Vom Heidln und von den Häuten

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 45/2025 vom 5. November 2025

Liebe Frau Andrea,
vor ein paar Tagen hörte ich einen Ausdruck, den ich zuletzt in meiner Jugend hörte, und die ist schon lange her. Von zwei älteren Damen schnappte ich diese Worte auf: „soiche Heita“. Es war niemand in der Nähe deshalb weiß ich auch nicht worauf sich diese Worte bezogen. In meiner Jugend war das ein abwertender Ausdruck für junge/freche Mädchen/Frauen. Woher kommt das „Heita“? Von Haut/Häuten oder von heiter (fröhlich)?
Mit freundlichen Grüßen,
Wilhelm Ockermüller, per Email

Lieber Wilhelm,

ich darf Sie in Ihrer Erinnerung bestärken, dass sich das Gehörte auf selbstbestimmte junge Frauen und Mädchen bezieht. „Soiche Heita“ (solche Häute, in der wienerischen Mehrzahlform: Häuter) dürfen wir richtigerweise als „Heida“ transkribieren. Das Wienerische, und hier insbesonders seine benennungsreiche gaunersprachliche Variante kennt neben Baa (Bein, Mehrzahl Baana, Beine) den Ausdruck Haud (Haut), oft auch sein Diminuitiv Heidl (Häutchen) für die Arbeiterin am Felde der käuflichen Liebe. Die Myriade an anderen, meist entwürdigenden Bezeichnungen für Frauen und Mädchen wollen in der heutigen Beantwortung unbeachtet bleiben. Trotz der patriarchalen Umstände, in denen die Begriffe Haud, Heidl, Heidln, Heida zirkulierten, ist nicht an das geschlechtsspezifische Hymen oder Jungfernhäutchen zu denken, und auch nicht an die Haut als sensitives Organ und Körperoberfläche, sondern an ein spezifisch wienerisch-österreichisches Verb, das „heidln“, soviel wie schlafen. Oftmals wird es in die Kindersprache gestellt, wo „Heia“ das Bett und den Schlaf bezeichnen, und das in dem Wiegen- und Einschlaflied „Heidschi Bumbeidschi Bumbum“ berühmt wurde. Gehen doch zärtliche Wiener·innen mit Schlaf- und Ruhebedürfnis „heidi“ oder „heidschi“ machen. Dass vor dem Einschlafen das Beischlafen erfolgt, zumindest in Fällen partnerschaftlicher Möglichkeiten, ist indes kein Wiener Spezifikum. Woher aber kommt die „Heia“? Ihr Wortursprung ist noch nicht hinreichend verstanden. Aus dem Dunkel unserer Sprachgeschichte leuchtet entfernt die indoeuropäisch erschlossene Silbe *kei-, ‘soviel wie liegen, schlafen. Gelte es noch, das „Bumbum“ aus dem Wiegenlied zu deuten.


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Novembermischung

Der Nebelmonat zieht mit drei ungleichen Feiertagen in den Jahresendspurt. Erst stürmt das keltisch-amerikanische Verkleidungsfest Halloween durch Kassenregale und Schulklassen – mit Kürbisallerlei und Kostümwirrwarr, dann dämpft uns die bedrohlich-vertraute Düsternis der Friedhöfe. Allerheiligen und Allerseelen sind die vorletzten Großkampftage der Blumenhändler (die letzten sind den Adventskränzen und Mistelzweigen vorbehalten!)

Die Bäume werfen ihr leuchtendes Laub ab, farbbegeisterte zücken Skizzenhefte und Buntstifte (oder das postingbereite Handy), aber allzugerne möchte man es den Platanen, Ahornen und Buchen gleichtun und Schlechterlebtes, Bedrückendes, Verwelktes abstoßen. Der Preis, den wir für dieses Unvermögen bezahlen, ist wertvoll und heißt Erfahrung. Melancholische Begabungen kehren in die Sicherheit der Innenschau zurück, sortieren Erinnerungen und Hoffnungen, Frohnaturen sammeln sich in der Geselligkeit.

Mit einiger Berechtigung darf der November als Zeit der Verwirklichung gelten, niemand stiehlt unerlaubt Energie, keine Weihnachtsfeier wimmert nach Aufmerksamkeit, der Jahresabschluss droht erst später. Die Wirtshäuser braten Martinigansln und dämpfen zungenfärbendes Rotkraut. Die Freund·innen des Stadtspaziergangs wärmen Hände und Geschmacksknospen an heißen Esskastanien vom Maronibrater, und salzig-knirschenden Erdäpfelscheiben. Verwegene suchen schon die ersten Glühweinstände auf, um sich ins Vergessen zu stürzen. Faschingsbeginn ist ausserdem, von findigen Kalenderartisten auf den 11.11. 11 Uhr 11 gelegt. Sekundenzähler fiebern der fünften elf entgegen.

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten am 1. November 2025.

Wie geht’s?

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 44/2025 vom 29. Oktober 2025

Liebe Frau Andrea,
auf der Spazierrunde für meinen Podcast „AgehWIRKLICH“ im Gespräch mit Ihnen kam eine Frage auf: Warum fragen wir einander „Wie geht es Dir?“ und nicht „Wie sitzt es Dir?“. Wie und warum hängt das mit dem Wort „gehen“ zusammen, und hat es etymologisch/generisch überhaupt etwas mit „gehen“ als Bezeichnung der menschlichen Grundfortbewegungsart zu tun? Ich bitte um Aufklärung und freue mich auf Ihre Antwort!
Beste Grüße,
Lisa Sophie Steiner, per Email

Liebe Lisa Sophie,

Spitalserfahrene kennen die paternalistische Frage: „Na, wie geht’s uns denn heute?“ Gestellt wird sie in aller Regel von Primarien und Oberärzt·innen im Beisein der klinischen Entourage. Größer könnte der Gegensatz zwischen liegenden Patient·innen und der hochmobilen Morgenvisite nicht sein. Und dennoch steckt in der Floskel die Hoffnung auf körperliches, nicht selten auch seelisches Wohlergehen. „Es geht“, antwortetet dann der eine, die andere, im Falle fortschreitender Genesung mit „Es geht schon besser“. Auch in der lapidar-distanziert entbotenen Alltagsfrage „Wie geht’s?“ steckt die unverhohlene Glücksaussicht, der, die Befragte sei bestens auf den Beinen, wiesle geradezu leichten Fusses durch die Gegend, das Schaffen, die Besorgung, den Problemäther.

Das Gehen hat sich (zumindest im Deutschen) in einer Vielzahl von Wendungen sedimentiert. Ab dem vierzigsten Geburtstag gehen wir auf die Fünfzig zu, Schulden gehen in die Milliarden, weil Manipulationen daneben gingen. Vorher gingen die Dinge drunter und drüber, verbunden mit der trügerischen Forderung, dies und das „müsse gehen“. Selten gehen Sachen klar, meist von statten und oft verloren, manchmal und schließlich auch kaputt. Im Komplikationsfall fragen Zweifelnde, ob sie recht gingen in der Annahme, Planende gehen schwanger mit einer Idee, Abziehende gehen von dannen, Flatulente lassen einen gehen. Eine geradezu groteske Wörtlichkeit beschreibt den Zustand innerer oder äußerer Verwahrlosung –  das Sichgehenlassen. Wir schließen mit einem luziden Wiener Witz. „Wie geht’s?“ fragt der Schasaugerte den Hatscherten. „Siechst eh!“.


