Was wäre der Tod ohne das Wienerlied?

Morgen Mittwoch 1. November 2023 bin ich im Radio Ö1 zu hören. 15:05h „Was wäre der Tod ohne das Wienerlied?“ Kollege Bernhard Eppensteiner hat die Sendung gestaltet. Die Strottern sind zu hören, Georg Kreisler, Franui und viele andere Kompetente. Enjoy!

https://oe1.orf.at/programm/20231101#737177/Was-waere-der-Tod-ohne-das-Wienerlied

Das Bonbongeschäft

Boboville hat 1968 begonnen, da war ich sieben, sieben auf einen Streich, es war Sommer und Boboville war heiß. Gegenüber vom rosagestrichenen Haus, wo am 1. Mai die roten Fahnen der Sozialisten hingen, gegenüber vom rosa Haus mit der Putzerei, ein schönes Bild, das rosa Haus der Sozialisten mit der eingebauten Putzerei, gegenüber von diesem Haus lag das Geschäft. Die Keimzelle von Boboville. Das heilige Geschäft. Das Bonbongeschäft. bonbons stand in großen Lettern über dem Geschäft. Bonbonville hätte ich meine Insel genannt, hätte ich als Kind gewusst, das Zuckerl und Bonbons das Gleiche sind.

Das Bonbongeschäft, es existiert noch heute, meine ich, vierzig Jahre nach 1968, es war rot gestrichen und ist es noch. Rotsein hatte eine Logik für mich, lange bevor das Wort in mein Leben treten sollte. Als Siebenjährige hielt ich es für richtig, wie ich es damals nannte, dass gegenüber von Onkel Christians rosa Sozialistenhaus mit der Putzerei das rote Zuckerlgeschäft lag. Seine Auslagen waren mit Krapfen geschmückt, mit Indianern, Pariserspitz, leeren, vergilbten Bonbonnierenschachteln. Mit gelber Plastikfolie war sie ausgelegt, die Auslage, darin lagen Vanillekipferl, zu kleinen Vulkanen aufgeschichtet, Mannerbruch in Scheiterhaufenform, Windringe in zirkulär geschichteten Windringringen. Und manchesmal stand eine Nusstorte in der Auslage. Mit einem dicken Kakaocremekringel an der Schulter, gekrönt von einer Walnuss. Oder war es eine Kaffeebohne, mit der Schamspalte nach oben in den Kakaocremekringel gedrückt?

Die Scheibe des Bonbongeschäftes hatte 1968, wenn man die Scheibe gut kannte, auf Kindernasenhöhe leichte Blindheiten. Die kamen von den gierigen Häuchen, die wir beim Anblick von Torten und Mannerbruchgebirgen auf den kalten Scheiben hinterließen. Ein Besuch des Bonbongeschäftes ohne minutenlanges Verharren an der Oberfläche der Bonbongeschäftauslagenscheibe wäre kein Besuch des Bonbongeschäftes gewesen. Man musste sich genau einprägen, was man brauchte. Ob und welches Torteneck, welche Kombination wievielwelcher Zuckerl. In unserer linken Kinderbobofaust befanden sich, zwischen gekrümmte Finger geklemmt, die Schillinge. Schillinge. Einschillinge und Zehngroschenscheiben und kleine, randgerillte Fünfziggroschenknöpfe. Abgezählt. Zu imaginierten Groschentürmen gestapelt.

Denn Boboville 1968, als ich sieben war, hinter den Zwergenbergen, war immer auch Berechnung. Wie viel sich wovon ausging mit wie viel an kinderbobofaustgewärmtem Metall. Die Berechnung dessen, was die linke Faust umklammerte. Um zehn Groschen, das musste man wissen, wenn man mit der Nase an der Zuckerlgeschäftscheibe hing, ging sich immerhin ein Stollwerck aus, die Grundwährung meiner Bobovillekindheit. Mit einem im Fußabstreifergitter vor der Putzerei gefundenen Zehngroschenstück ging sich in der Frühzeit von Boboville ein Stollwerck aus. Es war so groß wie ein Auge im Quadrat und so hoch wie zwei Schulhefte dick, es war eingewickelt in ein zwergentischtuchgroßes Wachspapier. Das Stollwerck. Das Wachspapier, man musste es ablösen, solange das Stollwerck kalt war. War es warm, klebte das Wachspapier am Stollwerck. Fünf Minuten milchzähneverklebendes Lutschen ging sich aus mit dem Zufallszehngroschenstück aus der Bobovilleputzerei im Sozialistengebäude, dem TheodorHerzl-Hof. Theodor-dem-Erfinder-von-Israel-Herzl-Hof. Dass die Gasse ums Eck Malzgasse hieß, hatte Richtigkeit für uns. Schmeckte doch das braune, klebrige Stollwerck nach Malz. Oder nach dem, was wir für Malz hielten. Wir. Wir, die Bobovillekinder vorm Bonbonvillegeschäft. Und wo waren wir her? Aus der Leopoldsgasse, aus der Schreygasse, aus der Rembrandtstraße, aus der Nestroygasse. Aus der Unteren Augartenstraße, aus der Malzgasse. Die, nach der das Malz in den Stollwerck seinen Namen hatte.

Das Bonbonvillegeschäft in der Leopoldsgasse war eine Art Maschine, eine Konsumboboismusmaschine, die erste Konsumboboismusmaschine der Welt. Das Bonbonvillegeschäft musste man besteigen, es war nicht ebenerdig zu betreten. Ein kleiner, halbstufenhoher Absatz führte in eine rotbemalte Nische, rot, wie ja alles Holz am Bonbonvillegeschäft rot gestrichen war. In einem Rot, das eine leichte Fähle hatte, ein sonnengeblichenes, vom blauen Himmel ausgelaugtes Rot. Ein Rot, wie wenn man von oben in ein Himbeerkracherl schaute. Es knirschte, wenn man die Betretungsnische des Bonbonvillegeschäfts bestieg, es machte knarrende Geräusche. Selbst dem federleichtesten Leopoldsgassenkind aus der Schreygasse, in jedem Fall war das immer ich, denn ich war das zarteste, kleinste und gewichtsloseste aller bonbonaffinen Kinder in Frühboboville, selbst dem Hauch eines Kindes gelang es nicht, die Eingangsnische ohne das Eintrittsknirschen zu besteigen. Das Knirschen war Teil der Maschinerie.

Der zweite Mechanismus der Bonbonvillemaschinerie war nicht minder geräuschvoll. Eine Türe, rot gestrichen war sie und dreiviertelgläsern, sie musste an einer Griffstange gehalten und gegen den Widerstand eines Kugelschnappmechanismus aufgedrückt werden. Der Bonbontürmechanismus schärfte mein Talent für technische Zusammenhänge. Ich hatte damals keine Ahnung und heute ebensowenig, wie das Schloss hieß, war es ein englisches Patent oder ein amerikanisches? Für das Kindermich war es eine kleine Messingnuss, die von einer Feder in die Außenwelt gedrückt wurde. Sie war mit honigfarbenem Schmierfett verklebt und roch nach Fahrradkette. Die Messingnuss hielt die Türe im Schloss. Man musste mit dem ganzen Gewicht eines zuckerschuldigen Kindes an der Türe drücken, um den Widerstand der honigschmierfetten Messingnussfeder zu überwinden. Das geschah, so es geschah, denn es war nicht leicht, stets mit einem Knall, von dessen mechanischer Erschütterung die Glasscheibe in der Bonbongeschäftstüre klirrte. Leicht, so dachten wir, könnte dieses Glas brechen und zu enormen Kinderschulden bei den Bonbongeschäftsinhabern führen. Schellende Ohrfeigen, markzersetzendes Angeschrienwerden, schmerzhafte Schüttelungen und daheim dann schlicht lebenslanges Fernsehverbot nach sich ziehen. Der Eintritt ins Bonbonparadies war untrennbar mit der Angst verbunden, die Zuckerpforte zu zerstören. Indes, das Dilemma war Teil einer ausgeklügelten Inszenierung. Nie nämlich, ja nie ist das Glas des Paradiesportals aus seinen Kittfugen gesprungen. Die Diabolik dieses Mechanismus war ebenso perfide wie gefürchtet.

Hatte man die Türe aufbekommen, schlug ihr Blatt rechts oben, eine Handbreit aufgedrückt, gegen ein Glöckchen. Als hätte das Knirschen der Betretungsnische und das Knallen der Türe nicht schon genug Bonbongeschäftsalarm ausgelöst. Knirschknallklingeling, das war, in Geräusche umgesetzt, das Süßigkeitenprogramm des Bonbonvillegeschäfts. Zuckerlkauf war ein Abenteuer, dessen Ritualpartikeln sich nicht alle von uns aussetzen wollten. Ich jedenfalls hatte bald eine Technik einstudiert, die Sesam-öffne-dich-Arbeit anderen aufzuschultern. Einem anderen Kind, einer Bonbonnierekäuferin, einem Schokohurtigen, einem Diabetiker auf Selbstzerstörungstour. Irgendjemandem jedenfalls, der die honigfette Nuss für mich aufdrückte. Sobald ein Helfer nahte, stellte ich mich in die Nähe der Eingangsnische, studierte den Mannerbruch, zählte die heidelbeergeschmackigen unter den Hellerzuckerln oder dachte mir sonst eine Unauffälligkeit aus. Das hatte ich mir von den Bienen abgeschaut. Die zuckelten doch auch zögerlich vor den Kelchen herum, um mit ihrem Schwirren andere Bienen zum Blütenbesuch anzustiften. Diese Vorgänge wollen deshalb in aller Ausführlichkeit erzählt werden, weil zum Verständnis Bobovilles das Verständnis für die Abweichung gehört. Bobovillains sind am Ungleichartigen interessiert, nicht am Uniformen. Auch von diesen Vorgängen wollten die Blindheiten stammen, die in Kindermundhöhe in die Auslagenscheiben geätzt waren. Von den Häuchen der Wartenden. Von den perfide vor dem Kelch taumelnden Kinderbienen.

Und dann kam sie, die dicke Hummel im Hubertusmantel, die Tortensuchende, den Seppelhut aufs weiße Lockengebirge drapiert. Und die knirschknalldrückte mir die Türe zum Süßigkeitenjerusalem auf.

Von Innen, das will ich gerne zugeben, ließ sich die bestialische Türe so leicht wie geräuschlos manipulieren. Von Innen sehen alle Initiationsrituale lächerlich aus. So geräuschvoll der Eintritt war, so leise, so sakristeihaft still war es im Inneren des Bonbongeschäfts. Ein Zimmerchen, von einer L-förmigen Glastheke beherrscht. Keine von den Bonbonischen befand sich je bei Eintritt in ihr Reich hinter dieser Budel. Die Bonbonischen befanden sich in lauernder Stellung, in der Tiefe ihrer Geschäftsräume. Ich entwarf ein Bild von ihnen, wie sie auf rosaledernen Sofas, im Lichte schokoladenfarbener Stehlampen vollgeklebte Fußballbilderalben studierten und Eskimoeiskataloge, Keksbestelllisten ausfüllten oder auch nur die Kreuzworträtsel in der Zuckerbäckerinnungsgazette. Vielleicht schliefen sie auch auf großen Schaumrollen? Designschaumrollen gewiss. Aus der Carnaby Street. Im Lichte himbeersaftfarbener venezianischer Luster.

Wie auch immer, nach dem Vergehen einer guten Minute krabbelte eine der Bonbonischen aus ihrem Versteck, nach meiner Erinnerung eine kleine, dicke Frau mit blaukarierter Textilviertelschürze, die Leopoldstädter Friseurbesuchsfrisur im Haar, zur Zeit, in der meine Erinnerung spielt, war es das silberblau getönte Lockenhaupt. Die Frisur der Gegend war uniform, silberblaue Dauerwelle. Nur Frau Natiesta im dritten Stock unseres Hauses in der Schreygasse, einen Apfelbutzenwurf von hier Richtung Leopoldsberg, hatte weißgoldenes Haar.

Die Bonbonische war mürrisch, sie hatte dicke Hände wie die Babuschkas in der Ukraine, wie die Waldviertler Kartoffelbäuerinnen. Dicke, kurze Hände. Und mürrisch war sie. Alle Bonbonischen sind mürrisch, anders als mit militanter Mürrischkeit lässt sich ein Bonbongeschäft nicht führen. Die Mürrischkeit paarte sich mit Präzision. Der Bonbonischen konnte man die ungeheuerlichsten Listen vortragen. Mehrstellige Listen. Listen, die von 17 weißen Stollwerck handelten, drei Liebesherzen, zwei Fizzersrollen, zwei Bazooka-Kaugummi-Paketen, drei Kuverts Fußballbildern, zwei Schlangen, zwei Colaflascherln aus Gummi, einer Packung Brause Orange, einer Packung Brause Zitron, einem Leberknödel.

Die Bonbonische hatte im Kopf mitnotiert, und schon beim Ausklang des Wortes Leberknödel, oder was auch immer das Ende der Liste markierte, die Summe parat. Dreizehn dreißig. Mehr als Dreizehn dreißig überstieg so ein Großeinkauf im Bonbongeschäft nie, und es war immer eine Kombination aus Groschen und Einschillingmünzen. Und immer zahlten wir sofort. Nach Bekanntgabe der Liste. Erst dann grub die Bonbonische in den Details und schichtete mit einer Genauigkeit, für die sie Uhrmacher beneideten, unser Zuckerwerk in weiße Papiersäckchen. Mit denen man später, waren sie leer und aufgeblasen, einen bobovilleerschütternden Knall machen konnte. Mürrische Genauigkeit. Die lernten wir bei der Bonbonischen. So waren die mehrstelligen Listen ja auch zusammengestellt worden, durch mürrisch genaue Kalkulation von Zuckerlpreisen. Zehngroschenscheiben ließen sich gegen Stollwercke tauschen, Fünfziggroschenknöpfe gegen Fizzersrollen, Bazooka-Gums, Brausesäckchen und Gummilutschzeug. Nur die Panini-Fußballbilder waren in Schillingwährung geerdet. Und der dicke, fette Leberknödel, das Zweischillingmonster. Sein wuchtiger Preis folgte gestalterischer Logik. Nach dem Essen der Nougatbombe war der Kindermagen verklebt. Nicht mal Brause konnte dann den fetten Nougatleberknödel durch den Bauch spülen. Der Nougatleberknödel war der Gruftdeckel des Zuckerlgrabs.

