Aufnahme und Auswahl – Dissertation

Aufnahme und Auswahl
1.1. Vorwort

Aus: Dusl, Andrea Maria: Aufnahme und Auswahl – Strategien fotografischer Praxis, Dissertation, Universität für angewandte Kunst Wien, Wien, 2014, S. 7f.

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In der vorliegenden Arbeit wird erstmals versucht, Auswahlprozesse im Medium Fotografie zu verstehen. Wie Fotografierende Bilder machen ist bekannt, weil das Fotografieren zur semiotischen Praxis des Alltags gehört und selbst die künstlerisch-professionelle Fotografie weitgehend öffentlich stattfindet, sich gewissermaßen auch als öffentlich inszeniert. Das Aufnehmen von Bildern bedingt in Hinblick auf deren Veröffentlichung deren Auswahl. Ist doch die Möglichkeit, Selektionen zu treffen (mehr als in den meisten anderen künstlerischen Feldern) ein materialinhärenter Wesenszug der Fotografie. Wie aber wählen Fotografen aus? Nach welchen Kriterien bevorzugen sie ein Bild gegenüber dem anderen, wie verdichten sie aufgenommenes Material?

In der Auseinandersetzung mit der dialektischen Beziehung, in der Aufnahme und Auswahl von Fotografien stehen, tauchte die Frage auf, ob es in Bezug auf die Erzeugung von Lichtbildern und deren späterer selektiver Verdichtung eine Strategie des Vorgehens gibt und wenn ja, ob sich dabei mehrere, unterschiedliche erkennen ließen.

In sieben dokumentarisch gefilmten Interviews mit österreichischen Fotografinnen und Fotografen – Lukas Beck, Hertha Hurnaus, Manfred Klimek, Erich Lessing, Ingo Pertramer, Lisl Ponger und Peter Rigaud – gelang es, tiefe Einblicke in künstlerische Praxis zu gewinnen und ein breites Spektrum fotografischer Arbeit zwischen Portraitfotografie, inszenierter Fotografie und Reportage auszumessen. Die sieben Film-Interviews fanden jeweils unter der Prämisse statt, Antworten auf die Frage zu erhalten, wie Fotografinnen und Fotografen Bilder auswählen, wie also aus fotografischem Material ausgesucht wird. (Alle in dieser Arbeit behandelten Bilderserien waren unter dem Aspekt der Veröffentlichung entstanden).

In den Interviews zeigte sich, dass es so etwas wie einen ideal isolierten Auswahlprozess nicht gibt, dass der Prozess des Auswählens dialektisch mit dem Prozess des Aufnehmens verbunden ist – ja dass das Aufnehmen selbst, wie es Henri Cartier Cartier-Bresson in seinem 1952 erschienenen Essaywerk ‘Images à la sauvette’ (‚Der entscheidende Augenblick‘) formulierte, ein Auswahlprozess ist, der bereits stattfindet, wenn Fotografierende durch den Sucher blicken* (und abdrücken, sei hier ergänzt).

In der Analyse der sieben für diese Arbeit geführten Interviews zeigen sich Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten in apparatetechnischer, materiallogistischer und archivalischer Hinsicht, große Unterschiede jedoch in Hinblick auf Strategien des Fotografierens und die damit verbundenen Selektionsprozesse betreffend. Auch in der Qualität der Planung, der Geschwindigkeit des Vorgehens, in Fragen der Zielgerichtetheit und vor allem in der Art und Weise wie Fotografierende und Fotografierte miteinander kommunizieren, unterscheidet sich die fotografische Praxis der sieben Interviewten deutlich voneinander.

Vorangestellt ist dem analytischen Korpus dieser Arbeit ein Einleitungsteil, in dem der fotografischen Selektionspraxis solche aus anderen künstlerischen Felder zu Seite gestellt werden, sodann eine Erörterung des Kontaktbogens, jenes Mediums, auf dem traditionell der fotografische Auswahlprozess stattfand (und teilweise noch stattfindet) sowie ein Kapitel über Formen fotografischer Beziehungen, also dem Verhältnis, in dem Fotografierende und Fotografierte zu einander stehen und stehen können.

Für den Verstehensversuch eines so komplexen holistischen Feldes wie dem der Selektion in der Fotografie musste eine eigene Methode entwickelt werden. Diese steht in Weiterentwicklung dokumentarischer Interview-Traditionen Alexander Kluges und bedient sich des Film-Interviews mit mobiler Handkamera als primäres Verstehensmedium. Das gewonnene Material wurde in der Folge einem textlichen, in der Tradition Diltheys stehenden hermeneutischen und unter Einbeziehung methodischer Aspekte ‚Szenischen Verstehens‘ nach Alfred Lorenzer einem detektivisch-analytischen Verstehensversuch zugeführt.

Textliches Hauptstück der vorliegenden Arbeit ist einerseits die Verschriftung des filmisch-dokumentarischen Materials, das in Form der Original-Film-Interviews als Kern und integraler Bestandteil dieser Arbeit anzusehen ist, andererseits die Extrapolierung von sechs unterschiedlichen fotografischen Strategien in der Dialektik von Aufnahme und Auswahl. Diese werden in den Kapiteln ‚Das Schütteln des Kaleidoskops‘, ‚Der Fang‘, ‚Die Jagd‘, ‚Die Inszenierung‘, ‚Serendipity‘ und ‚Das Glöckchen des Kairos‘ vorgestellt.

Der Bildteil umfasst die Abbildungen der im Rahmen der Film-Interviews gezeigten und besprochenen Fotografien. Im Anhang befinden sich Datenträger mit dem Kern dieser Arbeit – den sieben ungeschnittenen Original-Interviews. Diese sind als zentraler Verstehensversuch dieser Arbeit anzusehen.


* Vgl. Cartier-Bresson, Henri: Der entscheidende Augenblick. In: Stiegler, Bernd (Hrsg.): Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart, 2010, S. 198f.