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Schwammerls Name

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 43/2025 vom 22. Oktober 2025

Liebe Frau Andrea,
der Herbst ist da, und damit auch die Pilze. Besonders wohlschmeckend sind die Eierschwammerl, die (zumindest) bei uns im Burgenland auch „Rehling“ genannt werden und in Deutschland unter Pfifferling bekannt sind. Uns würde interessieren woher das Wort „Rehling“ kommt, und auch, warum gerade dieser Pilz so viele verschiedene Namen hat.
Liebe Grüße,
Marc Schuh und Eva Gsertz, per Email

Liebe Eva, lieber Marc,

Cantharellus cibarius, der Echte Pfifferling ist den meisten Österreicher·innen als Eierschwammerl bekannt. Die lateinische Bezeichnung (und damit die in vielen romanischen Sprachen) ist die Verkleinerungsform zu „cantharus“, dem urprünglich griechischen „kántharos“, Becher, und nimmt Bezug auf die Form des Fruchtkörpers, das, was wir gemeinhin als Hütchen bezeichnen. Alleine im deutschen Sprachraum zirkulieren dutzende verschiedene Bezeichnungen für den beliebten und häufig zu findenden Speisepilz. Die Gründe für diese Vielfalt sind noch nicht hinreichend erforscht. Auf die Farbe nehmen die Namen Dotterpilz, Eierleistling, Eierpilz, und wie schon erwähnt Eierschwamm, Eierschwammerl, und das schweizerische Eierschwämmli Bezug, sodann Gelchen, Gähling, Gehling, Gelbchen, Göbn, Gelberle, Gelbhänel, Gelbling, Gelbschwammerl, Gelb- und Goldöhrchen, und Marillenschwamm. Wegen seiner Form (und Farbe) heißt der dottergelbe Pilz Nagerl, Gänschen, Gänsel, Rehfüßchen und Schweinsfüßerl. Auf den angenehm pfeffrigen Geschmack beziehen sich die schon erwähnten Bezeichnungen Pfefferling und Pfifferling, Pfefferpilz und Pfefferschwamm.

Für die von Ihnen bevorzugte Benennung „Rehling“ referieren die Etymologen auf die Beobachtung, nach der an jenen Stellen, wo Eierschwammerl wachsen, häufig Rehe gesichtet werden. Das scheint der Ursprung für die Bezeichnungen Recherl, Reherl, Rilling, Rehling, Röllchen, Rehgaißl, Rehgoaß, und Goasrehling zu sein. Auch ein anderer Waldbewohner wird in der Nähe der gelben Schwammerl gesichtet, was die Bezeichnung Füchsling erzeugt hat. Im Tschechischen gibt es für beide dasselbe Wort, nämlich liška, ebenso im Slowenischen, wo Fuchs und Schwammerl Lisička heißen.


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Die neuen Herbstfarben sind da

Wer „in der Wolle gefärbt“ ist, so das leicht angestaubte Sprichwort, sei „unverfälscht und überzeugungstreu, charakterlich zuverlässig“, neuerdings gar „durch und durch: echt“. Ein strammer Rechter etwa, ein unverbesserlicher Marxist, ein wirklicher Liberaler. Das klingt nach genetischer, zumindest aber nach politischer Disposition, will die Unumkehrbarkeit der persönlichen Prinzipien bezeichnen (und gelegentlich auch desavouieren). Dabei irrt das Sprichwort. „In der Wolle gefärbt“ beschrieb ursprünglich den Vorgang des Färbens der Wolle vor der Weiterverarbeitung zu Garn für den Webstuhl. Wurde die Wolle statt des fertigen Tuchs gefärbt, nahm sie die Farbe besser auf und galt als farbecht. Das Weben farblicher Muster, von Karo, Glencheck, Hahnentritt, oder der schottischen Tartanmuster wäre ohne das vorherige Färben der Wolle nicht möglich. Genausowenig wie die farbliche Opulenz orientalischer Teppiche.

Zurück zum Sprichwort. Wirkliche „Färbung in der Wolle“ würde die Naturfarbe des Vlieses bezeichnen und nur die Schattierungen zwischen Weiß, Grau, Braun und Schwarz umfassen. Der Färbevorgang, der das Sprichwort ursprünglich auslöste ist ein gänzlich künstlicher, selbst wenn er mit vorindustriellen Naturfarbstoffen vorgenommen wurde. Bleiben wir in der Metapher, ist jede ideologisch-politische Färbung immer eine künstlich vorgenommene, wenn auch nachhaltige, jedenfalls keine zufällige.

In den Webstuhl der Gesellschaft eingespannt sind damit auch wollgefärbte Fäden Teil eines komplexen Ganzen.

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten am 18. Oktober 2025.

Kramurikunde

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 42/2025 vom 15. Oktober 2025

Liebe Frau Andrea,
gestern stand ich in meinem Keller, umgeben von Kramuri, und war etwas verzweifelt. Wie hier wieder Ordnung reinbringen, fragte ich mich. Woher kam dieser Krimskrams? Und da erinnerte ich mich an jenes charmante Wienerlied der Gebrüder Marx mit eben jenem Namen. Kramuri! Da stecke das Wort Amor drinnen, so die Autoren. Stimmt das? Hat Amor etwas mit dem Krempel in meinem Keller zu tun?
Mit freundlichem Gruß,
Oskar Kotzinger, per Email

Lieber Oskar,

Kramuri, Gramuri, die Ansammlung von brauchbaren und unbrauchbaren Dingen kann viel mit persönlicher Liebe zu tun haben, von Amor, dem pfeilschießenden Liebesgott und dem zugrundeliegenden lateinischen Zeitwort „amare“, lieben, kommt es nicht. Sprachen frühere Generationen von dem oder der Kramuri, zirkuliert das Wort heute meist im Neutrum: Das Kramuri. Manche wollen es von „rumoren“ ableiten, andere sehen in der Endsilbe „uri“ entfernte rumänische Echos. Zwei Wörter sind in Kramuri zusammengeflossen: Der Kram (wie wir ihn auch vom Verkäufer desselben, dem Krämer kennen) bezeichnete ursprünglich die Zeltdecke, die Plane, die Marktbude, unter der die Händler ihre Ware feilboten. Später erweiterte sich die Bedeutung auf das verkaufte Kleinzeug selbst. Das andere Wort in Kramuri ist der schon spezifisch Wienerische „Murer“ oder „Muara“. Dieser soll von „mualn“, „muarn“ (schimpfen) kommen, eine Entlehnung aus dem mittellateinischen „murmurare“ (murmeln, murren, brummen, knistern).

Die dann doch sehr wienerische Liebe zum Unbrauchbaren, Weggelegten, Angesammelten hat eine ganze Reihe von Ausdrücken und Bezeichnungen etabliert. Dínef, von hebräisch „tinūp“ Verschmutzung, und jiddisch „Dinnef“, ist die schlechte Ware. Glumpad (Gelumpe) ist ebenfalls das wertlose Zeug, verwandt mit den Lumpen. Graffe (Geräffel) ist der wertlose Kram, das funktionslose Werkzeug, Grempe (Krempel) das Gerümpel, von italienisch „comprare“, kaufen. Tschintschalweach schließlich ist das Flitterzeug, der Tandelkram, von italienisch „gingillo“ (ausgesprochen dschíndschíllo), soviel wie Nippes, und Weach, Werg, wertloses Zeug. Amors Pfeil triff auch dorthin.