Das Reich der Bonbonischen war im Gegensatz zu den anderen Geschäften auf der Insel auch an Sonntagen geöffnet. Manchesmal musste ich hier Sonntagsmilch für daheim einkaufen. Oder Sonntagskaffee. Oder Sonntagszucker. Die Bonbonischen verwahrten Milch auch an Nichtsonntagen in einem Geheimkühlschrank. Denn die Zuckerlgeschäftkonzession verbot 1968, im Jahr, als am Boulevard SaintGermain die Pflastersteine flogen, gewiss den Verkauf von ungezuckerten Nahrungsmitteln. Es war mir damals schon bewusst: Geschäft ist immer auch Verbrechen. Milch verkaufen, wo Milchverkauf verboten ist. Kaffee verkaufen, wo Kaffeeverkauf verboten ist.

Bei den Bonbonischen saßen manchmal Leute vom Grund. Ausgemergelte Gestalten bei einer Tasse schwarzen Mokkas, die sich vorgaukelten, bei den Bonbonischen etwas für die Gesundheit zu tun. Mokka und Underberg tranken sie, an einem Resopaltischchen sitzend, und auch wenn sie dabei keine Falk inhalieren durften und keine Ernte 23, war das für die Ausgemergelten gewiss so gesund wie Zuckerzeug für Kinderzähne.

Das himbeerkracherlrote Bonbongeschäft gegenüber von Herzls sozialistischer Dampfbügelei ist der Nabel von Boboville. Auch wenn andere Bobovillains von anderen Nabeln wissen wollen. Von Nabeln im Village oder im Marais. Oder Umbilicae in Castro, Mitte und Kreuzberg. Alles Quatsch. Der Omphalos von Boboville ist das rot gestrichene Bonbongeschäft gegenüber vom rosa Gemeindebau, der nach Theodor Herzl benannt ist. Gestern habe ich das Schreiben des Bobovillebuchs unterbrochen, um in einem hastigen Anflug von Bekümmerung in die Leopoldsgasse zu fahren und Nachschau zu halten, ob das Bonbongeschäft überhaupt noch existiert. Ich parkte vor dem rosa Gemeindebau, wie es sich für Bobovillains gehört, mit drei Rädern im Kriminal, auf der Bushaltestelle nämlich. Mein Schreck war groß. Das Bonbongeschäft existiert. Unverändert. Sogar die gelben Plastikbahnen in seinen Auslagen sind noch da. Etwas gebleicht von der Leopoldstädter Sonne.

Aus: Dusl, Andrea Maria: Boboville, Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg, 2008, pagg. 10ff.

Wien, Wien, nur du allein …

Auf der Suche nach dem Kern des echten Wieners.

Gespräch mit Andrea Maria Dusl über Verzwergung und Attitüde, Sprache, Schwergewichte und Humor.

BARBARA HUTTER, Salzburger Nachrichten vom 13. November 2021, Kultur/Leben, Seite 9.

„Es gibt keine echten Wiener.“ Ein bisserl schlucken muss man schon bei dieser kategorischen Verneinung. Weil: Schön war’s schon, im Ausland immer sagen zu können, ja, ich bin eine Wienerin, ja eine echte. So was. Vor allem bei den deutschen Nachbarn kommt das ziemlich gut. Wien, hach! Aber Befindlichkeiten beiseite, die Person, die das eingeboren Wienerische so ganz generell in Abrede stellt, muss halt schon als Fachfrau, ja wenn nicht gar Autorität auf diesem Gebiet respektiert werden. Andrea Maria Dusl, aus alteingesessener (gilt das?) Wiener Großbürgerfamilie mit schwedischen Episoden, Kulturwissenschafterin, Autorin und Zeichnerin, Kolumnistin in Falter, Standard und vor allem in den „Salzburger Nachrichten“, diese kleine Eigenwerbung darf sein, sagt also auf die Frage, ob es so etwas wie echte Wiener gebe: „Nein.“

Na gut. Dusls Expertise lässt sich durch drei Bücher belegen, „Wien wirklich!“, „So geht Wien“ und „Wien für Alphabeten“. Und, wenn man so will, auch ein viertes Buch, „Boboville“, das sich allerdings mit einer Teilmenge der Wiener und Wienerinnen befasst, wenn auch einer wachsenden. Wien, das ist ein ewiger Zuzug. Manche bleiben hier, andere ziehen wieder weg.

Die Historie zählt sie auf: Die Ziegelböhm’, nach dem Ersten Weltkrieg dann die Altösterreicher aus Triest, Czernowitz und Reichenberg, später die Gastarbeiter, erst vom Balkan, dann aus Anatolien, in letzter Zeit die laut Dusl „unintegrierbaren“ Deutschen. Ein hartes Urteil. Über das man gleich ins Grübeln kommt. Dusl hat eine Theorie: „Alle, die hierherkommen, lieben diese Stadt.“ Vielleicht hat ja sogar Thomas Bernhard, in dessen Stammcafé „Bräunerhof“ dieses Gespräch stattfindet, trotz seiner Schimpftiraden Wien geliebt. „In der G’ham“ sozusagen.

Andere sind weggezogen, nicht selten nach Berlin, der „geheim-ungeheimen Exildestination enttäuschter Wiener“. So auch der Kaffeehausliterat Anton Kuh. Er lästerte: „Lieber unter Wienern in Berlin als in Wien unter Kremsern.“ Wobei für Wiener a priori nichts gegen Krems einzuwenden ist, wer so viel Grünen Veltliner erzeugt wie die Kremser, kann kein schlechter Mensch sein.

Das resche Tröpferl hat jüngst einen Siegeszug durch die Weinbars von New York hinter sich, die Erinnerung an die Dauermigration ist auch sehr wienerisch. „New York ist die Fortsetzung von Wien, selbst wenn man die Sprache nicht beherrscht, ist alles sehr wienerisch. Woody Allen könnte ein Wiener sein.“ Und Hollywood – ein Wiener Exporthit. „Das sind eigentlich Operetten, mit Wiener Programmmusik von Max Steiner, Erich Korngold. Die Regisseure haben dort mit dem weitergemacht, was sie am Theater in Wien getan haben. Der Kern kommt eben aus Wien, auch der Humor.“

Apropos Humor. Die Schreiberin dieser Zeilen – als echte oder jedenfalls gebürtige Wienerin, wir erinnern uns – kommt aus dem Kichern gar nicht mehr heraus beim Blättern in „Wien für Alphabeten“. Bassena, so steht hier, das Facebook der Metternichzeit. Opernball, seit Beginn der Treffpunkt der zweiten und dritten Gesellschaft. Und man fühlt sich leicht ertappt. Und manchmal sogar ein bisserl, na, sagen wir, ang’rührt. „I wü’s gar ned wissen, ned so genau“, singt Willi Resetarits, alias Dr. Kurt Ostbahn, der musikalischere der beiden bühnenpräsenten Resetarits-Brüder.

Womit wir in der Vorstadt wären, in den proletarischen Bezirken, zwischen – siehe oben – Bassena und dem Beserlpark, einer der Brutstätten heimischer Fußballerfolge. Die Familie Resetarits als Burgenlandkroaten übersiedelte zu Beginn der 1950er nach Wien, nach Favoriten. Dort lernten die Buben Willi und Lukas Deutsch. Als Waffe. „Es ging darum, wer den besseren Schmäh hat und daher das bessere Deutsch.“ Das Wienerisch des entsprechenden Soziotops, in dem Fall Favoritnerisch, das Dusl so definiert: eine Schwestersprache von Meidlingerisch mit tschechischer Grammatik. Wienerisch gebe es gar nicht, es sei vielmehr eine Art von Effekt. „Wenn man wissen will, wie früher Wirte oder Kutscher in Wien gesprochen haben, muss man ins Weinviertel fahren. Ein Hollabrunner Bauer spricht wie ein Wiener aus dem Jahr 1900.“

Favoritnerisch ist jedoch nicht zuletzt Idiom von Edmund Sackbauer, dem Mundl, der in den 1970ern zum „echten Wiener, der nicht untergeht“ wurde. In der Person von Karl Merkatz, im weißen Feinrippleiberl und mit Bier in der Hand. Kindheitserinnerungen kommen hoch. An die Großmutter, ebenfalls in Favoriten ansässig, die mit erstarrter Miene und einem Blick voll Verachtung die Tirade an Kraftausdrücken, die aus dem SchwarzWeiß-Fernseher quoll, über sich ergehen ließ. Allerdings nur ein einziges Mal und mit dem abschließenden, eisigen Kommentar: „So ordinär reden wir Wiener ned.“

Eins allerdings hat der Mundl mit dem Vater der Oma gemeinsam: das Gewichtheben. Ein zeitlich begrenztes Phänomen in Wien. Der Volkssport – fast jedes Wirtshaus hatte seinen eigenen Gewichtheberverein, der Uropa hatte beides – geht auf Markgraf Pallavicini zurück, Alpinist, begeisterter Gewichtheber und Erfinder der Hantel, so will es die Anekdote, als er vor dem Sacher zwölf Personen in eine Kutsche klettern ließ und dann die Achse hochhob.

Wienerisch gibt es nicht, das ist eine Art von Effekt.

Andrea Maria Dusl
Kolumnistin, Autorin, Zeichnerin

Wien ist eine alte Stadt. Einst größte Stadt im Heiligen Römischen Reich, noch 1910 viertgrößte Stadt der Welt. Wen wundert der Phantomschmerz? Dusl: „Die zwei Weltkriege haben Stadt und Land verzwergt. Aber alle Attitüden sind noch da, ein österreichischer Diplomat fühlt sich auf Augenhöhe mit russischen oder britischen Kollegen.“ Vom scheinbar Servilen soll man sich nicht täuschen lassen: Das Aufmüpfen zählt ebenfalls zum Wesen des Wieners. Hier musste sich die Intelligenz immer entscheiden: Aufrührer oder loyal?

Und noch etwas: Die wirklichen Deals werden im Kaffeehaus gemacht. Die byzantinische Technik, in Halbsätzen was anzudenken, Nuancen im Dialog. Übers Handy? Das ist provinziell. Alles passiert gleichzeitig: Verzwergung und Überhöhung, Provinzialisierung und Internationalisierung. Qualtinger hat gesagt: Österreich ist ein Labyrinth, in dem sich jeder auskennt. Das stimmt auch für Wien. Dem Besucher rät Andrea Maria Dusl, in ein gutes Kaffeehaus zu gehen, sich hinzusetzen und den Mund zu halten. Was man da trinken soll? Wurscht. Ein Wiener würde ohnehin nichts empfehlen. Besichtigen? Gar nichts. Alle Sehenswürdigkeiten seien Fantasieorte, erzählen keine lebendigen Geschichten, seien Statuen. „Lesen ist einfacher. Lesen Sie Thomas Bernhard und alle meine Bücher.“

Mit dem Steppenwolf im Raucherkammerl

Interview für die 150-Jahre-Festschrift des Wasagymnasiums, publiziert im Oktober 2021. Meta Gartner-Schwarz sprach mit Andrea Maria Dusl am Dienstag, den 19. März 2019 über ihre Schulzeit am Wiener Wasagymnasium.

Meta Gartner-Schwarz, WasagymnasiumSie haben, wenn ich das richtig recherchiert habe, 1980 an unserer Schule maturiert. Übernehmen Sie bitte kurz die Rolle einer Zeitzeugin: Was war das für eine Zeit? Wie dürfen sich unsere Schülerinnen und Schüler diese vorstellen?

Andrea Maria Dusl, AlumnaEs ist schwierig, die Zeit aus der heutigen Perspektive mit den damaligen Augen zu sehen, weil sich alles zusammenschiebt. Ich müsste mich jetzt erinnern, nicht an meine persönlichen Erlebnisse, sondern daran, was eigentlich zwischen 1970 und 1980 passiert ist. Aus schulischer Perspektive hatte ich überhaupt keine Ahnung, was politisch ablief. Das war nicht wichtig. Wir waren politisiert in einem viel engeren Sinn, als es der gesellschaftliche Aufbruch war. Wir sind vielleicht auf Demonstrationen gegangen, aber wir waren nicht parteipolitisch politisiert. Wir waren auch nicht ideologisch motiviert, wir wollten ganz einfach nicht unterdrückt sein. Das war ein Beweggrund, aber das hat man auch gar nicht so ausgedrückt, es war irgendwie alles ein bisschen reglementierter. Und ich? Ich kann jetzt nicht wirklich in Erinnerung rufen, wie die 70er Jahre waren, ich kann es nur an den Unterschieden festmachen.

Welche prägenden Erinnerungen haben Sie an Ihre Schulzeit in der Wasagasse?

Ich will es jetzt mal so ausdrücken: Es gibt nichts in meinem Leben, was nicht durch die Schulzeit geprägt worden wäre, absolut nichts. In jedem Aspekt meines Daseins hat die Schule Spuren hinterlassen. Es ist sozusagen mein ganzes Leben schuldurchwirkt und seltsamerweise mehr durchs Gymnasium als durch die Volksschule. Das stelle ich immer dann fest, wenn es Situationen gibt, die ähnlich sind. Etwa beim Aufenthalt in Räumen, in denen man nicht das Kommando über das eigene Tun hat. Ich versteh darunter so Sachen wie das geplante Zuhören, das Konzentrieren gegen die eigenen körperlichen Wünsche, und der Aufenthalt mit und in einer Gruppe.

Solche Situationen kommen immer wieder. Auf der Universität kommt es wieder, bei Seminaren und bei Vorträgen, und da merke ich, dass ich von der Schule sozialisiert wurde. Wie geht man mit der eigenen Energie um, wie geht man mit den eigenen Wünschen um? Wie geht man mit dem Drang um, entweder etwas zu sagen oder zu verschweigen? Ja, wie interagiert man? Da gibt es ja so Strategien, ich weiß jetzt gar nicht, ob man sie Kommunikationsstrategien nennen sollte, aber es gibt in diesen geschlossenen Räumen, die wir in der Schule zum ersten Mal erfahren, so etwas wie nonverbale Kommunikation mit anderen, sehr komplexe Geflechte von Einbindung oder Ausgrenzung. Und das betrifft nicht nur die Lehrer und die Schüler. Wobei, jetzt fällt mir wieder auf, dass wir damals nicht Schülerinnen und Schüler sagten, sondern Schüler, und da war natürlich immer Schülerinnen und Schüler gemeint, aber es wurde nicht darüber gesprochen, dass darin alle inkludiert waren.

