns das Lachen im Hals stecken bleiben wird: Es soll überhaupt nichts im Hals stecken bleiben.
Welchen Rat, welchen Tipp, oder welche Botschaft würden Sie gerne unseren 18jährigen Schulabsolventinnen und -absolventen geben?
Ich habe gar nicht so viele Finger an den Händen wie Ratschläge, die ich geben könnte. Aber ich sage trotzdem: Das Bild mit den Händen ist ganz gut, weil die Finger gehören zu einer Hand. Wir haben zwar zwei Hände, aber nur einen Körper. Die Finger sind nicht nur Finger, sondern es gehört alles zusammen. Eine Sache ist: Alles wird besser, alles wird wieder gut. Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis. Wie schlimm auch immer etwas ist, es wird wieder gut. Die Guten gewinnen. Die Geschichte zeigt das auch: Die Guten gewinnen. Vorher gewinnen die Bösen, aber die Guten gewinnen, und die Guten sind besser als die Bösen. Das ist wichtig.
Die zweite Erkenntnis: Lass dir nichts gefallen, aber wähle deine Mittel klug.
Und das Dritte ist: Alle scheitern, auch du.