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Über das Überhochmetzen

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 41/2025 vom 8. Oktober 2025

Liebe Frau Andrea,
in Klaus Nüchterns Besprechung des neuen Romans von Ian McEwan bin ich über das Wort „überhochmetzt“ gestolpert. Können Sie mir sagen was es bedeutet? Es ist wohl kein Wort der aktuellen Jugendsprache, handelt es sich vielleicht um ein altes, jetzt ungebräuchliches Wort, mit dem der Autor seine Bildung demonstrieren möchte?
Mit herzlichen Grüßen,
Paul Weber, Margareten, per Email

Lieber Paul,

Kollege Klaus Nüchtern hat Ihr Stolperwort, wie er mir offenbart hat, vor vielen Jahren aufgeschnappt. Wo, weiß er nicht mehr, insoferne ist die Vokabel kein Ausweis übertriebener Bildungsprominenz. Sehen wir uns die Sache durch die etymologische Brille an. Die Bedeutung des Wortes umfasst die Synonyme exaltiert, hochtrabend, überkandidelt, pompös, aber auch besserwisserisch, neunmalklug und oberschlau. Es darf daher als gelegen erscheinen, „überhochmetzt“ in Buchbesprechungen und Plattenrezensionen zu verwenden. Ob das, seit den Nullerjahren beliebte Adjektiv „hochgejazzt“ ein Abkömmling von „hochgemetzt“ ist, muss noch erforscht werden. Der Wortbestandteil „metzen“, soviel wie schlagen, hauen, wäre verwandt mit „meißen“ (schneiden, stückweise abtrennen) und Meißel, noch bewahrt in Steinmetz und in Metzger. Dennoch kommt „überhochmetzt“ nicht aus dem Deutschen. Zudem ist nicht klar ist, ob das Adjektiv das Partizip Perfekt von „überhochmetzen“ oder von „hochmetzen mit dem neuerdings in den USA beliebten Präfix „über“, „uber“ ist.

Seit dem biblischen Hebräisch ist das feminine Substantiv „hokmá“ (Geschicklichkeit, Kunde, Weisheit) belegt. Es wurde als chochme, chochmo ins Jiddische integriert. Kochme, meist ironisch verwendet, ist der Verstand, die Weisheit, die Kunst, die Klugheit, und der kluge Ausspruch, die kluge Tat. Kuchem indes der siebengescheite, kluge, schlaue, aber auch eingebildete Mensch. Kochmetzen, hochmetzen ist daher wohl das Klugscheißen.

Das Wienerische metzt weder hoch noch überhoch, sondern máschald auf (mascherlt auf) und schdátsd auf (von mittelhochdeutsch stärzen, steif emporragen) – im galoppierenden Klugheitsfalle ówagscheid (obergescheit).


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Blöde Hüte bald
auch in Österreich?

Noch bis in die auslaufenden Jahre des letzten Jahrhunderts zählten Herren mit Hut zur öffentlichen Normalität. Der Insult „Hutfahrer“ war betagteren Männern aus der Kriegsgeneration zugedacht, die ihre Sonntagsausfahrt mit aufgesetztem Schmalkremper antraten. Am Land, insbesondere bei den Traktorfahrern hielt sich der österreichische Hut am längsten. Mittlerweile ist er (fast) ausgestorben, Hippster mit Haupthaarlichtung greifen zum Pork-Pie-Hut, auf Kirtagen begegnet man noch dem Trachtenhutträger, im Kulturfuzzibereich hält sich die gehäkelte Jazzmütze. DJ-Ötzi hat die seinige aber schon eingemottet.

Aus US-Amerika schwappt nun die galoppierende Verwendung der Baseball-Kappe zu uns, die erst in den 1940ern zu ihrer jetzigen, steifen Form fand, um schlappere Modelle zu ersetzen. An der richtigen Biegung des Schirms arbeiteten Baseball-Spieler und ihre Fans lange und ausgiebig. Heute machen das Maschinen in China.

Der prägende Kulturbotschafter der Baseballkappe interessierte sich im Studium für die genuin amerikanische Schlagball-Sportart, und brachte eigensportliche Trage-Erfahrungen mit. Aber Donald Trump geht es um die Baseball-Mütze als Symbol amerikanischer Werte. Dass er die Kappe für Hip-Hopper und Rapper nachhaltig desavouiert, ist ein Nebeneffekt. Wie andere Hüte kaschiert der Schirmhut Frisurprobleme und Bad-Hair-Days. Wie so oft in der Geschichte der Mode laden Potentaten ihren Stil mit Bedeutung auf. Der Siegeszug von Trumps Hut unter Politikern und Führungspersonen wird kaum aufzuhalten sein.

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten am 4. Oktober 2025.

Larger than lasch

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 40/2025 vom 1. Oktober 2025

Liebe Frau Andrea,
in der Nachschau eines Club 2 zum Thema Lucona aus dem Jahr 1989 bin ich auf den Begriff „Laschieren“ gestoßen: Ein Privatdetektiv hat seine typischen Kundenaufträge geschildert, darunter auch das Ertappen von Arbeitnehmern beim Nichtstun (Detektiv: „Sie kennen diesen Ausdruck, Laschieren“ – Moderator nickt). Scheinbar war dieser elegante Ausdruck damals noch weitläufig in Gebrauch, ich hörte ihn aber das erste Mal. Handelt es sich dabei um die aktive Anwendung der Laschheit oder ist „largieren“ französelnd? Gilt der Ausübende dann als Largeur? Natürlich frage ich für einen Freund. Und Zusatzfrage: Gibt es eine inhaltliche Abgrenzung zum (geläufigeren) Tachinieren?
Liebe Grüße aus der Leopoldstadt,
Martin Mairinger, per Email

Lieber Martin,

unser Ausdruck ist bestes altes Österreichisch, es zirkulierte im Amtsdeutsch, wo laschieren (ausgesprochen: laschían) das zögerliche, verschleppende Agieren bezeichnete. Am Fußballplatz wurden die antriebslosen Tachnierer und Freunde des Scheiberlspiels des Laschierens bezichtigt. In der Sprache der Kartenspieler versteht man unter „laschieren“ den Verzicht auf das Stechen einer niedrigen Karte im Wissen, dass der Gegner eine höheren Karte ausspielen wird, die dann einen fetteren Stich ergibt. Einige Deuter mobilisieren unser Eigenschaftwort lasch (abgestanden, schal, flau, fad) als Herkunft, der Wienerisch-Influencer Peter Wehle hat es in seinem Wörterbuch fälschlich vom französischen „large“ (weit, offen, großzügig) abgeleitet. Andere mobilisieren das lateinische „largire“ (reichlich geben, spendieren, schenken) und das gleichbedeutende italienische Verb „largīri“.

Nach bester Prüfung aller Thesen darf als beste Herkunft des Laschierens der Jargon der Kartenspieler und die Sprache Voltaires gelten, wohnt doch dem französische Zeitwort „lâcher“ eine der Bedeutungen inne, um die es uns hier geht. „Lâcher une occasion“ bedeutet im Französischen, sich eine Gelegenheit entgehen lassen. Geklärt ist damit die Schreibweise und die Frage nach dem Lascheur, den das heutige Französisch als „lâcheur“, Drückeberger kennt.


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Berufe

Da werde ich gefragt, in Fragebögen und für Kurzbiographien, welchen Beruf ich denn wohl hätte, und die Antwort fällt schwer, weil ich keinen Beruf habe. Ja, aber Sie müssen doch einen haben, kommt es dann, und sogar in mir schallt es leise, als Reflex auf den gesellschaftlichen Bekenntnisdruck. Sagen Sie etwas. Dann sage ich: Ich denke nach.