Wir hatten auch eine ganz andere Reflexionsebene über Sprache und über gesellschaftliche Zustände, und die Zeit, in der wir in der Schule waren, war insgesamt die ganze Suppe heute sehr berühmter Dinge. Da waren sehr viele Dinge drinnen, die wir ganz normal fanden, die aber gar nicht normal waren zu dem Zeitpunkt, als sie passierten. Zum Beispiel Gratis-Schulbücher, dass wir gratis mit der Straßenbahn fuhren, dass Mädchen und Buben – eigentlich hieß es damals Knaben und Mädchen – überhaupt gemeinsam in einer Klasse saßen. Das alles war damals absolut normal, aber aus heutiger Perspektive war es gerade eben erst eingeführt worden. Es muss also für die damaligen Lehrer, die aber auch nicht Lehrer hießen oder Lehrende, sondern „Professoren“, sehr anders gewesen sein. Die hatten das ja nicht so erfahren. Und selbst wenn man in einer modernen Schule war und vielleicht koedukativ erzogen wurde, war das nicht die Regel.

Für die Lehrenden war das auch etwas Spannendes, und diese 70er Jahre, die waren politisch gesehen in Österreich ein Aufbruch in sehr viele neue Felder, die vorher noch nicht beschritten waren. Daran erinnere ich mich, dass wir gespürt haben, dass sich da immerzu etwas verbessert. Etwas Analoges war der sogenannte Fortschritt, nicht der auf gesellschaftlicher, sondern der auf technischer Ebene. Jedes halbe Jahr wurde irgendetwas erfunden, das aus der Raumfahrt kam und die Welt verbesserte. Ich gebe ein Beispiel: Ich bin in die Phase hineingeraten, wo der Rechenschieber – es kann sich heute niemand mehr vorstellen, was ein Rechenschieber ist – wo also der Rechenschieber obsolet geworden ist. Wir hatten noch gelernt, wie der Rechenschieber funktioniert, aber wir haben ihn dann nicht mehr verwendet in der Oberstufe, wir konnten die ersten Taschenrechner verwenden, und das war eine unglaubliche Sensation, dass Kinder einen Apparat hatten, der einem das, was die Schule zu einem Großteil ausgemacht hat, nämlich rechnen zu können, abgenommen hat. Das war für die Eltern fast undenkbar, es gab ein einziges Modell, das an der ganzen Schule eingeführt wurde.

Die zweite technische Innovation, an die ich mich erinnere, die das Leben dann sozusagen geflutet hat, waren Overheadprojektoren. Eine heute völlig ausgestorbene Form. Der Overheadprojektor, der auf magische Weise etwas an die Wand warf, hat die Tafel abgeschafft. Die Tafel, die aus Kreide, Schwamm und diesen spezifischen Gerüchen bestand, die ist natürlich jetzt noch immer da, und auch das große Dreieck und der große Zirkel. Aber die Overheadfolie, das war ein Zauberding, und auf der haben die Lehrer, ich sag jetzt mal Lehrer, wir können das ja im Geiste gendern, mit ihren Overheadstiften herumgezeichnet. Sie haben das zwischendurch immer wieder abgewischt, oft auch unabsichtlich.

Meine Erinnerung ist gefüllt mit Vermittlungstechnik. Heute hatten wir in der Stunde, die ich besuchen durfte, einen Projektor, und da haben Sie vom Computer ein kleines Filmchen gezeigt. Das einzige, das ähnlich war an dem Ganzen, war die Tatsache, dass die Lichtsituation ungünstig war, weil es ja Tag war. Man kann nicht gut verdunkeln, sonst kann man auf den Tischen nichts mehr lesen. Das hat sich nicht verändert. Wir hatten damals 16-Millimeter-Projektoren und das ratternde Geräusch der Lehrfilme habe ich deutlich in Erinnerung. Interessanterweise war der Ton genau gleich wie heute. Er war so laut, dass er keinesfalls unhörbar war, also man konnte da kaum durchschlafen. Das ist völlig identisch mit damals, auch das schlechte Bild an der Wand ist identisch. Ich weiß nicht, ob der Projektor heute in Ihrer Stunde eine Entzerrungsfunktion hatte. Das gab es bei den bei Overheadprojektoren jedenfalls nicht, die warfen immer ein verschobenes Parallelogramm. Ja, selbst wenn es Projektionen waren, waren es greifbare Dinge.

Ich erinnere ich mich an den Geruch der Stifte, an den Geruch der Taschen. Auf dem Weg hier her habe ich mich daran erinnert, wie meine Schultasche gerochen hat, weil ich wieder denselben Weg gegangen bin, den ich in meiner Schulzeit auch gegangen bin. Ich habe dann immer entschieden am Schulweg: Soll ich die fade Straße gehen? Die neben der Kaserne, oder die spannende, wo so viele Autos durchfahren? Die roch furchtbar nach Abgasen. Schon damals war die Frage: Soll ich gesund oder spannend gehen? Ich habe mir dann irgendwann ein Fahrrad schenken lassen, damit ich länger schlafen kann. Ich weiß das deswegen, weil ich eine frühe Kassettenaufnahme gefunden habe von einem Gespräch, in dem meine Eltern debattierten, warum ich noch nicht beim Frühstück sitze. Meine Entschuldigung, warum das so sei? Ich könne mit dem Fahrrad fahren, war das Argument, und dadurch müsse ich nicht so früh aufstehen. Ich bräuchte nur 5 Minuten mit dem Fahrrad, und nicht 20 Minuten wie zu Fuß.

Und wie sind Sie über den Donaukanal gekommen?

Das war sehr schwierig. Ich musste über die Hörlgasse rauffahren, in diesem fürchterlichen, mörderischen dreispurigen Verkehr, und da ist auch mal ein Unfall passiert. Ich bin gegen die aufgehende Autotür eines Richters gefahren, dessen Tochter in der Schule studierte, und ich hab dann unglaublich viel Schmerzensgeld bekommen, konnte mir gute Ski kaufen davon, also unleistbar gute Ski von dem Schmerzensgeld. Ich weiß, das waren 4000 Schilling, das Schmerzensgeld, und es war dem Richter furchtbar peinlich. Mein Finger war ein halbes Jahr lang gelähmt, mein kleiner Finger, sonst hat mir nichts gefehlt, aber es hätte natürlich auch böse enden können. Fast niemand fuhr damals mit dem Fahrrad. Es war eine bizarre Außergewöhnlichkeit, Fahrrad zu fahren, noch dazu in die Schule. Aber nochmal zurück, wie hieß die Frage?

Welche Erinnerungen haben Sie bis heute mitgenommen?

Dass es eine Zeit galoppierender Technik und Innovationen war! Taschenrechner von Texas, Texas Instruments, TI 30 hieß dieser Rechner, der hatte so kleine rote Leuchtfäden, der hatte noch kein Display. Und mit dem durften wir in der Schule rechnen. Das war unglaublich. Was mich sonst geprägt hat, waren Freundschaften, Liebschaften. Aber das hieß nicht Liebschaften, sondern man war verknallt oder verliebt oder man ist mit jemand gegangen.

Aber noch zu den prägenden Dingen an der Schule. Ist es jetzt von mir keine günstige Betrachtung, wenn ich sage, ich habe sehr gelitten unter der Schule? Aber ich habe tatsächlich sehr gelitten unter der Schule, am meisten unter der Unfreiheit. Vielleicht ist es heute anders. Ich hoffe es, aber es gab damals unglaublichen Druck, und der Druck war permanent. Es war der Druck zu versagen. Das hohe große Ziel war es, die Matura zu schaffen. Das war gleich von Anfang an klar definiert, also das war klar da, und das war von der ersten Klasse an das große Ziel. Wenn du das nicht schaffst, hieß es, wenn du zum Beispiel nicht in die Oberstufe kommst, wenn du also die Schule nicht schaffst, ist dein Leben verwirkt! Das war so ein bisschen das Grundthema von allem, und mit dieser Angst wurde auch operiert.

Auch die Eltern haben diesen Druck erzeugt. Und irgendwie war die Gesellschaft auch so drauf. Es drohte die Lehre oder ein Zurücksinken in die Hauptschule oder in eine HTL. Das waren so unglaubliche gesellschaftliche Abstiege, dass es, sobald man im Gymnasium war, einem Todesurteil gleichgekommen wäre. Es wäre einem lebensbestimmenden Prozess gleichgekommen, der nie wieder geändert werden konnte. Es gab ununterbrochen diesen Druck. Ich weiß nicht, wie ich ihn beschreiben soll, er war allgegenwärtig. Er hat das ganze Leben durchdrungen. Das ist mit Unfreiheit gemeint. Man hatte ganz lange Zeit überhaupt keine Idee davon, wohin das münden solle; man hat gewusst, es gibt nachher die Universität. Da ist dann alles besser und so ein Studium, das dauert drei Jahre, aber es war in so weiter Ferne. Die Matura war das Licht am Ende des Tunnels.

Ganz am Anfang gab es ja nicht Semester, sondern noch Trimester und ich kann mich erinnern, dass ich eine Aufnahmeprüfung absolvierte, obwohl sie gerade er abgeschafft worden war. Es war relativ bizarr, der Direktor stellte ein paar Fragen: Ist ein Wal ein Fisch oder ein Säugetier? Wie viel ist 7 mal 8 und 13 mal 2, und die C-Dur Tonleiter. Das war eigentlich sehr seltsam. Wichtiger indes waren die Eltern, also welcher gesellschaftlichen Schicht sie entstammten. Für die Schule war wichtig, dass die Eltern die richtigen Eltern sind, und daraus ergibt sich sozusagen die Richtigkeit der Schülerinnen und Schülern, und nicht umgekehrt. Das hat sich aber in meiner Schulzeit stark gewandelt. 1970 war noch eine ganz andere Zeit. 1971 gab es ebenfalls ein Jubiläum, allerdings das Hundert-Jahre-Jubiläum der Wasagasse. Das ist jetzt schon 50 Jahre her, aber damals war es für mich unvorstellbar, dass etwas hundert Jahre existieren kann.

Es war für mich eine lange Zeit. Woran ich mich erinnere ist die permanente Müdigkeit. Ich war ununterbrochen müde. Ich kann mich nicht an Munterkeit erinnern, es war immer ein Kampf gegen die eigene Müdigkeit in der Schule, die Munterkeit konnte durch Pausen nicht wiederhergestellt werden. Das war, weil die Schule zu früh begann. Eine Stunde später hätte schon sehr viel gelindert. Und sie dauerte zu lange, die Schule. Die 6 Stunden, die wir durchgehend drinnen saßen!

Man hatte seinen Rhythmus und wußte ziemlich genau, in 5 Minuten ist es so weit, dann läutet es, auch ohne auf die Uhr zu schauen. Das ganze Leben war in Minutenschritte eingeteilt. Das Ende der fünften und sechsten Schulstunde war das Anstrengendste, weil man da schon starken Unterzucker hatte. Wir haben ein Schulbrot mitgehabt, und das musste man sich gut einteilen. Die Pausen waren sehr wichtig, um kommunikativ zu sein, in den Pausen konnte man mit den anderen Kindern kommunizieren.

Ich halte das gesellschaftliche Leben für das Wichtigste an der Schule, das Lernen, wie man miteinander umgeht, wie man Freundschaften pflegt. Dafür aber gab es zu wenig Raum. Die Nachmittage waren gefüllt mit Aufgaben. Ich kann mich jetzt nur permanenter Müdigkeit erinnern. Es gab Stunden, wo man schlafen konnte, Musik war sehr, sehr gut um zu schlafen, an gute Nickerchen kann ich mich erinnern, und dann kann ich mich erinnern, dass man eine andere Beschäftigung nebenher machte, zum Beispiel in den Kalender besondere Malereien hinein zu machen oder kleine Ersatzhandlungen vorzunehmen. Die Bank einzuritzen. In der der ersten, zweiten, dritten Klasse war es sehr wichtig, die Schulbücher mit Zeichnungen zu füllen und einen Raum, einen eigenen Raum zu finden, in dem die eigenen Regeln galten, und es war natürlich furchtbar, wenn das sichtbar wurde. Das hat die Betragensnote geschmälert. Es wurde nicht als das erkannt was es ist, als ein Refugium, ein persönliches. Das war für mich prägend. Was auch prägend war – aber das liegt im Wesen der Schule – ich habe ganz viel gelernt, aber mir damals gedacht, ich lerne das falsche.

Was empfinden sie davon auch heute noch als falsch?

Aus heutiger Perspektive? Ich kann es nicht beurteilen, wie die Schule heute drauf ist, weil ich in den letzten 30 Jahren genau 2 Stunden, und zwar heute, davon gesehen habe. Ich kann nicht wirklich beurteilen, wie die heutigen Lehrpläne aussehen. Aber ich weiß, dass es die Fächer noch immer gibt von damals, und diese Fächer, das wusste ich damals das Kind natürlich nicht, folgen einem humanistischen Kanon, der im 19. Jahrhundert aufgestellt worden ist, für eine ganz andere Gesellschaft. Man sollte konversieren können, vor allem in Französisch. Man sollte humanistische Bildung haben, Technik war nicht so gefragt, das war fast ein bisschen verpönt in diesem Zusammenhang. Die Gesellschaft hat sich auch geändert.

Geographie hat mich sehr interessiert, aber mir war bewusst, dass das ein Fach ist, das sonst niemanden interessiert. Biologie konnte ich identifizieren als wichtig, weil Medizin und das Leben und das Verständnis für organische Vorgänge wichtig waren. Aber schon Physik und Chemie, die Tatsache, dass diese Fächer getrennt waren, das ist mir sehr komisch vorgekommen. Mich haben Sprachen schon sehr interessiert, aber eigentlich wurden nur zwei Sprachen angeboten, die anderen waren Freifächer. Da hätte man sich mit dem Müdigkeitsgrad, den wir durchwegs gehabt haben, sehr überwinden müssen. Oder irgendwelche Tabletten nehmen müssen, die es damals nicht gab. In der Freizeit hätte man Französisch und Italienisch lernen können. Englisch war sehr wichtig für mich, denn es konnte ganze Welten öffnen, und dafür war ich sehr dankbar. Latein wurde uns anders verkauft. Es hieß, wenn du Medizin studieren möchtest, dann musst du Latein können. Aber man hat nichts Relevantes für Medizin in Latein gelernt, sondern eigentlich nur die Grammatik, die verstörend kompliziert war am Anfang und für mich mit Sprache sehr wenig zu tun hatte. Es wurde gesagt, die Struktur von Latein sei so genau, dass man, wenn man das könne, alles könne. Interessanterweise stimmt das sogar. Das Englische erschließt sich mir über das Lateinische, die englischen Fremdwörter sind für mich übers Lateinische viel besser begreifbar, nur hat das damals niemand so erzählt.