Dennoch hier eine Liste. So bin ich, in eigener oder fremder Zuschreibung:

Achilla
Architekturbewunderin
Art Directrice
Asporina
Atheistin
Ausstatterin
Autorin des Unendlichen Panoramas
Bibliothekarin eines Handapparats
Buchbinderin
Bühnenbildnerin
Comandantina beim Bureau für Information Wiederbeschaffung
DJane
Doktorin der Philosophie
Drehbuchautorin
Empirikerin der Vorzukunft
Essayistin
Feuermacherin
Flâneuse
Forscherin zu Riten in Räumen
Freischaffende Sozialdemokratin
Gitarristin
Greenlighterin
Großssekretärin
Hermeneutikerin
Information Wiederbeschafferin
Inkompetenzkompensationskompetente
Instrukteurin
Jachin-und-Boasologikerin
Kolumnistin
Komplizin
Kulturwissenschaftlerin
Magistra Artium
Malerin
Maschinenmaria
Maschinistin
Meisterin vom Stuhl
Nachdenkerin
Österreichkundlerin
Papierblumenmacherin
Past Master
Photographin
Plakatdesignerin
Poetin
Pythia
Realisatrice
Regisseurin
Reisende
Rhizomatische Enzyklopädistin
Romanautorin
Sammlerin
Satirikerin
Schülerin
Sezierkundige
Sporadikerin
Super-Recognizerin
Transzendentalbelletristikerin
Universitätslektorin
Verbündete
Viennologin
Wirkungshistorikerin
Wortvulkan
Zeichnerin
Zirkusprinzessin

 

 

 

 

Tschutschalatkunde

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 39/2025 vom 24. September 2025

Liebe Frau Andrea,
im Steirischen an der Kärntner Grenze geboren und aufgewachsen interessiert mich die Herkunft des Ausdrucks „tschutschalat“. Meine Großmutter und auch jetzt noch meine 92jährige Mutter verwendeten dieses Wort für gesundheitlich nicht auf der Höhe zu sein. In etwa vergleichbar mit einen grippalen Infekt, wenig Appetit und am besten das Bett zu hüten. Auffällig erscheint mir: am besten nicht angesprochen und in Ruhe gelassen zu werden.
Meines Erachtens ist lautschriftlich „tschutschalat“ eher dem Kärntnerischen zuzuorden. Was meinen Sie?

Liebe Grüße,
Monika Köck, Wien 13, per Email

Liebe Monika,

bei vielen Wörtern aus Dialekten und Mundarten fehlen rechtschreiberische Autoritäten. Es gibt (noch) keinen Duden des Kärntnerischen, Steirischen, Wienerischen. Ungeschrieben Gehörtes unterwirft sich lokalen Ausspracheregeln, ja ändert sich, bisweilen von Tal zu Tal, Hof zu Hof.

Das Eigenschaftswort „tschutschalat“, „dschudschalad“ findet sich in keiner der verlässlichen Publikationen. Wohl aber sehr ähnliche Wörter. Kärntnerisch „Tschouder“, „Tschùder“, in Verkleinerung „Tschöderle“, „Tschüderle“ war noch im vorvergangenen Jahrhundert das zerzauste, buschige Haar. Wer „tschoudred“, „tschûdret“ war, hatte solch unordentliches Haar. Ein „Tschàderlang“ war jemand mit zerzausten Haaren, „tschoudern“, „tschûdern“ hieß, jemand bei den Haaren zu reißen, was sich im heute noch in Kärnten gebräuchlichen Ausdruck „Tschodahex“ für die ungepflegte Frau, aber auch abwertend für die Friseurin sedimentiert hat. „Tschutten“ ist das Schütteln, schaudern. Das Allemanische schließlich kennt „ertschūdert“ für verwirrt, übel aussehend, besonders in Hinblick auf kranke Vögel, die das Gefieder sträuben. Die wenigen Sprachforscher, die sich der Sache angenommen haben, vermuten, dass die dialektale Wortfamile „tschu“, „dschu“ durch Einschiebung eines „d“ aus schauern (mittelhochdeutsch schūren) entstanden ist, und ursprünglich das Gefühl bezeichnete, das die Berührung einer rauhen, rohen, kalten Oberfäche hervorrief. Von dort zum fröstelnden Gefühl des appetitlosen Krankseins ist es sprachlich nicht mehr weit. Gesundheit!


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Die beliebtesten Österreicher aller Zeiten

Fast hätte er es in das Pantheon Österreichs geschafft, aber der Mann vom Hauslabjoch, vor etwa 5200 Jahren mit einem Pfeil im Rücken erfroren, lag bei seiner Auffindung 1991 in Südtirol, und damit auf italienischem Staatsgebiet. Wäre Ötzi 93 Meter weiter, im heutigen Österreich liegengeblieben, wäre er zum berühmtesten Österreicher geworden. Schon wegen der Kumulation der Ös in Ötzi, Ötztal und Österreich. Dass sich Berühmtheit hierorts stets mit Beliebtheit paart, wusste auch Partysänger Gerry Friedle zu nutzen. Als DJ Ötzi stieg er leichtfüßig in den Schlagersternenhimmel auf.

Historische Beliebtheiten aus den diversen Berühmtheitslisten verteilen sich regional, in Tirol wird der Nationalheilige Andreas Hofer verehrt, in der Steiermark Erzherzog Johann, in Salzburg der Wolferl und nächtlich-still abgeschlagen Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber. Kärnten laboriert noch am Nachlaß der untergegangenen Sonne, Wien setzt fremdenverkehrsbedingt auf das Kaiserpaar Franzl und Sisi, und den Walzerkönig Strauß. Die anderen Bundesländer sind zu ober, zu vorarl oder zu burgen für österreichweit bekannte Landeslieblinge. Bleiben die prägenden Größen der Politik. Staatsvertragsunterzeichner Figl und Watchlistpräsident Waldheim. Beide Niederösterreicher.

International gesehen sieht die Sache anders aus. Österreichs Beleibtheitsbotschafter kennt die Welt von der Leinwand: Die singende Großfamilie Trapp, amerikaweit weltbekannt aus dem Musikfilm „Sound of Music“. Dicht gefolgt von der Steirische Eiche, Governator Arnie, und Tarantino-Bösewicht Christoph Waltz.

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten am 20. September 2025.

Die rätselhaften Tschinnäula

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 38/2025 vom 17. September 2025

Liebe Frau Andrea,
jetzt stehe ich mit 60 in dem alten Stadl, den ich sanieren möchte und bin verdutzt. In meinem Kopf ist ganz klar, wie es werden soll, doch meine Hände folgen den planerischen Vorgaben sehr selten. Seltsamerweise bin ich mit dem Alter nicht geschickter geworden und auch nicht stärker. Das Handwerk ist schwierig mit zwei linken Händen und mangelnder Kraft. Für manche Aufgaben bräuchte es richtig starke Männer, die ordentlich was weiterbringen. Richtige Tschinnäula. Aber nachdem ich nicht einmal weiß, wie man das schreibt, werde ich auch schwer welche finden. Können Sie mir bezüglich der Bedeutung des Wortes weiterhelfen?
Herzlichst und müde,
Ingo Fellinger, per Email

Lieber Ingo,

leider kann ich keine richtigen „Tschinnäula“ zur Stadlsanierung vorbeischicken, wohl aber wird es gelingen, Licht in die Herkunft und die Schreibweisen der starken Männer bringen. Aufs erste wäre man versucht, an die Wiener „Tschinelle“ zu denken, die beidseitige Watsche (oder Stereo-Ohrfeige), mit breiten Handflächen appliziert. Die Tschinelle erfährt ihre Wörtlichkeit vom gleichlautenden marschmusikalischen Schlaginstrument aus zwei tellerförmigen Beckenscheiben. Die italienischen cinèlli oder cinèlle, ursprünglich in der Janitscharenmusik verwendet, sind eine Abkürzung von bacinello, kleines bacino, Becken.

Sind die Tschinnäula also schlagbereite Marschmusikanten? In den österreichischen Industriegebieten zirkuliert neben Tschinnäula, Tschineller, Tschineuler insbesondere der Begriff Tschinagler. Damit wurden und werden die Schwerstarbeiter in der Stahlindustrie, die Bergmänner und sonstige kräftige Männer bezeichnet. Manche Wörterbücher bemühen das ungarische „csinál“ (machen, anfertigen) als Herkunft der Tschinagler. Tatsächlich kommt unser Begriff, wie so vieles, aus dem Rotwelschen, wo „Schinagole“ den Karren, Schubkarren bezeichnet. Die Etymologie vermutet das hebräische „schin“, akronymisch für schlimm, schlecht, und āgālāh (Wagen) als Urprung des Wortes. Mit „schlimmer Wagen“ wurde der Schubkarren verschlüsselt. Sein Bediener, der Schinaggier, Schinagler war der hart schuftende Karrensträfling.


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Neue Grenzen

Die Autorin dieser Kolumne verbrachte ihre Kindheit am geographischen Mittelpunkt Österreichs. Dieser befindet sich, wie die Plakette eines Gedenksteines nachzuweisen versucht, im Kurpark des idyllischen Sommerfrischortes Bad Aussee.

Schon im Klassenzimmer, 15 Gehminuten vom österreichischen Mittelpunktgeschehen entfernt wurde es radikaler, regionaler. Der Heimatkundeunterricht sollte vom Österreichischen ablenken, in dem er das Steierische mobilisierte. Die Landeskultur, das Eigentliche. Diese trat uns in Form einer Figur entgegen, die der Volkschullehrer als Umriß des Bundeslandes präsentierte. Das Land, in dem wir uns befanden war also ein Umriß. Eine Linie. Die Grenze. Alles innerhalb der seltsamen Linie war Steiermark, alles außerhalb war Anderland, fremd, fern. Nun ging es ans Verstehen. Wie sah es aus, das Innere? Der Lehrer teilte das Steirerland diagonal (er sagte „schräg“) in zwei Hälften. Nun hieß es, die Buntstifte zu zücken, die hektograpierten Blätter vor uns zu füllen. Die linke obere Steiermarkhälfte sollten wir braun anmalen (der Lehrer sagte „hellbraun“), die rechte untere gelb. Zehn Färbelminuten später ging es an die Beschriftung unserer ersten Karte. Braun, sagte der Lehrer, das sind die Hörndlbauern, gelb, das sind die Körndlbauern. Die Trennlinie war mit dem Lineal gezogen, es gab nur Entweder-Oder.

Noch heute, weit weg vom volkschulischen Heimatgeschehen in der Grünen Mark, kann ich jederzeit nächtens mit der Frage aufgeweckt werden, wo ich denn sei. Schlaftrunken werde ich antworten: „Hörndlbauerland, braun, links oben!“

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten am 13.September 2025.

Wien darf nicht Österreich werden!

Welchen Ursprung hat die Bezeichnung „Patzenlippel“? Wieso sagt man eigentlich, „der hod a Bankl grissen“, wenn jemand stirbt? Seit über 30 Jahren schreibt Andrea Maria Dusl für den Falter eine Kolumne, seit 24 Jahren heißt diese „Fragen Sie Frau Andrea“. Darin klärt Dusl über die Bedeutung und den Ursprung von Wiener Redewendungen auf. Doch Dusl, 64, ist viel mehr als nur eine Kolumnistin: Sie ist Künstlerin, Filmemacherin, Schriftstellerin, Kulturwissenschaftlerin – und ein absolutes Wiener Original. Nun hat Dusl gleich zwei neue Bücher veröffentlicht. In einem hat sie Essays über das Kolumnen-Schreiben zusammengetragen, und das zweite Buch trägt den Titel „Die Wiener Seele in 100 Antworten“. Aber was ist die Wiener Seele überhaupt? Stadtleben-Redakteurin Lale Ohlrogge hat das nach zehn Jahren in Wien immer noch nicht verstanden – und sich deshalb mit Dusl zu einem Interview getroffen.

in FALTER 37/25 STADTLEBEN, 10. September 2025, pagg. 40ff.

INTEGRATIONSKURS: LALE OHLROGGE

Lale Ohlrogge, Falter: Was ist an deiner Seele besonders wienerisch?

Dusl: Ich glaube, es ist eine besondere Art von Grant. Also eine Fröhlichkeit, die sich darin erschöpft, nicht fröhlich sein zu müssen. Eine Form von wahrhaftiger Ehrlichkeit: nicht zu lächeln, weil es nichts zu lächeln gibt.

Also authentisch sein dürfen – meinst du das?

Dusl: Na ja, manche sind authentisch, wenn sie dauernd grinsen. Im Englischen gibt es den Ausdruck resting bitch face, also ein schlecht gelaunter Gesichtsausdruck. Ich habe das – deswegen habe ich auch quasi ein Fernsehverbot vom ORF. Ich werde nur ins Radio eingeladen. Aber zurück zum Wienerischen: Ich glaube, an mir ist auch besonders wienerisch, dass ich nicht ganz wienerisch bin.

Wie meinst du das?

Dusl: Eigentlich bin ich ja Ausländerin. Meine Mutter war Schwedin, mein Vater kam aus Graz, und wir hatten nichtösterreichische Verwandte aus ganz Europa. Wienerisch ist nicht an die Geburt in Wien gebunden. Die ersten zehn Minuten, die du am Westbahnhof ankommst, verwienern dich.

Ist Wienerisch-Sein eine Entscheidungssache?

Dusl: Nein, es ist Schicksal. Es ist eine Sache, die dir zustößt, ohne dass du es beabsichtigst. Ich bin Wienerin. Ich bin Europäerin, aber keine Österreicherin. Früher gab es einmal ein kleines Wiener Kaffeehaus, das Salzgries. Heute heißt es Le Salzgries. Zu Beginn der Haider-Ära stand unten bei den Toiletten ein Spruch, der alles über Stadt und Land sagt: Wien darf nicht Österreich werden.

Was ist denn an Österreich so schlecht?

Dusl: Österreich ist zu klein. Zu Zeiten der Donaumonarchie war es groß und wirkmächtig …

Andrea Maria Dusl, 64, hat eine schwedische Mutter und einen österreichischen Vater. Heute sagt die Kulturwissenschaftlerin und Expertin des Wienerischen, dass sie den Dialekt in ihrer Kindheit wie eine Fremdsprache lernen musste. Mittlerweile
kennt sie fast jede lokale Redewendung, und wenn sie einmal ratlos ist, schlägt sie in ihrer großen Lexika-Bibliothek nach

… Es war ein Melting-Pot, wie eine kleine EU – politisch nicht okay, es war größtenteils eine Militärdiktatur, aber es war ein großes Land mit vielen Einflüssen. Und die sind alle hier in der Metropole Wien zusammengekommen. Aber das umliegende Österreich, die Kronländer damals, konnten das nicht leisten. Sie waren immer Provinz – das ist auch gut, aber eben nicht Metropole. Wien und das Wienerische sind ja immer noch geprägt von all diesen internationalen Einflüssen von einst.

Aber in deinem Buch gibt es auch Beispiele, die zeigen, wie das Wienerische immer wieder auch den politischen Zeiten unterlag. Ich habe mich schon häufiger gewundert, warum sich manche Leute mit dem Wort „Mahlzeit“ begrüßen. Ich fand das immer befremdlich – bis ich in deinem Buch gelernt habe, was für einen heldenhaften Ursprung das hat.