Zwischen den Fächern gab es keine Überlappungen, zumindest keine, die ich gespürt hätte, und Latein war sehr, sehr anstrengend, weil es aus einer toten Welt gekommen ist und weil dieses Tote überpräsent war. Wir lasen Texte, die ich zum Teil noch immer auswendig aufsagen kann, weil das ein Teil dieser spezifischen Lateinlehre, ja der Kultur des Lateinlehrens war. Latein ist ja noch älter als alle anderen Unterrichtsfächer, damit wurde eine Tradition transportiert. Das konnten wir natürlich überhaupt nicht einschätzen, und das wurde uns auch nicht erzählt. Es gab hier in dieser Schule, das passt hier gut rein, eine Kammer, im Erdgeschoss, und zwar genau in der Ecke Hörlgasse – Wasagasse, die gehörte einem Professor. Ich glaube, er hieß Lanz oder so, und der hatte ein Freifach. Das hat mich sehr fasziniert, denn da kamen immer wieder, unsere Klasse lag in dieser Ecke, für mich damals als Erwachsene empfundene heraus, aus dieser Kammer. Die hatten dort das Freifach Sanskrit belegt. Sie waren ungefähr doppelt so groß wie wir, es können nur Achtklässer gewesen sein und Siebtklässer, und es waren fast nur Männer. Es gab ganz wenig maturierende Mädchen. Das hat sich dann stark in Richtung Fifty-Fifty geändert. Als ich in der 1. und 2. Klasse war, waren wir sozusagen der erste Schub von gender-equalen Kindern. Die Klassen waren aber größer, 31, 32 Kinder. Es wurde damit gerechnet, dass sich die Klassen ganz natürlich dezimieren. Die verkleinern sich selber, hieß es, und dann werden aus drei Klassen zwei.

Einer unserer Mitschüler hat sich im Klo erhängt. Es hieß, es sei ein Unglücksfall gewesen. Ich glaube aber, dass er depressiv war, dass es sozusagen ein Kindersuizid war. Wie der auf die Idee gekommen ist? Keine Ahnung. Es war nicht zu verhindern, es gab keine Anzeichen. Und es wurde nachher nicht mehr viel darüber gesprochen.

Wie alt war das Kind?

Es war in der ersten Klasse.

Ich erinnere mich auch noch dran, dass wir sehr viele Mitschülerinnen und Mitschüler aus anderen Ländern hatten. Heute würde man das vielleicht anders ausdrücken, aber es war sicher ein Drittel nichtdeutscher Muttersprache, konnte aber trotzdem blendend sprechen. Weil das Gymnasium damals einen anderen Magnetismus hatte, kamen die entweder aus Diplomatenfamilien oder aus Familien, die den gesellschaftlichen Aufstieg schon geschafft hatten. Es war ganz normal, eine Vielzahl unaussprechlicher Namen kennenzulernen. An das erinnere ich mich: Dass das eben normal war. Aber dass ich mich erinnere, dass es normal war, gibt einen Hinweis darauf, dass es für andere nicht normal gewesen ist, sonst würde ich ja gar nicht drüber sprechen. Dass es normal war, war offenbar nicht normal, aber wir haben es als normal empfunden.

Und auch gemischte Klassen, außer in Turnen. Leibeserziehung hieß das damals, Leibeserziehung für Mädchen und Leibeserziehung für Knaben. Aber niemand sagte das so, es hieß „Turnen“, auch heute noch? Es gab noch einen anderen Namenswechsel, und zwar den von Naturgeschichte zu Biologie. Geschichte wurde nicht mit dem Buchstaben G abgekürzt im Stundenplan, sondern mit H, wegen History. Daran erinnere ich mich, auch daran, dass wir es Reflexion über die Bezeichnung dieser Fächer gab, wahrscheinlich auch, um Geschichte von Geographie zu unterscheiden. Und dann hatten wir ein Fach, ich weiß nicht, ob ich das heute noch gibt, es hieß DG, Darstellende Geometrie.

In gewissen Schulzweigen gibt es das noch.

Ich bin dann in den realistischen Zweig gekommen. Da hatten wir jeden Tag Mathematik, manchmal sogar 2stündige Mathematik. Für mich war damit Mathematik noch stärker lebensdurchdringend als Latein.

Die Müdigkeit war Teil einer Polarität, eines Wechselspiels vieler Pole. Interessanterweise habe ich gute Erinnerungen an Religion, obwohl ich sehr areligiös bin, aber Religion hab ich nicht als gegenpolig empfunden, sondern als fast sowas wie freundlich entgegenkommend.
Turnen war auch eine Art Refugium, in dem alles anders war, in dem eine Art von Freiheit möglich war.

Musik hingegen war anstrengend, weil ja damals gerade die eigene Musik wichtig geworden war: Rockmusik. Für manche war das dann auch schon Jazz, aber Rockmusik war so präsent, man kann sich gar nicht vorstellen, wie wichtig war. Als Antithese zur Musik in der Schule, und ich kann mich erinnern, dass wir versucht haben, damit kleine Breschen zu schlagen in den Lehrplan. Obwohl der Lehrer selber Jazzpianist war, hat er sich an den Lehrplan halten und mit uns über Schubert und Bach, Beethoven und die Klassik reden müssen, und das auch vorspielen. Da konnte man immer gut schlafen, und ich habe das gern gehabt, im Musikunterricht zu schlafen. Natürlich musste man dann reflektieren und viel Wissen abrufen, über die Dinge, die man beim Schlafen versäumt hatte.

Ein Beispiel für eine dieser Breschen, die wir geschlagen haben: Wir haben etwas mitgebracht von der Gruppe „Emerson, Lake and Palmer“, die hatten eine elektronische Version von Mussorgskys Pictures at an Exhibition eingespielt. Das durfte man mitbringen und es wurde vorgespielt, weil es von Mussorgsky war, und dann war da eine Einspielung auf einem Moog-Synthesizer von verschiedenen Bach-Stücken, die Platte hieß Switched on Bach, und auch das durfte man vorspielen. Obwohl der Synthesizer ein Teufelsinstrument war, schlimmer als Mord oder Totschlag, und die Musik ruiniert hat, aus Sicht der klassischen Musiker. Obwohl es moderne Musik schon gab in der schulischen Welt, war es noch eine Zeit, in der noch ganz viel aus dem 19. Jahrhundert hochgehalten wurde. Wenn man also auf dem Synthesizer Bach spielte, war das okay, das ging grad noch, aber das waren Schallplatten und Schallplatten waren unermesslich teuer.

Auf dem Weg hierher habe ich mich erinnert, wie unsere Schultaschen ausgeschaut haben und ich hatte keine Idee mehr, wie meine Schultasche aussah. Wir hatten keine Schultaschen, sondern Army-Taschen. Das waren Umhängetaschen, die ein ganz langes Band hatten. Es waren original amerikanische Militär-Taschen, in denen, ich weiß jetzt nicht, Munition oder irgendwas in der Art transportiert wurde. Sie eigneten sich hervorragend zum Transport immens teurer Schallplatten. Und es war ganz wichtig, auf diese Army-Taschen mit Kugelschreiber die Namen der Lieblingsgruppen draufzuschreiben: The Who, Deep Purple, Pink Floyd, ELP, das hieß Emerson, Lake and Palmer. Ein bisschen weniger beliebt waren Uriah Heep und The Rolling Stones. Kann man sich gar nicht vorstellen, Bob Dylan hat überhaupt niemanden interessiert, das war nicht rockig genug.

Ein wichtiger Teil der Schule war, sich minutiös über diese Dinge zu unterhalten, über bestimmte Rocknummern. Irgendjemand hatte eine Schallplatte mitgebracht und die ist dann im Kreis gegangen, wurde eine Woche verborgt an die und eine Woche an den, und ist dabei natürlich immer schlechter geworden, zerkratzer. Aber man konnte sich in dieser Woche die gesamte Magie der Rock-Gruppe einverleiben und war Teil einer Geheimgesellschaft.

Haben sich Beziehungen oder Freundschaften aus dieser Zeit erhalten?

Wir machen manchmal Maturatreffen. Eigentlich alle 10 Jahre. Niemand plant es, weil es sehr kompliziert ist, die Namen, die Adressen wiederzufinden, aber es gibt erstaunlicherweise immer wieder jemand, der es organisiert. In meiner Erinnerung findet das alle 10 Jahre statt, und da treffen alle zusammen. Das Interessante bei diesen Maturatreffen ist, dass sich nichts geändert hat. Nichts. Also wer mit wem gut ist. Es ist wie damals in der Schule, es hat sich nichts geändert. Nur sind alle älter, dünner oder dicker, also älter im Sinne von körperlich älter geworden. Auch die Lehrer. Das einzige, was sich ein bisschen verändert, und das hab ich seltsam in Erinnerung, ist die Tatsache, dass die Lehrer ihre – ich kann es nur so sagen, wie ich es jetzt sagen werde – ihre Dämonie verlassen haben und Menschen geworden sind. Weil diese Hierarchie nicht mehr da ist. Das ist sehr angenehm. Die unangenehmsten Lehrer werden plötzlich zu lieben, netten Menschen. Es muss also das System sein, dass das mit uns macht oder gemacht hat, dass wir manche Lehrer fürchteten. Das ist ein interessanter Bericht: Die Furcht vor Lehrern. Es gab Furcht.

Wir haben ganz am Anfang über den Schüler Gerber gesprochen. Ich glaube, dass das ganz gewiss keine Schrift war, die Lehrer selbst empfohlen hätten, das wurde eher illegal gelesen, weil das Buch ja vom Verhältnis von Schülern und Lehrern handelt. Es handelt vom missgünstigen und dämonischen Lehrer, Gott Kupfer genannt, und es spielt in der Wasagasse, der Torberg hat seine eigenen schulischen Erinnerungen in einem Roman verarbeitet, ich glaube es war der erste, mit dem er überhaupt bekannt geworden ist. An das erinnere ich mich, das haben wir uns illegal besorgt, wussten aber nicht, dass es in der Wasagasse spielt, ja, das hat uns niemand erzählt. Es steht auch nicht im Buch. Aber sobald man gelesen hat, wie die Architektur der Schule beschrieben wird, diese kleine Gasse, auf die wir jetzt blicken, die Türkenstraße, die eigentlich eine Gasse ist, im Vergleich zur Hörlgasse, die eine Straße ist. Die ist abschüssig, und das haben wir sofort erkannt. Und auch die Beschreibung der Schule, also der Dämonie, die manche Lehrer, oder die Macht, die sie hatten.

Und dann komme ich wieder zurück zu diesem Ausgeliefertsein, das ich erst in der Schule kennengelernt habe. Das hat mir nicht gut gefallen. Ob das mit der Zeit zu tun hat, oder ob das noch alte Echos waren aus einer Zeit, die es gar nicht mehr gab? Was ich eigentlich glaube, dass nämlich Schule in einem technischen Sinn konservativ ist, also eine Gesellschaft, die draußen nicht mehr existiert, noch bewahrt. Sie ist eigentlich eine Nacherzählung anderer Zeiten, wofür es ja auch Gründe gibt, denn man kann ja die Zukunft nicht besprechen, sie hat ja noch nicht stattgefunden.

Politische Agitation war immer verboten. Was ich heute miterlebt habe, dass in der Klasse diskutiert wurde über Klimawandel, das hätte man ja auch damals schon machen können, war ja damals auch schon ein Thema. Vielleicht gab es progressive Lehrer, die das versucht hätten, so ein bisschen aus einem eigenen Antrieb. Ich kann mich erinnern an einen Zeichenlehrer, der hat uns beigebracht hat wie Filmen geht, aus eigenem Interesse, das war nicht vorgesehen.

Es hat ja auch nicht Zeichnen geheißen, sondern Bildnerische Erziehung. Da gab es noch so ein Wort, Werkerziehung hieß das. Werkerziehung für Knaben und Werkerziehung für Mädchen. Dass Mädchen da vielleicht lernen, wie man eine Zange benützt oder Laub sägt, oder umgekehrt Buben, es hieß damals Buben und Mädchen, nicht Knaben und Mädchen, Buben und Mädchen waren die Ausdrücke. Also es gab seltsame Wörter aus vergangener Zeit, Buben und Mädchen, und Buben haben sich heimlich nähen und stricken beigebracht, und Mädchen heimlich Werkzeuge benützt. Das war nicht vorgesehen.

Was aber überhaupt nicht verhindert werden konnte war, dass sich Liebe und Verliebtheiten eingestellt haben, und das war eine ganz wichtige Sache. Es war kein Ventil, sondern alles durchdringend, noch mehr als die Müdigkeit. Verliebtheit und das Verhältnis der Geschlechter waren bestimmend und durchdringend. Auch Verliebtheiten in Lehrer und Lehrerinnen waren bestimmend. Anders als heute haben da auch Beziehungen stattgefunden, von denen alle wussten. Mit Schwangerschaften, von denen alle wussten. Man wusste es, hat aber so unter der Hand gesagt, dass die in der Siebenten, weißt eh, von wem die schwanger ist. Weniger Kinder waren von einander schwanger, vielleicht ein Hinweis darauf, wie weit Beziehungen gegangen sind. Aber es waren immer zwei, drei Mädchen in der Siebenten oder Achten schwanger. Ja, heute wäre das undenkbar.

Ich kann mich erinnern, dass die Schulschikurse für die Lehrer, eigentlich für die Turnlehrer, unglaublich anstrengend waren. Erstens haben sie ihre eigenen Pantscherln auf den Schulschikursen mit den anderen Lehrern gehabt. Turnlehrerinnen und Turnlehrer konnten dort sehr viel machen, was sie zu Hause nicht gemacht haben. Die Kinder hätten das vielleicht auch wollen, so ab der 3., 4. Klasse, aber da wäre der Turnlehrer der Vormund geworden. Nein, er hätte tatsächlich Schuld getragen an der Schwangerschaft, und er hätte Alimente zahlen müssen. So wurde es erzählt, ob das stimmt oder nicht müssen Jus-Historiker beurteilen. Aber das war ganz präsent und auch die Frage: Wer geht mit wem?

Da gab es manchmal, das ist wahrscheinlich heute auch noch so, Show Cases. Das „Gehen“ war eher die Proklamation von einem Verhältnis. Man hat gefragt: „Gehst du jetzt mit mir?“ oder „Ich würde gerne mit dir gehen“. Dann hat man gesagt: “ Wir gehen jetzt miteinander“, aber das hat überhaupt nichts beinhaltet. Über die Sachen, die schon schärferer Natur waren, ist weniger gesprochen worden. Da hat man gespürt, oh da ist was Ernstes, aber es hat nicht „ernst“ geheißen, es gab dazu keine Begrifflichkeiten.

Die sind „zusammen“?