Dusl: Diese Begrüßung wird vor allem in Ämtern und großen Büros gepflegt. Das kommt aus der Zeit, als sich die Österreicher dem Nationalsozialismus angeschlossen haben. Sozialdemokraten begrüßten sich damals mit einem „Freundschaft“ oder „Guten Tag“. Die Katholiken sagten „Grüß Gott“. Doch die Nazis wollten, dass man sich mit „Heil Hitler“ begrüßt. Die Behörden waren damals noch stark monarchistisch geprägt, man wollte sich dem nicht beugen und benutzte stattdessen eine Formel, die im Sinne der Nazis nicht strafbar war. „Mahlzeit“ war damals eine Umgehung – und die ist bis heute geblieben.

In deiner Kolumne „Fragen Sie Frau Andrea“ beantwortest du seit unglaublichen 30 Jahren Fragen von Lesern, die wissen wollen, woher gewisse Redensarten kommen. Wie arbeitest du eigentlich?

Dusl: Ich weiß natürlich nicht alles. Aber ich habe eine enorme Bibliothek mit Lexika, und da schaue ich nach – und im Internet natürlich auch. Die meisten schauen sich bei Google nur die ersten zehn Ergebnisse an. Ich schaue mir die ersten 300 Treffer an. Einiges davon ist völlig falsch, und dann geht es darum, herauszufinden, was stimmt. Es ist wie wissenschaftliches Arbeiten, und das habe ich als Kulturwissenschaftlerin gelernt. Außerdem kenne ich viele dieser Begriffe seit meiner Kindheit. Gleichzeitig ist Deutsch nicht meine Muttersprache. Die Sprache meiner Mutter ist Schwedisch. Ich habe also ganz früh angefangen, Deutsch und Wienerisch als zwei verschiedene Fremdsprachen zu lernen. In der Volksschule wurde ich gemobbt, weil ich so seltsam gesprochen habe. Ich musste also lernen – es war eine Immunisierung gegen Mobbing.

Ich höre oft, wie sich Wiener – vor allem Eltern – beschweren, dass ihre Kinder kein Wienerisch mehr sprechen. Dass die Wiener Mundart verlorengeht und die junge Generation nur noch Hochdeutsch spricht, weil sie auf Tiktok, Youtube und Instagram deutschen Influencern folgt. Wenn ich mit jüngeren Wienern zu tun habe, höre auch ich selten einen der Ausdrücke, die in deinem Buch oder deiner Kolumne besprochen werden. Wird das Wienerische bald sterben?

Dusl: Ich glaube nicht – aber die Wahrnehmung ist richtig. Wien konnte lange kein ARD und ZDF empfangen. Wien war also sowieso später dran mit der Verhochdeutschung der Sprache als Westösterreich. Seitdem ist viel passiert. Die gemeinsame Sprache, die uns Österreicher von den Deutschen trennt, ist durch Podcasts, Tik-tok und so weiter eingedrungen. Aber ich glaube nicht, dass das Wienerische aussterben wird – genauso wenig wie die Begriffe. Denn die Menschen hören sie von ihren Eltern und Großeltern und geben sie an ihre Kinder weiter. Ich bekomme ja nach wie vor Leserfragen, die ich in meiner Kolumne beantworte. Aber im Wienerischen gibt es Veränderungen.

Welche denn?

Dusl: Zum Beispiel „Oida“. Das hat früher kaum jemand so verwendet – das ist ein Wort, das die jungen Wiener eingeführt haben. Die Jungen schaffen ein neues Wienerisch. Es gibt zum Beispiel auch das Migranten-Wienerisch. Das wird überhaupt nie verschwinden.

Ich habe auch den Eindruck, dass diejenigen, die das Wienerische am meisten bewahren und somit quasi österreichische Tradition pflegen, Migranten sind.

Dusl: Das ist ein Soziolekt, also eine Sprache, die eine bestimmte soziale Gruppe gebraucht. Es gibt viele verschiedene Wienerische, Abstufungen, die du als Deutsche vielleicht gar nicht unterscheiden kannst. Da gibt es Leute, die sich anhören, als ob sie in einem Palais aufgewachsen wären, die ganz nasal sprechen, und so weiter.

Kürzlich erschien eine Studie, in der Österreicher zu ihrer Sprache befragt wurden. Sie fanden ihre Sprache sympathischer, gebildeter und schöner als deutsches Deutsch. Ich musste über diesen Stolz und diese Heimatliebe schmunzeln. Nun möchte ich es umkehren: Was gefällt dir als Wienerin an der Stadt und ihren Bewohnern gar nicht?

Dusl: Es gibt nichts, was mich stört.

Ehrlich? Auch schön, wenn du als Wienerin nichts zu granteln hast.

Dusl: Doch, mir fällt etwas ein. Es gibt Menschen aus anderen österreichischen Gegenden, die ihre Nicht-Wienerischkeit mitbringen. Denen würde ich gerne zurufen: „Heast, beruhig di a bissl!“

Was meinst du damit? Sind die Leute vom Land besonders laut, aufbrausend und pöbeln herum?

Dusl: Es geht nicht ums Aufbrausende. Das Wienerische antwortet mit Schmäh. Die Wiener antworten auf diese Leute mit einer eigenen Weisheit, die viele nicht verstehen. Kellner haben das drauf. In guten Wiener Kaffeehäusern gibt es gute, grantige Kellner – die haben diese Attitüde. Die Ehrlichkeit ist ein Goldstandard, eine Währung. Sei ehrlich – aber sag nicht, dass es ehrlich ist.

Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.

Dusl: Ein Beispiel, ganz radikal: Wenn Amerikaner zu uns kommen, sind die immer verzweifelt, dass man sie nicht fragt: „How are you?“ Oder Deutsche, die fragen dann: „Wie geht es Ihnen heute?“ Und der Wiener antwortet: „Na ja, wie soll’s mir schon gehen?“ Mich stört nichts an den Wienern, aber die Touristen sind mir ein bisschen zu anstrengend.

Es gibt Umfragen unter Expats, also Leuten aus dem Ausland, die hier leben und arbeiten, die besagen, dass Wien seit Jahren zu den unfreundlichsten Städten gehört. Auch weil es hier schwer ist, Anschluss zu finden. Sind die Wiener Ausländern gegenüber besonders gemein und verschlossen?

Dusl: Genau umgekehrt. Die Expats könnten hier viel lernen in Sachen Wahrhaftigkeit. Es gibt viele, die sich interessieren und diese Verwienerung annehmen. Aber viele bringen aus ihren Kulturen mit, dass sie sich eine freundliche Maske aufsetzen. Und in Wien nehmen sie wahr, dass die Leute ehrlich zu ihnen sind. Ein Beispiel: Jemand hat die Nachricht bekommen, dass die Krankenkasse seine Zahnbehandlung nicht zahlen wird. Soll er dann sagen: „Ja, mir geht es wunderbar, und Ihnen?“ Das machen Wiener eben nicht. Und das erzeugt dann das Bild eines mieselsüchtigen, unfreundlichen, tragischen Wieners. Und unseren Humor verstehen sie auch nicht. Und überhaupt Expats – wie können sie sich überhaupt anmaßen, hier nur drei Jahre zu bleiben? Das ist doch eine Beleidigung für die schönste Stadt der Welt. Außerdem sprechen viele von ihnen zu laut.

Lass uns einen Zeitsprung machen ins Wien des späten 19. Jahrhunderts. Diese Zeit war sehr prägend für die Stadt. Damals hatte Wien zwei Millionen Einwohner, es war viel los. Aus dieser Zeit gibt es berühmte Illustrationen von den sogenannten Wiener Typen, also Menschen, die damals das Stadtbild geprägt haben sollen: das Lavendelweib oder der Würstler zum Beispiel. Du hast ja dein Buch selbst illustriert – und da gibt es auch Wiener Typen. Was sind denn typische Wiener Gestalten von heute?

Dusl: Eine sehr wienerische Figur ist nach wie vor der Würstelmann. Oder der Strizzi. Dann gibt es eine Figur, die man nur sieht, wenn man nachts auf dem Gürtel unterwegs ist – die sogenannte Praterfee. Eine Prostituierte, eine Sexarbeiterin.

Eine Praterfee vom Gürtel?

Dusl: Nein, die Praterfee vom Gürtel heißt natürlich Gürtelhur. Aber das ist alles schon sehr unwoke Sprache, die aber existiert oder existiert hat. Und die Praterfee gehört zum Strizzi dazu, der betreut sie.

Dann gibt es noch den Gschaftlhuber. Dem habe ich das Gesicht von Elon Musk gegeben. Auf Deutsch heißt das „Hansdampf in allen Gassen“. Es gibt auch einige Politiker, die ausschließlich gschaftlhuberisch nach oben getrieben sind. Aber da das alles substanzlos ist, fliegen ihre Gebarungen irgendwann auf – und sind erfolglos. Aber der Gschaftlhuber findet immer wieder eine neue Betätigung.

In Deutschland würde man auch „Windbeutel“ sagen. Ein Typ in deinem Buch ist mir gefühlt schon tausendfach in dieser Stadt begegnet: der Hubertusmantler mit der Attersee-Familienfrisur.

Dusl: Das kommt von Lukas Resetarits, der hat den erfunden. Das sind Leute, die am Graben verkehren, die durch die Nase sprechen und sich in schicken Lokalen aufhalten. Sie haben altes Geld, Besitz und Attitüde. Sie sind in Wien zugegen, haben aber auch Villen am Attersee, im Salzkammergut, in Altaussee. Es sind alte Familien, wo sich Großbürgertum, Schickimicki und Aristokratie vermischen. Und eines der Kleidungsstücke, die sie tragen, ist der Hubertusmantel: Er besteht aus einem grünen, filzernen Stoff, die Knöpfe sind mit einem geflochtenen Leder überzogen. Das kommt von der Jagd, aber normale Jäger auf dem Land aus Oberösterreich oder Tirol, die tragen das nicht. Es ist ein Angebermantel, der nur in Wien und Salzburg getragen wird. Aber der Hubertusmantler ist nur eine von vielen Wiener Figuren. Diese Vielfalt, auch das ist Wien.

 

O Schreck, ein Spreck!

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 37/2025 vom 10. September 2025

Liebe Frau Andrea,
Im Lokal „Roter Hiasl“ fiel mir ein Ausspruch meiner Großmutter im Jahr 1975 ein. Mein gerade geborener Bruder sollte einen Namen bekommen und ich schlug Matthias vor. Worauf meine Oma (Jahrgang 1908) abwehrend meinte: „Jeder Hiasl hot an Spregg“. Der Name kam also nicht infrage, kein Kind sollte so einen Namen tragen, da würde er ständig damit gehänselt werden. Mein Vorschlag war vom Tisch, er wurde Leopold genannt. Die Geschichte hat sich übrigens im nördlichen Weinviertel zugetragen. Jetzt bin ich gespannt, ob Sie dazu irgendetwas sagen können, was dieser Spreck oder Spregg (oder so ähnlich) bedeuten könnte?
Liebe Grüße,
Brigitta Beile, Wien Donaustadt, per Email

Liebe Brigitta,

viele Sprichwörter beginnen ihre Karriere lokal. Und manche bleiben auch dort, dem Ort verhaftet, und der Zeit ihrer Entstehung. Im Falle Ihrer großmütterlichen Namensangst gibt es dennoch reiche wortgeschichtliche Information. „Hiasl“ ist bekanntlich die bairisch-österreichische Kurzform des Heiligennamen Matthias, der, wie die Apostelgeschichte des Lukas berichtet, nach dem Tod des Judas Iskariot zum zwölften Apostel aufrückte. Wegen der großen Verbreitung unter der bäuerlichen Bevölkerung wurde „Hiasl“ zum Spottnamen für den einfältigen, unbedarften Menschen. Die sehr ähnlich lautenden Synonyme „Hiafla“ (vom Huf der Tiere), und „Hiabla“ (jemand mit Hieb, Dachschaden) haben gewiss mitgewirkt, den Rufamen Hiasl zu diskreditieren.

Wie aber kommt der Hiasl zum Spreck? Das Wort zirkulierte schon früh als Bezeichnung für den Fleck (auf der Haut oder auf dem Fell), die Etymologen leiten es von einem indoeuropäisch erschlossenen *sper- *sprei- (soviel wie streuen, säen, sprengen, spritzen) und protogermanisch *sprekla-, Fleck ab. Das Althochdeutsche kennt fleckig als „sprehhiloht“, das Mittelhochdeutsche als „spreckeleht“. Aus dem Sprëckel, Spreck wurde später der Fehler, Makel und schließlich die kognitive Behinderung. 

Der hierorts nicht mehr geläufige Spreck ist im Englischen täglich in Gebrauch. Die anglosächsische Sprachwelt bezeichnet mit „spreckle“ noch immer den ganz normalen Fleck. Der Hiasl ist dort allerdings unbekannt.


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Über das Gebenedeite

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 36/2025 vom 3. September 2025

Liebe Frau Andrea,
ich darf Ihnen im Namen meines Vaters dieses E-Mail übermitteln: Mit meinen 83 Jahren habe ich schon oft ein „Vaterunser“ gebetet. Da gibt es den Satz: „Gebenedeit sei dein Name.“ Dieses Wort verstehe ich nicht. Meine Frage: Kann ich gebenedeit werden und was ist das eigentlich, woher stammt der Begriff?
Bis zum nächsten Gebet freundliche Grüße,
Manfred (Vater) und Thomas (Sohn) Schreiner, Felixdorf, Niederösterreich, per Email
PS: Bin durch meinen Sohn zu Ihrer Kolumne gekommen – sie ist sehr gut!

Lieber Manfred, lieber Thomas,

das Vaterunser (lateinisch Pater noster) ist einer der bekanntesten Texte der Bibel, es gehört mit den Zehn Geboten zum Grundwissen der christlichen Religionen. Das Neue Testament überliefert es in zwei nahezu identischen Fassungen, eine im Evangelium des Matthäus, die andere in jenem des Lukas. Im Erinnungsschatz katholisch sozialisierter Menschen ist das Gebet schon durch die Kultur der mechanischen Wiederholung in der Messe tief verankert. „Gebenedeit“ kommt allerdings nicht vor. Über das seltsame Wort stolpern Katholiken in einem anderen Gebet, dem Ave Maria oder „Gegrüsset seist du Maria“. Der erste Teil dieses Gebets stammt ebenfalls aus dem Lukasevangelium. Dort (Lk 1,28) verkündet der Erzengel Gabriel Marien, dass sie den Sohn Gottes gebären werde: „Der Engel trat bei ihr ein und sagte: Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir“. Kurze Zeit später (Lk 1,41f) besucht Maria ihre ebenfalls schwangere Verwandte Elisabeth. Die wird vom Heiligen Geist erfüllt und ruft Marien zu: „Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes.“ Das Gebet hat, anders als die Bibelübersetzung Luthers, in der Passage „benedicta inter mulieres“ (gesegnet bist du unter den Frauen) das viel ähnlichere „gebenedeit“ bewahrt. Ist doch das mittelhochdeutsche „gebenedeit“ nichts anderes als die lautliche Übertragung von „benedicta“, soviel wie „man spricht gut über sie“.