Nein, das hat man auch nicht gesagt. „Miteinander gehen“ habe ich ganz deutlich in Erinnerung. Wahrscheinlich war das Sprechen darüber tabuisiert, aber man hat es gewusst. Man hat es auch vor allem gewusst, wegen der sogenannten Partys. Es gab immer irgendwelche Eltern, die einen Wochenendurlaub gemacht haben, und dann wurde dort sofort Party gemacht. Das war das Wichtigste überhaupt, und Party war fast jede Woche, natürlich immer am Wochenende. Und diese Wohnungen wurden ausgiebig verwüstet. Wichtig war, dass man dort schmusen konnte, „schmusen“ war ein Wort. Damit hat sich ja überhaupt erst das Sprechen über Sexualität in der Gesellschaft etabliert. Was die Eltern an sexueller Befreiung durchmachten, konnte man auf kleiner Ebene gleich mitmachen.

Es hat nur eine Angst gegeben. Die vor Schwangerschaften. Man hat nicht gesagt „vor ungewollten Schwangerschaften“. Maximal haben Mütter davon gesprochen, dass verhütet werden solle, vielleicht auch vereinzelte Väter. Man hat gesagt: „Geh in die Apotheke, die werden dir schon sagen, wie das geht.“ Das war etwas, das Familien nicht miteinander besprochen haben. Das haben auch Kinder nicht miteinander besprochen. Ich kann mich aber schon erinnern, dass wir in Biologie „aufgeklärt“ wurden, nur waren wir schon alle davor aufgeklärt. Niemand wurde wirklich aufgeklärt, es war eher eine Art Bekanntmachung, dass man jetzt offiziell in dem Alter sei, in dem man aufgeklärt werden solle, obwohl, wie gesagt alle schon aufgeklärt waren. Vorher hätte man es ja nicht verstanden, die Körpersäfte nicht zuordnen können und sich nichts unter dem Begriff „Geschlechtsmerkmal“ vorstellen können. Es war sozusagen der Schritt vom kindlichen ins Erwachsenenalter. Der war radikal, nur hat niemand Pubertät dazu gesagt. Das gab es nicht, das Wort. Man war Kind und dann war man eine Frau, aber auch das hat niemand so gesagt. Sexualität wurde nicht in Sprache gegossen.

Ich erinnere mich, dass es trotzdem Momente gab, in der 6., 7. Klasse, wo es Simulationen von Fernseh-Gesprächsrunden gab, sowas wie eine Art Club 2 für die Schule. Da wurde gesprochen über Sexualität, und da war ich mal eingeladen bei so einer Gesprächsrunde als Teilnehmende und habe mich selbst gewundert, wie gut es mir gelang, über Sexualität so zu sprechen, wie man über Buntstifte redet. Ganz normal die tabuisiertesten Dinge zu besprechen. Da ist mir selber aufgefallen, wie normal mir etwas war, was offenbar davor nicht normal war. Das muss aber mit der Gesellschaft insgesamt zu tun gehabt haben.

Wichtig war es auch, in Filme zu gehen. Das Kino war noch eine Form von, nicht Refugium, sondern Paradies, ein Ort, an dem man ganz weit wegreisen konnte. Das kann man sich heute kaum vorstellen, weil es so wenig Kinos gibt, und Film nicht mehr so präsent ist. Aber ins Kino zu gehen und Filme anzuschauen, das waren große Expeditionen, und ganz wichtig. Es gab auch im Umkreis von hier mehrere Kinos.

Eine eminente Erfahrung vergaß ich zu erwähnen: Schulschwänzen war eine ganz wichtige Sache. Da gab es doch gerade eben eine Debatte, ob man bei dieser letzten Demonstration, die glaub ich diesen Freitag war, wo es drum ging, dass Schüler entweder nur unter Erlaubnis ihrer Klassenvorstände oder zusammen hingehen durften. Das Hingehen galt als unentschuldigtes Fernbleiben. Und der Minister hatte davor auch eindrücklich gewarnt, man sah so richtig, wie er sich windet, eigentlich gefällt ihm das eh ganz gut, merkte man, andererseits kann er es nicht zugeben, weil der Minister von einer rechten Regierung sowas nicht gutheißen kann. Also jedenfalls nicht, wenn es um die Natur geht.

Zurück zu unserer Schulzeit. Das Managen von Schulschwänzen war damals ganz wichtig. Es war eine richtige Managementaufgabe. Erstens: Wo? Wann? Mit wem? Wie lange? Das waren die wichtige Fragen. Und: Kann ich es mir leisten? Man war dann plötzlich, überraschend krank bei einer Schularbeit, aus dem Nichts, hat hohes Fieber gehabt – das Thermometer wurde zwischen den Händen gerieben, oder auf die Heizung gelegt (im Sommer ging das natürlich nicht), und da hat man dann spontan Fieber bekommen und musste zu Hause bleiben.

Meine Eltern haben diese Spiele gar nicht mitgemacht, ich habe nur gesagt, „ich kann heute nicht, ich bin so fertig, ich will heute nicht“. Das Schulschwänzen war eingeteilt in zwei ganz unterschiedliche Bereiche: Zuhause bleiben, oder Schulschwänzen und Wegbleiben – das hat in Wien „Schulstangeln“ geheißen. Das Zuhause bleiben war aber sehr lohnend, weil man das Vormittagsfernsehen sehen konnte. Was könnt ich werden? war eine wichtige Sendung. Im Radio gab es Sendungen von Walter Richard Langer über ganz besondere Jazzsachen. So war es also eine Zeit der Ausbildung, wenn man zu Hause geblieben ist. Russisch gabs auch schon, aber das Schichtarbeiterfernsehen wurde zum Großteil von uns Kindern geschaut. Und die haben das schon ganz gut hingekriegt. Also, dass man dann vor dem Fernseher geklebt ist, das war das Schulschwänzen zu Hause.

Das öffentliche Schulschwänzen bestand darin, ins Kaffeehaus zu gehen. Es gab noch mehr Kaffeehäuser hier in der Gegend, eins in der Türkenstraße, nein in der Berggasse, es hieß Café Liechtenstein, da ist jetzt eine Pizzeria drinnen oder ein Chinese. Dann gabs in der Kolingasse das Votivcafé, das ist jetzt irgendeine Art Bistro. Das waren eigentlich die beiden. Das wichtigere war das Café Liechtenstein, und dorthin sind auch Lehrer hingekommen, und interessanterweise haben die dazu geschwiegen. Meistens sind sie hingekommen mit irgendeiner anderen Lehrerin. Das waren immer illegale Pantscherl von Lehrern. Die haben gewusst, dass sie nicht verraten werden, wenn sie sich dort zeigen, und wir, dass wir nicht verraten werden.

Ich erinnere mich, dass das auch mit Geld zu tun hatte. Denn man konnte nicht in ein Kaffeehaus gehen ohne zu konsumieren, und wir waren ja immer zu viert oder zu fünft. Man hat gewusst, es ist sicher jemand anderer Schulstangelnder auch da, man hat bestellt ein Achtel Soda und eine Mannerschnitte. Damit konnte man drei, vier Stunden zubringen. Kaffee hat niemand getrunken, das war kein Getränk damals. Ich erinnere mich aber, dass es Kinder gab, die schon Alkoholiker waren. Sogar in der Unterstufe, und wo man auch gemerkt hat, dass die besoffen waren, sich davor irgendwo ein Bier besorgt haben. Wir haben nicht so genau gewusst, was da los ist, aber sie haben gesagt, „ja ich habe mir jetzt ein Bier eineghaut“. Das war so ein komischer, sehr seltsam entrückter Zustand.

Rauchen war auch ganz wichtig, um dabei zu sein. Es gab ein Raucherkammerl in der Schule, es war der zentrale Kommunikationsort, die Keimzelle, nein nicht Keimzelle, sondern das Herz der Schule, und es hat bestialisch gestunken dort. Es war völlig zugenebelt, aber es waren alle Wichtigen da, und da wurden die wichtigen Bücher mitgebracht und ausgetauscht.

Es war wichtig, ein Buch in der Jackentasche zu haben. Ein ganz bestimmtes, zum Beispiel Sartre, irgendetwas von Sartre, oder irgendwas aus dem Suhrkamp Verlag oder irgendwas aus dem Residenzverlag, um zu sagen: „Das lese ich gerade.“ Steppenwolf von Hesse, oder Siddhartha, das waren die wichtigen Bücher. Also überhaupt, Hermann Hesse hat eine so unglaubliche Wichtigkeit gehabt in dieser Zeit. Ich versteh noch immer nicht, warum das so war. Aber ich erinnere mich, wie ich das gelesen habe, es war wunderbar! Der Hesse ist einer von uns, war das Gefühl, und Steppenwolf nicht nur ein Buch, sondern die Musik der Band Steppenwolf. Das war keine berühmte Combo, aber diese Kombination eines Hermann-Hesse-Buchtitel und wilder Rockmusik hat beide legitimiert. Die Band Steppenwolf lieferte ja auch die Musik für den Film Easy Rider. Mit Hermann Hesse verbunden war also die verbotene, gesuchte Welt.

Oder das Glasperlenspiel, das war so undurchdringlich, ein unglaublich dickes Buch, fünfmal so dick wie Siddhartha und viermal so dick wie Steppenwolf. Ach, haben wir das geliebt! Das musste man lesen, und ja, es gab zwar Philosophieunterricht, aber das waren lauter fade Leute, die Philosophen. Nichts was man in Philosophie gelesen hatte, konnte man ins Raucherkammerl als Literatur mitnehmen. Und nichts was man im Musikunterricht gehört hatte, hätte man als Schallplatte mitgenommen.

Wichtig war auch die Schulband. Im Festsaal hat an bestimmten Nachmittagen die Schulband ein Konzert gegeben. Das war unfassbarer Krach. Unfassbar laut und progressiv. Ich habe vergessen, wie die Bands hießen, hab aber selber in einer gespielt und war Teil dieser Wirklichkeit ab der fünften und sechsten Klasse. Als ich noch jünger war, waren das richtige Götter, die Menschen mit Stromgitarren. Es gab da oben in der Alserstraße ein Musikgeschäft, es hieß „For Music“,  und ich erinnere mich, dass ich, obwohl ich müde war, jeden Tag ins „For Music“ gegangen bin und mir die Stromgitarren angeschaut und sie bewundert habe. Ärger als in einem Zuckerlgeschäft bewundert habe. Es hat eine religiöse Verzückung gegeben, anders kann man es gar nicht beschreiben.

Es gab diese Vermischung von Sinnlichkeit, von Liebe und Verliebtheit und Sexualität und Fremdbestimmung und Zeitmanagement und Erkenntnisgier. Ich war schon sehr gierig darauf, zu verstehen, wie die Welt funktioniert. Ich habe es eingangs schon gesagt, die Schule hat es nicht immer ganz verstanden, diese Gier zu stillen. Sie hat sie oft zugedeckt mit falschen, oder unbrauchbaren Hinweisen und das hat mich sehr, sehr traurig gemacht. Aber ich habe kein Ventil gehabt dafür. Es gab welche, die dann in der sechsten, siebten Klasse aufgehört haben. Die haben einfach aufgehört, sie haben gesagt: Ich habe keine Lust mehr. Es hat sich meistens angekündigt durch viele Fehlstunden, oder Haschischrauchen, durch eine Art von Interesselosigkeit.

Auch mir wurde attestiert, ich sei rauschgiftsüchtig. Ich habe aber weder geraucht noch Alkohol getrunken, oder irgend sonstwas genommen. Ich war nur „auf Musik“. Für mich war Rockmusik so wichtig, und ich habe meine Müdigkeit mit Schulschwänzen bekämpft. Das ist mir als Drogensucht ausgelegt worden. Mein Vater war sehr entsetzt, er musste mit mir ein Gespräch über Drogensucht führen. Empfehlung des Professors. Mein Vater war aus einer noch viel älteren Generation, gewissermaßen vormodern, für ihn waren Drogen irgendwie nicht real. „Was ist eine Droge? Sowas gibts ja gar nicht!“ Für ihn war das gar keine Bedrohung, also hat er mit mir eigentlich nur technisch geschimpft: „Du musst das mit deinem Klassenvorstand regeln, weil ich habe keine Lust für diesen Blödsinn. Sag, dass du das nicht machst und damit ist es erledigt.“ Und die, die wirklich geraucht haben, sind unentdeckt und unbetreut geblieben und haben ihre Schulkarriere hingeworfen. Interessanterweise sind die Mädchen, die schwanger waren, durch die Schwangerschaft nicht aus der Schule geflogen. Also weder selbst noch durch Fremde, die hatten dann einfach Kinder zu Hause. Also ich kann mich nicht erinnern, dass sie ihre Schulkarriere beendet hätten.

Und wie hat ihr Alltag ausgesehen?

Der Alltag war minutiös durchstrukturiert. Es gab einen Stundenplan, es war alles auf die Minute planbar, es gab kaum ein Entkommen. Ich erinnere mich, dass ich mir manchmal einen Samstag weggezwickt habe und diese unfassbare Freiheit genossen habe, dass ich an einem Samstag in die sogenannte „Stadt“ gehen kann, um dort, ich weiß nicht, irgendwelche Auslagen anzuschauen. Das wäre ansonsten nicht gegangen, als Schulkinder waren wir nicht in der Welt draußen. Wir waren eigentlich eingefangen, ich versteh schon, warum das notwendig ist und dass das auch nicht anders geht, aber es war ein Gefühl des Eingesperrtseins, und das Studieren hat das behoben. Aber das war ein Teil einer komplexen Erzählung, das eine hat das andere bedingt. Diese Karotte war immer vor der Nase: Wenn du die Matura schaffst, wird alles gut. Alles wird gut.

[Gab es sonst noch Zukunftswünsche?]

Niemand hat gesagt: „Ich heirate“. Vielleicht ist das erst später gekommen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass irgendjemand einen sogenannten Ehewunsch gehabt hätte, im Gegenteil. Sexualität war eh präsent, das hat man also durch die Ehe nicht bekommen. Kinder sind halt passiert, und man ist dann halt lieb zu den Kindern, hieß es, und kümmert sich um sie. Wenn wirklich irgendwelche ehemaligen Schulkolleginnen oder -kollegen geheiratet hätten, hätte man sich gedacht: „Was ist denn da passiert, irgendwas stimmt da nicht mit denen!“ Das war weder ein Ziel noch ein Wunsch noch irgendeine Art von realistischer Hoffnung, weder für Knaben noch für Mädchen, aber, und jetzt kommen wir zu etwas, was trotzdem sehr seltsam klingt.

Es gab nur eine sehr überschaubare Studienauswahl. Im letzten Jahresbericht musste man jeweils bekanntgeben, was man vorhätte zu studieren, und ich habe mir das genau angeschaut, weil ich nicht wusste, was man da schreibt. Man kann ja nicht hineinschreiben: Rockmusikerin oder Jazzpianistin oder irgendwas in der Art. Da ist dann immer gestanden, in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeiten: Jus, Medizin, Pharmazie, Lehramt, Architektur. Aus. Mehr gab´s nicht. Lehramt war sehr, sehr wichtig. Ich würde meinen, ein Drittel aller Maturierenden, die hießen damals alle „Maturanten“, hat gesagt: Lehramt! Das hat zwar nicht gestimmt, aber Lehramt galt als ganz wichtig. Es haben ja alle, die in der Schule unterrichtet haben, ich glaube, es waren 90%, selber Lehramt studiert. In der Hierarchie war es weiter unten. Wenn man keine Idee hatte und nichts konnte: Jus. Vielleicht Jus und dann heiraten, oder Jus und dann Richter. Also solche Sachen.

Und Ihre eigene Wahl, wie ist die zustande gekommen?

Ja, ich habe in meinen Jahresbericht hineingeschrieben: Architektur. Ich wollte eigentlich Philosophie studieren und Kunst, das wäre ein Doppelstudium gewesen, und das ist nicht gegangen, denn diese Kombination war nirgends vorgesehen. Also musste ich auf der Uni zwei Fächer belegen. Das ist heute absurd, aber ich musste auf der Uni zwei Fächer belegen. Eines, das mich interessiert hat, und eines, das mich zumindest nicht ganz abgestoßen hat. Gleichzeitig war ich auch noch auf der Akademie der Bildenden Künste. Diese Kombination war völlig undenkbar, und daher ist es auch nicht gegangen. Ich musste mich also entscheiden. Wo sie mich lieber gehabt haben, das war auf der Kunstakademie, denn da hatte ich eine Aufnahmeprüfung machen müssen. Der Prozentsatz derer, die dort nicht hineingekommen ist, war sehr hoch. Diese Chance wollte ich nicht gehen lasse, dass ich da reingekommen bin.

Später im Leben habe ich mir dann die Uni dazugeholt, mehr oder weniger als Wiedergutmachung einer schändlichen Verletzung, die mir das System angetan hat. Das hat sich bis heute durchgezogen, wie man ausgebildet sein muss, damit man in diesem System, das damals in den Siebzigerjahren implantiert wurde, als vollwertiger Mensch gilt. Das ist sehr komisch. Also, dass ich dem nicht entkommen konnte. Niemals. Weil die Flucht ist ja auch nur eine Flucht vor etwas. Sie steht in Beziehung zu dem, wovor man flieht. Ja, und das, glaube ich, habe ich schon immer erkannt, nur konnte ich es nicht immer überwinden. Und seltsamerweise ist es nie weggegangen. Eine Zeit lang konnte ich diesen Ort hier, die Schule, nicht besuchen. Mir war das Gebäude so widerwärtig, dass ich Beklemmungen bekam. Das ist nach ungefähr fünf, sechs Jahren vergangen. Der Ort selber war für mich belastet. Jetzt ist natürlich alles völlig weg, jetzt ist es hier romantisch für mich und lustig und schön.

Als mein Neffe Maximilian gymnasial eingeschult wurde, den ersten Schultag hier hatte, ich glaube das war sogar in der Klasse, in der wir heute gemeinsam waren, da habe ich zu seiner Lehrerin gesagt: „Ich bin auch vor vierzig Jahren in diese Schule eingetreten, und es ist, als ob es gestern gewesen wär.“ Und da hat sie gesagt: „Vor vierzig Jahren war ich noch nicht geboren!“ Da ist mir aufgefallen, wie die Zeit sich verschiebt. Früher war ein Jahr eine Welt, und vor zehn Jahren gab es Menschen hier, die mir erzählten, sie seien erst auf die Welt gekommen, als ich Matura gemacht habe. Das ist alles irgendwie so verschoben, weil ja mein Ich und meine Erinnerungen nicht weg sind, sondern noch immer ganz frisch und ganz da. Der Kalender hat mit einer rasenden Geschwindigkeit die Zettel heruntergezupft und auf einmal werden aus den Jahren fünf und dann zehn und dann zwanzig. Wohin ist die Zeit marschiert?  Sehr komisch, sehr, sehr, sehr komisch.

Ich hätte Sie dann noch gerne noch zu [einem Teil Ihres jetzigen] beruflichen Wirken interviewt. Mein Sohn und ich haben uns eingehend mit Ihren Karikaturen beschäftigt und uns natürlich köstlich amüsiert, glauben Sie uns wird das Lachen im Hals stecken bleiben?

Hoffentlich nicht! Ich nenne sie ja nicht Karikaturen, sondern einfach nur politische oder satirische Zeichnungen. Aber das hat mit meinem Begriff von politischer Karikatur zu tun. Mir gehts weniger darum, das Gesicht eines Herrschers bis zur Kenntlichkeit zu entstellen, sondern darum, eine uns allen bekannte Situation zu beschreiben. Das Lachen ist ja nur ein Lachen über etwas Bekanntes, das Lachen liegt ja sehr nahe bei der Trauerarbeit. Wir lachen über Dinge, die eigentlich gar nicht lustig sind. Ich bin ganz gegen jede Lustigkeit. Je ernster etwas ist, desto genauer kann man es mit den Mitteln der Satire darstellen. Es ist nicht meine Absicht, dass uns das Lachen je vergeht. Denn das Lachen ist nur unsere Methode das Weinen zu überkommen. Eigentlich sind die Sachen tragisch.

Ich bin sehr optimistisch. Geschichte wiederholt sich nicht. Das ist meine Erkenntnis. Früher hat man gesagt, Geschichte wiederholt sich, aber die Geschichte wiederholt sich nicht. Wir müssen Angst haben vor den Dingen, vor denen wir keine Angst haben. Es gibt andere Entwicklungen, die wir vielleicht gar nicht erkennen, in denen wir schon drinnen stecken, über die wir jetzt gar nicht lachen. Das ist das Eine, dass wir das vielleicht gar nicht erkennen können, wo die Gefahren sind. Oder dass wir die falschen Sachen als Gefahr erkennen. Und die andere Erkenntnis, weswegen ich Optimistin geblieben bin, ist die, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Es gibt ja dieses Diktum von Marx, demnach sich Geschichte das erste Mal als Tragödie, und das zweite Mal als Farce ereignet. Das heißt, wir lachen eigentlich über Dinge, die wir schon bewältigt haben.

Also der Rechtspopulismus in Europa kann Sie nicht mehr schrecken?

Nein, davor habe ich keine Angst. Es wird auch wieder vergehen. Das ist irgendwie eine gesellschaftliche Erektion. Trump ist eine unfassbare Klamaukfigur, aber ich glaube nicht, dass er den roten Knopf drücken wird. In den Siebzigerjahren hätte man gesagt, der wird den Atomkrieg entfesseln. Es gibt keinen roten Knopf. Dieser Koffer ist ein James-Bond-Utensil, den gibt es nicht.

Und die Codes für die Atomraketen gibt es auch nicht. Warum kann ich das sagen? Weil es, wenn es diese Mechanismen gäbe, schon passiert wäre. Also, das gibt es nicht, das sind Surrogate, die uns erzählt werden, damit wir das Gefühl haben, es gibt Symbole, die das ausdrücken. Die Macht gibt sich ein Symbol, in Wirklichkeit ist es ganz anders.

Aber mir hat das gut gefallen, dass die Schüler (ich weiß nicht, wie das in der Wasagasse war) gerade eben auf die Straße gegangen sind, um für ihre Zukunft zu demonstrieren. Das habe ich außerordentlich gut gefunden. Ich finde auch wichtig, dass sie erleben, dass es verboten ist. Das klingt paradox. Dass jemand sagt, machts das nicht, ist sogar wichtiger, als dass es alle erlauben, oder es begünstigen, weil eine Demokratie, wenn sie in Gefahr ist, muss immer gegen die Gefahr gerettet werden. Ich hätte plädiert, dass man es ein bisschen mehr verbietet. Dass das sehr viele waren, ist eine starke Hoffnung, weil die Generation davor nicht sehr viel demonstrieren ging, und die sind jetzt gerade regierend. Also die Generation Kurz und Blümel. Deren Ventil sich auszudrücken ist der Machtapparat. Wenn sie aber vorher mehr gegen die Macht ankämpfen hätten müssen, mit Aufstand, oder mit Schulschwänzen, dann wäre es jetzt nicht notwendig, die Macht so auszukosten.  Aber das sind jetzt schon wieder politische Sachen, und um die Frage abschließend zu beantworten, ob uns das Lachen im Hals stecken bleiben wird: Es soll überhaupt nichts im Hals stecken bleiben.

Welchen Rat, welchen Tipp, oder welche Botschaft würden Sie gerne unseren 18jährigen Schulabsolventinnen und -absolventen geben?

Ich habe gar nicht so viele Finger an den Händen wie Ratschläge, die ich geben könnte. Aber ich sage trotzdem: Das Bild mit den Händen ist ganz gut, weil die Finger gehören zu einer Hand. Wir haben zwar zwei Hände, aber nur einen Körper. Die Finger sind nicht nur Finger, sondern es gehört alles zusammen. Eine Sache ist: Alles wird besser, alles wird wieder gut. Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis. Wie schlimm auch immer etwas ist, es wird wieder gut. Die Guten gewinnen. Die Geschichte zeigt das auch: Die Guten gewinnen. Vorher gewinnen die Bösen, aber die Guten gewinnen, und die Guten sind besser als die Bösen. Das ist wichtig.

Die zweite Erkenntnis: Lass dir nichts gefallen, aber wähle deine Mittel klug.

Und das Dritte ist: Alle scheitern, auch du.

„Ich mache es nicht wie Frau Aschbacher“

Seit 20 Jahren beantwortet Autorin und Zeichnerin Andrea Maria Dusl im Falter als Frau Andrea knifflige Leserfragen -ein Gespräch über Besserwisserei, die Grenzen der Suchmaschinen und fluchende Wiener.

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Interview: BIRGIT WITTSTOCK, Stadtleben, FALTER 04/21 vom 27.01.2021.

Liebe Frau Andrea!“, so begann die erste Kolumne, „Ich hasse Abkürzungen: CIA, FBI, KGB, UdSSR, DDR und jetzt Willi Resetarits mit FUT. Was soll ich nur machen?“, fragte eine Doris König aus Wien-Ottakring. „Liebe Doris, ich fürchte, wir können da wenig machen, wir müssen da durch“, waren die Worte, mit denen Andrea Maria Dusl ihre Briefkastentantenkolumne „Fragen Sie Frau Andrea“ am 24. Jänner 2001 startete.

Die Frage bezog sich auf einen Telekom-Werbespot der damals gerade im Fernsehen lief und in dem Willi Resetarits einen angeblichen Leserbrief rezitiert. Der vermeintliche Verfasser, Kurt M., beschwerte sich darin über Abkürzungen und zählte F.U.T. auf. Die Frage, wofür F.U.T. stehe, führte zu wildesten medienpolitischen Spekulationen. Frau Andrea meinte, Gerüchten zufolge habe Resetarits mit FUT nichts anderes gemeint als „Ferdammt und Tsugenäht“.

Zu jener Zeit war „googeln“ in Österreich weder eine verbreitete Tätigkeit noch ein bekannter Begriff, SMS-Akronyme stiegen gerade zur neuen Geheimsprache für digital Eingeweihte auf, und eine unüberschaubare Menge an Informationen schwappte in die Wohnzimmer jener glücklichen 2,65 Millionen Österreicher, die bereits online waren.

Das war der Moment, den Andrea Maria Dusl gewählt hatte, um als Frau Andrea von Falter-Lesern eingesandte Fragen zu beantworten. Ganz oldschool, einmal wöchentlich auf Papier gedruckt.

20 Jahre ohne Pause und an die 1000 Auskünfte später schicken ihr die Leute immer noch allwöchentlich Fragen, die sie umtreiben und auf die sie keine Erklärung finden. Das Navigieren im Informationsdickicht der Moderne hat sich doch nicht als ganz so einfach erwiesen. Nur Frau Andrea schifft gekonnt hindurch.

Falter: Liebe Frau Andrea, ein schneller Live-Check: WMDS?

Andrea Maria Dusl: WMDS? Keine Ahnung! Frau Andrea würde WMDS erst einmal in Google eintippen und etwa 30 Antworten zu der Abkürzung bekommen. Dann schaue ich je nach Erkenntnis auf die deutsche oder englischsprachige Wikipedia und könnte von dort weiterarbeiten. Es ist sehr bezeichnend, dass ich die Abkürzung jetzt nicht kenne, denn ich habe von vielen Dingen keine Ahnung. Manchmal habe ich eine Idee, manchmal einen Verdacht, eine hermeneutische Disposition und dann hangle ich mich durch verschiedene Quellen. Was heißt WMDS?

Falter: WMDS bedeutet auf Internetisch „Was machst du denn so?“- eine kleine Referenz an Ihre erste „Fragen Sie Frau Andrea“-Kolumne, die sich um Akronyme drehte. Sie waren damals Zeichnerin, Kolumnistin und Autorin des Falter, wie wurden Sie auch zu dessen allwissender Müllhalde?

Dusl: Der Einzige, der bislang den Ausdruck „allwissende Müllhalde“ gebraucht hat, ist Robert Palfrader. Der Begriff bezieht sich ja offenbar auf eine Figur aus einer Puppenserie … Wie hieß die nur? War das die „Sesamstraße“?

Falter: „Die Fraggles“.

Dusl: Von Jim Henson, der auch die „Muppet Show“ gemacht hat, oder? Wenn ich etwas nicht weiß, frage ich immer meine Experten und Expertinnen und in diesem Fall sind nun Sie meine Spezialistin gewesen. Zurück zur Frage: Ich hatte jahrelang an selber Stelle im Falter andere Kolumnen, etwa meine Befindlichkeitskolumne „Comandantina Dusilova“, und dann – fast auf den Tag genau vor 20 Jahren -habe ich mir überlegt, dass es Zeit wäre, eine satirische Briefkastentantenkolumne zu ma chen. Ihr Name sollte das Genre der Briefkastentante aus dem Boulevard und Mädchenmagazinen karikieren und an meinen Namen knüpfen, damit mir die Kolumne niemand fladern konnte. Darum habe ich sie „Frau Andrea“ genannt.

Falter: Die Kolumne hatte anfangs tatsächlich etwas Briefkastentantenhaftes –  da kamen Einsendungen wie „Ich bin so unglücklich. Meine Freundin sieht super aus, will aber nur kuscheln“ oder „Hilfe, ich hasse meinen Chef! Wie kann ich ihn loswerden?“. Haben derartige Fragen mit der Zeit nachgelassen?