„Gebenedeit“ ist außerhalb des Gebets nicht mehr in Gebrauch. Nicht so sein Gegenteil, das Schlechtbesprochene. Es zirkuliert noch immer als „vermaledeit“. Fixlaudon!


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Über die Schwärmerei

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 35/2025 vom 27. August 2025

Liebe Frau Andrea,
mein Schwärmen für Ihre Kolumne hat sich inzwischen so weit herumgesprochen, dass ich schon mitleidig gefragt werde, ob ich denn überhaupt wüsste, woher der Begriff „schwärmen“ komme, was er bedeute, und wie man ihn korrekt verwende. Meine ehrliche Antwort: natürlich nicht. Aber ich tröste mich, im Schwarm der Fragenden ist es um die Kenntnis nicht besser bestellt. Also wende ich mich vertrauensvoll an Sie. Ich ahne schon, dass Ihre Erklärung nicht etwa meine Schwärmerei bremst, sondern ihr fröhlich frische Flügel verleiht.Vielen Dank und freundliche Grüße,
Erich R. Hoffmann, Liesing, per Email

Lieber Erich,

mentalitätsgeschichtlich führt Sie Ihre Leidenschaft in die Zeit des Sturms und Drangs. Dort möchte ich Sie mit einer zeitgenössischen Reflexion abholen. So schreibt der passionierte Melancholiker und Kantschüler Daniel Jenisch 1787 im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“, der ersten psychologische Zeitschrift in Deutschlands den luziden Beitrag „Über die Schwärmerey und ihre Quelle in unseren Zeiten“. Die aufklärerische Erfahrung der kalten Vernunft, so Jenisch,  habe zu einem Übergewicht der „untern Seelenkräfte“ geführt, die „wie eine Art von Verschwörung wider die obern, wider Vernunft und Urtheilskraft angesehen werden“ könnten. Den Schwärmer benennt Jenisch als gesteigerte Variante des unkritischen Metaphysikers. Mit Hilfe seiner Einbildungskraft versinnlichte dieser die Vernunftideen.

Die Konjunktur der Schwärmerei in der Spätaufklärung darf als Reaktion auf ein menschliches Grundbedürfnis verstanden werden, das die Philosophie der Zeit nicht mehr befriedigen konnte. Befriedigt werden kann hier allerdings das Bedürfnis nach dem etymolgischen Aspekt des Schwärmens. Das Althochdeutsche kannte noch den lautmalerischen „swarm“, aus germanisch *swarma, der den Taumel, aber insbesondere den summenden Bienenschwarm bezeichnete. Als verwandtes Schallwort gilt das Schwirren, anordisch sverra, wirbeln. In der Reformationszeit werden die Sektierer abschätzig als Schwärmer, Schwarmgeister bezeichnet. Das Wort erfährt erst später die positive Bedeutung des glücklichen Fans und fernörtlichen Verehrers.

Die Autorin dankt!


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Würzen in Österreich

Als es noch Wirtshäuser gab und Bahnhofsrestaurants, in einer Zeit, die frei war von Schnick und Schnack, Social und Media, waren die Tischtücher noch weiß und gestärkt, von der Dicke florentinischer Mamorplatten. In der Mitte des Tisches war die Trias der österreichischen Individual-Gastronmie platziert: Ein Salzstreuer (mit der obligaten Rieselhilfe Reis), ein Pfefferstreuer, und für die Dentalhygiene ein Bund frischer Zahnstocher. Landauf landab war das so, niemand musste nach Salz oder Pfeffer fragen. In ungarischen Speisewägen fand sich auch noch feinstgemahlener Paprika in der Gewürzschaukel, obligatorisch, weil maygarisch. Irgendwann gesellte sich in Österreich die schlankhalsige Maggiflasche mit auf den Tisch, zur Unfreude der Tischtuch-Zuständigen (und unter heimlichen Tränen der Suppenköche).

Diese Zeiten sind perdu, wie man französelnd sagt. Mit den Ferial-Besuchen der Österreicherinnen und Österreicher in gastronomisch interessanten Ländern gerieten auch deren Gwürze und Geschmacksverstärker in den Fokus der Normalität. Olivenöl wurde modern, Meersalz und Balsamessig, die asiatischen Lokale junkten uns mit salzigen, süßsauren und scharfen Safterln an, und mit der Adaption US-amerikanischer Grillkultur traten die Steaksaucen in unser Geschmacksleben, und der Mundhöhlenverätzer Capsicum, verantwortlich für die Schärfe von Paprikas, Chilis und Pfefferoni.

Mittlerweile haben die Spezereiregale der heimischen Supermärkte die Ausdehnung orientalischer Gewürz-Bazare. Das freut die modernen Gaumen! Die weißen Tischtücher der Gasthäuser aber bleiben verschwunden.

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten am 23. August 2025.

Woher der Rauml kommt

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 34/2025 vom 20. August 2025

Liebe Frau Andrea,
meine Mutter verwendete immer das Wort raumlig („du bist raumlig um den Mund“), wenn ich nach dem Essen oder generell keinen ganz sauberen Mund hatte bzw. rund um den Mund also raumlig war. Meine Kinder lachen mich aus, das Wort gibt es nicht. Können Sie mir weiterhelfen?
Lieben Gruß,
Manuela Gutmeyr,  Graz, per Email

Liebe Manuela,

in einem erstens Verstehensversuch läge es für Hochdeutsch Sprechende nahe, das Adjektiv „raumlig“ mit dem „Raum“, dem „Räumlichen“ in Verbindung zu bringen. Was aber hätte die Bezeichnung für eine örtliche Ausdehnung mit Essensresten zu tun? Hat es womöglich mit dem Mundraum zutun?

Auf die richtige Fährte bringt uns die Stadt, aus der Sie schreiben. In der Steiermark wird nicht gefallen, sondern gefaullen, im Gausthaus wird nach dem Essen gezauhlt, am grünen Rausen rollt der Baull, die Laterne steht am Straußenraund. Außerhalb der grünen Mark wären Kinder nach dem Essen demnach nicht raumlig, sondern ramlig, rammlig. Das Bild wird klarer, denn den Rammel kennen die Wienerinnen und Wiener und manche dazwischen als das getrocknete Nasensekret, bundesdeutsch den Popel. Dies oder das habe nur einen Nasenrammel gekostet, sagt der Volksmund, wenn etwas günstig erworben wurde. Wie aber kommt der Rammel an den Mund? Und wieso beim Essen?

Noch Anfang des letzten Jahrhunderts kannte man als „Raml“ auch die in den Kochgeschirren angetrockneten Speiseteile. Ältere Lexika schreiben das Wort noch Rame (ganz wie Rammel im Bairisch-Österreichischen ausgesprochen wird), kommt es doch vom mittelhochdeutschen „rām“, Schmutz, Ruß, und dieses vom gleichbedeutenden germanischen *rēmi-, *rēmiz. Das Wort hat sich in unserem Rahm (bundesdeutsch: Sahne) erhalten, wurde der fettreiche Teil der Milch doch ebenfalls als sich ansetzende Schmutzkruste verstanden.

Der Bedeutungsinhalt rußig, schwarz hat sich in anderen Begriffen sedimentert. So hieß der Hofhund mit schwarzem Maul „Rammel“. Desgleichen das schwarze Schaf und ganz unwoke das dunkelhaarige Mädchen oder die vagante Dame von feurigem Temperament und rabenschwarzem Haar: „A liaba Ramme“ oder „a wüüda Ramme“.


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