Dusl: Die Intention der Kolumne war immer, dass wirkliche Menschen wirkliche Fragen stellen. Aber die Lesenden waren an dieser Stelle ein satirisches Format gewohnt und haben die ersten Wochen nur Blödelfragen gestellt. Dann habe ich ungeblödelt geantwortet und siehe da: Die Fragen wurden besser!

Falter: Es heißt, es gibt keine blöden Fragen, nur blöde Antworten. Bekommt Frau Andrea Fragen, die so deppert sind, dass Sie sie nicht beantworten?

Dusl: Es gibt da ein sehr männliches Phänomen von Schreibern, die elaboriert geblödelte Fragen im Stammtischschmähweltmeisterformat präsentieren. So etwas beantworte ich mittlerweile nicht mehr. Auch auf die Gefahr hin, dass die Schreiber angefressen sind. Wenn sie mehrmals keine Antwort bekamen, haben sie wahrscheinlich woanders hingeschrieben. Vermutlich sind die jetzt alle auf Facebook.

Falter: Zu Beginn Ihrer Kolumne jagte man noch nicht jeden Begriff durch die Suchmaschine. Wurden mit dem Aufstieg von Google die Fragen an Frau Andrea weniger?

Dusl: Nicht, dass ich es bemerkt hätte. Lustigerweise – eher statistischerweise -sinkt die Zahl nicht. Sie liegt wöchentlich zwischen eins und fünf.

Falter: Warum richten die Leute ihre Fragen an Sie, anstatt selbst zu googeln? Was macht Sie zur glaubwürdigen Expertin?

Dusl: Die Leute googeln eh, ich bin nur das letzte Mittel. Ich weiß auch nicht alles, doch ich weiß besser als viele andere, wie ich die Informationen finde. Google führt mich nur zu Quellen, wo schon viele andere gesucht haben. Es ist also kein gutes Instrument, um zu finden, was noch niemand gefunden hat. Das ist das Problem bei vielen Archiven: Du gehst im Kreis. Dann merke ich auch, warum die Leute etwas nicht gefunden haben. Und wenn ich selbst an Fragen scheitere, bleiben die auf der Halde liegen.

Falter: Was sind das für Fragen, die dort herumliegen?

Dusl: Fragen nach Informationen, zu denen es keine Literatur gibt, wie zu aktuellen Phänomenen im öffentlichen Raum. Gesprühte Tags etwa sind sehr persönlich und anonym. Wie also soll ich deren Bedeutung herausfinden? Es gibt zwar Foren, die sich damit beschäftigen, aber wenn es zu speziell ist, scheitere ich selbst dort. Vielleicht kann ich es Jahre später beantworten. Als die ersten Puber-Tags an Wiener Wänden auftauchten, hätte ich nichts anderes antworten können, als „Ich habe auch schon viele Pubers gesehen, aber keine Ahnung, wer das ist“. Auch meine Experten wussten damals nicht mehr. Das ist eigentlich die Kunst der Recherche: zu wissen, wen man fragen kann und welche Quelle belastbar ist.

Falter: Welche Fragen erscheinen dann in der Zeitung?

Dusl: Ich lege jede Frage in meinem Archiv ab, gute beantworte ich sofort. Wenn sich Themen wiederholen, versuche ich zu kuratieren. Kämen ständig Fragen nach Redewendungen, würde „Fragen Sie Frau Andrea“ zu einer Redewendungskolumne verkommen. Viele Fragen habe ich bereits beantwortet. Liegt das länger als sechs, sieben Jahre zurück, gebe ich die Antwort noch einmal, selbstverständlich auf dem neuesten Erkenntnisstand. Das Archiv schläft ja nicht.

Falter: Im Jahr Ihrer Premiere, nach dem 11. September 2001, wurden Sie nach einer angeblichen Teufelssichtung in den Rauchwolken über New York gefragt, ob Osama bin Laden und Satan unter einer Decke stecken. Geht es manchen Fragestellern nur darum, in der Zeitung zu stehen?

Dusl: Das war einmal eine eigene Präsentationsform: mittels Leserbriefen Kommuniqués in die Welt zu blasen, das hat sich mit Social Media fast aufgehört. Davor gab es ja den Beruf des Leserbriefschreibers, das waren Leute, die waren für ihre Leserbriefe bekannt. Peter Mitmasser zum Beispiel. Der hat jede Woche Dutzende Leserbriefe in österreichischen Medien platziert und war somit ein eigener Autor. Aber die genannte Frage an Frau Andrea war natürlich ein Schmäh -was sollte ich darauf antworten? Beantworten lässt sich nur die dahinterliegende Frage: Warum sehen wir Gesichter in Strukturen, wo keine sind? Dieses Phänomen ist als Pareidolie bekannt, es spiegelt den Betrachter wider. Ein bisschen wie bei Rorschach-Bildern.

Falter: Wie lange dauert der Beantwortungsprozess?

Dusl: Ich brauche einen Tag für eine Kolumne: Die Recherche ist das eine – Google, Archive, Literatur, Experten -, die frisst die halbe Zeit. Der Rest ist Schreiben. Die Information muss ja nicht wiedergegeben, sie muss erzählt werden, das heißt, ich muss sie vorher verstehen. Ich mache nicht Copy and Paste wie Frau Aschbacher, sondern sammle die Informationen, versuche sie zu verstehen und mache daraus einen Mini-Essay, der wie ein Witz funktioniert.

Falter: Kann die Verbindung von Information und Schmäh nicht auch gefährlich, weil missverständlich sein?

Dusl: Ein Witz, den alle verstehen, ist nicht gut, sondern seicht. Natürlich ist meine Kolumne kein Witz, aber so strukturiert: Es gibt einen Aufbau, eine Vermutung, wie es weitergehen könnte und eine Schlusspointe. Und es gibt immer eine Schlusspointe, nach der Maxime: Überrasche deine Leserinnen und Leser mit dem, was sie sich insgeheim erwarten.

Falter: Antworten manche Fragesteller dann nochmal auf Frau Andreas Antworten?

Dusl: Manche Mansplainer haben entdeckt, dass sie sich so gut spüren können, und erzählen mir, wo ich mich ihrer Meinung nach geirrt hätte. So auf: „Na ja, ob das wirklich so ist … mal sehen.“ Was soll man darauf antworten?“Danke für den komplexen Debattenbeitrag“, schreibe ich dann, oder wenn ich mich tatsächlich geirrt habe, bedanke ich mich. Die Kolumne funktioniert wie die Wissenschaft: Wenn jemand eine bessere Erklärung hat, freut mich das. Das Wissen, dass Erkenntnisproduktion niemals zu Ende geht, dass sie immer weitergeht, hilft.

Falter: Folgten die Fragen in diesen 20 Jahren gewissen Moden?

Dusl: Im Sinne von Themenkonjunkturen? Es gibt eine tagespolitische, zum Beispiel: In Tirol benutzt irgendein Lokalpolitiker das Wort „Luder“, um jemanden zu diskreditieren. Dann fragen sich viele: Was ist eigentlich ein Luder und woher stammt der Begriff? Das sind Fragen, die Bezug zu aktuellen Ereignissen haben, sie zeigen, was die Menschen gerade politisch oder privat bewegt. Kürzlich wollte jemand wissen, warum man zum Impfen „pieksen“ sagt. Das werde ich bald beantworten.

Falter: Eines Ihrer Spezialgebiete sind Ausdrücke aus dem Wienerischen -woher kommt die Expertise?

Dusl: Ich bin zwar in Wien geboren, meine Eltern und Großeltern sind aber nicht aus Wien. Als Meltingpot-Ergebnis bin ich also zweisprachig aufgewachsen. Dadurch habe ich eine große Liebe zu anderen Sprachen entwickelt. Die Resetarits-Brüder sind auch so ein Beispiel. Der Lukas behauptet, ich sei die Einzige, die das Wienerische so liebt wie er. Er, gebürtiger Burgenlandkroate, aufgewachsen in Floridsdorf und Favoriten, meinte, er musste Wienerisch wie eine Fremdsprache lernen, um hier zu überleben. Das hat mir viel über meine eigene Liebe zum Wienerischen erzählt. Es ist ja sogar für jene, die nur Wienerisch sprechen, eine Fremdsprache, weil so viele Begriffe aus anderen Sprachen und Soziolekten stammen. Ich habe viel von meinem Vater gelernt, der das Wienerische konnte, und ich besitze sehr gute Literatur darüber. Ich nenne das meinen Handapparat, ein ganzes Zimmer voller Bücher. Diese Spezialliteratur findet man halt nicht im Internet.

Falter: Dann wird die folgende Frage sicher ein Leichtes für Sie sein: Warum wird im Deutschen und im Wienerischen im Besonderen so analfixiert geflucht, während etwa im Englischen oder auch in vielen Ländern Südosteuropas Penis, Vulva und Sexualverkehr im Vordergrund stehen?

Dusl: Das ist einfach: Der Fluchende will immer das Verbotene zum Ausdruck bringen, es geht um eine Tabuübertretung. Deshalb geben Flüche einen Hinweis darauf, worüber die jeweilige Gesellschaft sonst nicht spräche. In slawischen und anderen ehemaligen k.u.k. Ländern sind die schärfsten Flüche jene, wo es um Sexualverkehr mit Gott geht. Etwa „jebem ti boga“,“ich ficke deinen Gott“ – ich ficke nämlich nicht nur Gott, sondern deinen Gott! Es geht darum, die schlimmste Verfehlung abzurufen, die man sich vorstellen kann. Jede Gesellschaft hat andere Tabus, die sich auch verändern: Vor 100 Jahren hätte man in Österreich noch „Kruzifix“ oder „Kruzitürken“ geflucht oder „Jesusmaria“. Damit könntest du heute niemals einen Polizisten beleidigen. „Du Scheißgesicht, du blödes“ wäre hingegen strafbar.

Falter: Was war Frau Andreas größter Erfolg?

Dusl: Für mich selbst am lohnendsten … gibt es dieses Wort überhaupt? Kann man lohnend steigern? Kann man mit Sprache überhaupt Sprache erklären? Da stoße ich immer wieder an Grenzen, denn ein Werkzeug kann sich nicht selbst reparieren. Aber zurück zur Frage: Den größten Genuss bereiten mir Fragen, zu denen ich keine Antwort parat habe und keine finde; Fragen, die noch niemand richtig beantwortet hat und die mich nicht loslassen. Da hilft das Internet manchmal auf eine interessante Art und Weise, weil Google ja verbotenerweise die Bibliotheken der Welt eingescannt und auf „Google Bücher“ durchsuchbar gemacht hat. Wenn ich dort etwas finde, einen Zusammenhang herstellen kann, der noch niemandem aufgefallen ist, dann ist das ein großer Genuss.

Falter: Ein Beispiel?

Dusl: Das Gfrastsackl. Das Grfast, also das Gfries, die grimassenhafte Verzerrung eines Gesichtsausdrucks, ist einfach. Aber was ist ein Sackl? Im Deutschen eine Tüte, aber in diesem Zusammenhang? Niemand konnte es erklären. Kommt es aus einer anderen Sprache? Dem Rotwelschen, dem Jiddischen oder Aramäischen? Tatsächlich wurde ich im Deutschen fündig. Ich besitze ein Gesamtverzeichnis der Unterweltsprache für den polizeilichen Gebrauch aus den 1920er-Jahren. Darin kommt „die Zauck“ vor, ein Ausdruck für die Hündin und davon abgeleitet für deren Geschlechtsteil. Heute würde man „Hundsfott“ sagen und wenn man das weiß, macht das Grfastsackl plötzlich Sinn. Dann kommt es von Gfrastzauckl. Übersetzt -ich sag das jetzt nicht gerne -: Du kleines, schiaches Hundsfott. Jedenfalls wusste das vorher niemand, und wenn so eine Zuschreibung gelingt, ist das lohnend. Wenn es zu einfach geht, ist es nicht schön.

Falter: Bildet Sie das Kolumnenschreiben?

Dusl: Nicht im Sinne einer humanistischen Bildung. Der Begriff der Bildung bedeutet mir nichts. Für mich ist Erkenntnis das schönere Erlebnis, sie treibt mich an. Die Anhäufung des Wissens wird durch mein Vergessen dezimiert: Sobald ich eine Kolumne geschrieben habe, habe ich sie schon wieder vergessen -ein unerfreulicher Nebeneffekt der Auslagerung ins Schreiben. Ich schreibe mehr, als andere spazieren gehen – mein Schreiben wird nur durch zeichnen, essen und ein paar andere Dinge unterbrochen. Ich habe schon so viel geschrieben, müsste ich mich an alles erinnern, wäre ich ein Fall für die Psychiatrie.

Falter: Haben Sie eine Lieblingsfrage, die Ihnen aber noch nie gestellt wurde?

Dusl: Alle Fragen, die Sie mir heute gestellt haben! Aber im Ernst, statt der Lieblingsfrage beschäftigt mich mehr die Lieblingsbeantwortung: eine, von der die Leserinnen und Leser glauben, sie wäre völlig frei erfunden. Bei der der Eindruck entsteht, sie sei nur zusammengereimt, „das stimmt sicher nicht, was die Dusl da schreibt“. Dann würden Leser versuchen, mich der Lüge oder des unredlichen Forschens zu überführen, um zu bemerken -oh nein, oh nein -, das stimmt ja alles! Wenn die Erklärung so leichtfüßig und so unglaublich enthüllend ist, wenn sie mehr hält, als sie versprochen hat: Das ist das Beste.


Zur Person

Andrea Maria Dusl wurde 1961 in Wien als Tochter einer Schwedin und eines Grazers geboren. Sie studierte Bühnenbild an der Akademie der bildenden Künste. Später folgte ein Studium der Kulturwissenschaften, sie promovierte in Philosophie. Seit 1996 ist die Filmemacherin, Zeichnerin und Autorin auch ununterbrochene Falter-Schreiberin. Seit 20 Jahren beantwortet sie ohne Pause jede Woche in ihrer Kolumne als Frau Andrea Fragen, auf die Google keine Antwort weiß.

Dietmar Steiner, Laudatio

Dietmar Steiner, von 1993 bis 2016 Direktor des Architekturzentrums Wien, österreichischer Architekturpublizist, Architekturhistoriker und Architekturkritiker ist am 15. Mai 2020 verstorben.

Anlässlich der Verleihung des Goldenen Verdienstzeichens des Landes Wien am 6. Dezember 2017 hielt ich im Wiener Rathaus eine Laudatio auf Dietmar Steiner. „Zahlreiche Persönlichkeiten aus Politik und Kultur waren gekommen, um bei der Feierstunde dabei zu sein“,  berichtete die Rathuaskorrepondenz, „allen voran Bürgermeister Michael Häupl, Vzbgm. Maria Vassilakou, StR Michael Ludwig, EU-Abg. A. D. Hannes Swoboda, Christian Oxonitsch, Heide Schmidt, Rektor Gerald Bast, Angelika Fitz, Direktorin Az W, Fritz Achleitner, Walter Gröbchen uvm.“


Laudatio auf Dietmar Steiner

Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien
Andrea Maria Dusl, 6. 12. 2017

Magnifizenzen und Exzellenzen,
Brüder und Schwestern,
Damen und Herren,
Freundinnen und Freunde!
Lieber Dietmar!

Welches wäre der ideale Ort, jemanden kennenzulernen, der alles über das Ideal weiß, und alles über Orte? Wo und wie würde man sprechen über das Unaussprechliche, über sich selbst? Diese Fragen spiegelten sich in uns, als wir einander trafen, um über Dietmar Steiner zu sprechen. Dietmar Steiner und ich.

Im Versuch den idealen Ort zu bestimmen, trafen wir einander also in einem Hotel. Kein Ort wäre und war idealer als der unideale Unort. Das Hotel. Dietmar Steiner kam aus seiner Wohnung angereist, ich aus meiner. Nicht das Kaffeehaus war unser Treffpunkt, obwohl es Wien war, wo wir uns trafen, nicht sein Büro, nicht mein Atelier. Ein Hotel. Am Fluss. Das Intercont. Das mit dem Luster. Das mit der Legendenbar. Die Absteige für Präsidenten. Der Riegel in der weltkulturerblichen Blickachse.

Im Niemandsland der Hotellobby des Intercont trafen einander Steiner und ich, weil es ein Niemandsland braucht, um alles zu besprechen.

Die Aufgabe war nicht leicht. Die Aufgabe war schwer. Ja unlösbar. Und weil sie schwer war und unlösbar, geriet sie leicht und wurde lösbar. Die Aufgabe war ein Film über Dietmar Steiner. Wir haben einen Film gemacht, Dietmar Steiner und ich, einen Film über Dietmar Steiner. Wer je einen Film gemacht hat, kennt das Dilemma: Man kann nur Filme über sich selbst machen. Also musste ich zu Dietmar Steiner werden. Das sollte gelingen. Aber konnte es gelingen?

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10 Dinge, eines gelogen

Der von mir überaus geschätzte österreichische Autor und Journalist David Baum  hatte mich auf Facebook darum gebeten. Ohne Zögern machte ich bei dieser “Competition” mit und listete 10 Dinge auf, von denen zu behaupten war, dass ich sie mal getan hätte. Eines davon, so die Vorgabe, musste gelogen sein.

Ich habe/bin, so behauptete ich (und führe im Folgenden auch den Nachweis):

1. von Tabori zum Essen eingeladen worden, von Peymann nicht.
2. Rocko Schamoni in einem Theater einen Zungenkuß gegeben und erst später erfahren, wer das war.
3. einer toten alten Dame mit einer Säge aus dem Baumarkt die Schädeldecke aufgesägt.
4. in Ascona die 5-Sterne-Suite neben Sydney Pollack bewohnt.
5. in Rom bei einem Mafia-Gala-Diner Ehrengast gewesen.
6. auf einem Fest 34 weiße Spritzer getrunken.
7. mit Gerd Schröder in Köln Boogie Woogie getanzt.
8. mit den Leningrad Cowboys im Alt Wien bis in den frühen Morgen Schnaps gesoffen.
9. mich eines Nachts im Café Kunsthalle angezündet und in Flammen gestanden.
10. im Suez-Kanal geschwommen.

Die sehr sehr argen Sachen und Begebenheiten meiner Biographie konnte ich nicht in dieser Liste versammeln. Das waren Sachen, wo meine Eltern die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und den Satz: „Du hast Schande über unser Haus gebracht“ und Ähnliches, ja Schlimmeres von sich gegeben haben. Von Außenstehenden habe ich zu ausgewählten Erlebnissen meiner persönlichen Geschichte den Satz „das habe ich noch niemals erlebt“mehrmals gehört.

Ich bin übrigens untätowiert und habe noch alle Finger. Und ich hatte, dabei klopfe ich dreimal auf Holz, noch nie einen Verkehrsunfall. Bis auf den einen vor meinem Gymnasium, wo der Richter seiner Tochter die Autotüre öffnete und ich mit dem Rad gegen ebendiese Türe krachte. Der kleine Finger meiner linken Hand ist seither gefühllos.

Löse wir die Geschichten in der auf Facebook geposteten Reihenfolge auf.

1. Ich bin von Tabori zum Essen eingeladen worden, von Peymann nicht.

In den 80er Jahren arbeitete ich als Bühnenbild-Assistentin, war sehr unglücklich und wollte dringend nach London auswandern um dort vom Glück einer wirklichen Stadt zu naschen. Ich sparte und sparte Geld und sagte mir, ‚ich mache alles, um endlich aus dem grauslichen Wien rauszukommen‘.

Ich studierte den Stadtplan von London, als das Telefon schrillte. „10 Dinge, eines gelogen“ weiterlesen

Straßenbahn

Dramolett.

Straßenbahnstation Ring-Börse. Frühling,
Samstagmittag vor dem Stadt-Marathon.

Wientouristin aus dem Schwabenland (starker schwäbischer Dialekt): Ach entschuldige sie mal, wann geht hier die Straßabahn?

Wienerin (ich): Da müssens da oben auf die Anzeigetafel schauen. Da oben, göb. Da steht immer ois, auf die Minute genau.

Wientouristin aus dem Schwabenland: Es ist aber aine Veranschdaltung.

Wienerin: Sie können trotzdem auf der Anzeigetafel da oben lesen, was los ist, wann was kommt. Ob überhaupt wos kommt. Mehr weiß ich auch nicht.

Wientouristin aus dem Schwabenland schaut nicht auf die Tafel: Jaja.

Wienerin: Was is, sans jetz beleidigt?

Wientouristin aus dem Schwabenland: Nainnain.

Wienerin geht weiter, entdeckt Informationstafel über Umleitungen wegen Veranstaltung: Da schauns her, da steht alles!

Wientouristin aus dem Schwabenland (unbeeindruckt): Jaja.

Wienerin: Was sans’n so ignorant?

Wientouristin aus dem Schwabenland sagt nichts.

Wienerin (schon aus der Ferne): Na daun woatst hoid.

Fůra slámy

Die tschechische Polka „Fůra slámy“ (Eine Fuhre Stroh) von Karel Vacek heißt auf Deutsch, ganz gegen jede Vernunft „Knödelpolka“. Und auf Deutsch wird zu dieser Polka folgender Volltrotteltext (auch eben heute in der ORF-Volksmusik-Fernsehsendung „Mei liabste Weis“ gesungen):

Kannst du Knödel kochen,
frag ich mich seit Wochen.
So wie einst die Mutter,
hat gekocht mit Butter.

Schön locker zart und fein,
und bitte nicht zu klein.
Jajaja dann sollst du fürs Leben,
meine Knödelköchin sein.

Dabei geht’s im Original gar nicht um Knödel, sondern um Liebesschmerz (Übersetzung weiter unten):

Fůra slámy

V lásce velkou smůlu mám
zase budu chvíli sám,
hezká jsi jak růže,
nic to nepomůže,
já nepřijdu k vám.

Ať se děje, co se děje
máme málo naděje,
už to dobře víme,
že se rozloučíme,
jak si osud přeje.

Cesty se k nám rozdvojí,
doba všechno zahojí,
nezbyde ti ani
čas na vzpomínání
žes byla mojí.

Až pojedeš do města
jako hezká nevěsta,
potkáš na náměstí
fůru plnou štěstí,
vždyť jsi jednou ze sta.

R: Fůra, fůra slámy
konec mezi námi,
smůlu v lásce máme,
štěstí nepotkáme.

Nás čeká loučení,
žádná pomoc není,
každá panna stejná,
z chalupy jak ze mlejna.

Okay, das ist Tschechisch.
Hier die etwas holprige Übersetzung:

Eine Fuhre Stroh (Fůra slámy)

Ich habe ein großes Glück in der Liebe
Ich werde für eine Weile allein sein,
du bist hübsch wie eine Rose,
nichts wird helfen,
Ich werde nicht zu dir kommen.

Was auch immer passiert, was passiert
wir haben wenig Hoffnung,
wir wissen schon,
dass wir uns verabschieden,
wie es das Schicksal wünscht.

Die Wege teilen uns,
Zeit der Heilung,
Du auch nicht
Zeit sich zu erinnern
Du warst mein.

Wenn du in die Stadt gehst
wie eine hübsche Braut,
du triffst dich auf dem Platz
voller Glück,
Du bist eine der Hundert.

R: Eine Fuhre Stroh
das Ende zwischen uns,
wir haben Pech in der Liebe,
wir werden nicht glücklich sein.

Erwartet uns,
es gibt keine Hilfe,
jede Jungfrau ist gleich,
vor der Hütte wo man drischt

Von Knödeln keine Rede.

Denn „Kannst du Knödel kochen“ ist jene Version, die Ernst Mosch von den „Original Egerländer Musikanten“ aus dem tschechischen Original gebastelt hat. Konnte er den traurigen tschechischen Text seinem sudetendeutschen Publikum nicht antun?

Mazzesinsel

Wo Wien nur Bobograd heißt
Von Andrea Maria Dusl
Veröffentlicht am 26.02.2018
Welt am Sonntag
https://www.welt.de/reise/staedtereisen/article173891120/Staedtereise-Wo-Wien-Bobograd-heisst.html

Die Mazzesinsel ist das heimliche Zentrum Wiens. Blühende Kastanienalleen, pulsierende Märkte, duftende Parks, prächtige Avenuen und verträumte Gässchen. Hier vermischen sich Orient und Okzident, Provinz und Metropole, Walzer und Elektrobeats.

Der hagere Mann, der durch die Marktstände patroulliert, trägt eine speckige Rockerjacke, Cowboystiefel, Jeans mit Südstaatentattoo. Sein Gesicht beschattet eine Pilotenbrille, der Hombre sieht aus, als wäre er gerade vom schweren Motorrad gestiegen. Aber das einzige Metall unter seiner Kontrolle ist der Goldring in seinen Ohren. Und die Trompete in seiner Hand. Jeder kennt ihn hier, alle lieben ihn. In anderen Zusammenhängen wäre der Mann ein Fall für die Psychiatrie, aber hier am Karmelitermarkt ist er ein Idol. Der Mann mit der Trompete schwingt sein Horn wie ein Szepter, aber er stösst damit nur kurze Fanfaren. Lieber singt er. Italo-Pop aus den 70erjahren. Noch lieber aber spricht er, was er gerade denkt. Liebevolle Kommentare zum Marktgeschehen und Anekdoten aus seinem schiefen Leben. Gerade macht er seinen Rundgang, kontrolliert die Gemüse-Standler aus der niederösterreichischen Provinz und aus Kroatien, die Vorarlberger Käse-Händler, die ungarischen Salami-Tanten und die sonnenhungrigen Patchwork-Familien, die vorm trendig-familiären Café Einfahrt den Samstagmittag-Brunch zu sich nehmen.

Auch die bucharischen Juden, die gerade zum Tempel gehen (es ist Shabbat), irritiert der Kantor in der Lederkluft nicht. Mit ihren langen schwarzen Gehröcken, ausladenen Hüten, den blütenweissen Strümpfen, und der festlich gekleideten, von der Mamme geleiteten Kinderschar sehen sie wie Gäste aus einer anderen Galaxie aus. Aber sie wohnen hier. Wieder hier. Teilen das Leben auf der Stadt-Insel mit Künstlern und Trödlern, Kreativ-Agenten und Experimental-Gastronomen. Die Orthodoxen Wiens, heute wieder eine stolze und wachsende Gemeinde, haben dem Bezirk Legitimation für den satirischen Beinamen aus dem 19. Jahrhundert gegeben: Mazzesinsel. 

Im satirischen Kontext der gentrifizierten Grätzel- (Kiez-) kultur heißt die Gegend um den Karmelitermarkt “Bobograd”. Der Ausdruck spielt mit der Erinnerung an die sowjetische Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg hier, und die heutige Nutzung der Insel als prosperierende Schlaf-, Arbeits- und Fortgehstadt der Bobos. So heißen die borgeoisen Bohemiens der Wiener Nuller- und Zehnerjahre. Die Mazzesinsel hat ihren Charaktere als Transit-Eiland bewahrt. Und die Erinnerung an Tod und Vertreibung mit jener von Lust und Leidenschaft vermählt.

Ein Spaziergang durch die Viertel der Leopoldstadt könnte dort beginnen, wo die alten Wege aus der mittelalterlichen Stadt die Auen und Inseln der ehemals mäandrierenden Donau übersetzen und nach dem Norden laufen. Zwei schiefe Hochhaustürme mit modernen Glassfassaden markieren den Leopoldstädter Brückenkopf. Der rechte und jüngere davon, ein schwarzgläserner Monolith von Pritzker-Preisträger Jean Nouvel, beherbergt das Sofitel-Hotel Vienna Stephansdom und ist berühmt für seine Penthouse-Bar Das Loft, einen der fabulösen Orte Wiens.

Zu ebener Erde setzen die beiden wichtigsten Straßen der Insel in der Donau an, die Taborstraße ist die ältere der beiden. Im spitzen Winkel geht die Praterstraße ab, die einzige echte Avenue des kaiserlichen Wien. An der gemütlichen Einkaufsstraße Taborstraße, benannt nach dem Fortifikationstypus “Tabor”der böhmischen Hussiten, verlangsamt sich die Hektik der Großstadt, stolze Bürgerhäuser säumen barocke Kirchen und Klöster. Hier steht das älteste, kontinuierlich geführte Hotel der Stadt, das Hotel Stefanie. 1600 wurde erstmals ein „Gastgeb“ an diesem Standort erwähnt. Die „Weiße Rose“ zählte bald zu den besten Hotels der Residenzstadt. Die Brücke, die direkt hier mündet, war jahrhundertelang die einzige der Stadt. War doch die Taborstraße seit frühesten Zeiten die Einfahrtsstraße aus den nordöstlichen Reichsteilen in das Zentrum des Reichs. Reisende fanden an diesem mittelalterlichen Highway Unterkunft und Bewirtung, wechselten Pferde und die Wagenräder ihrer Kutschen. Fahrende Händler stiegen hier ab, Beamte in höfischer Mission, nicht-standesgemäße Liebespaare auf der Flucht, und sicher auch finstere Gestalten.

Linker Hand liegt das älteste Quartier der Insel, es heißt heute Karmeliterviertel. Enge Gassen und schmale Häuserparzellen zeichnen die Grundrisse einer alten Vorstadt nach, seine Mitte bestimmt der beste Markt der Stadt. Seine Mischung aus Viktualien-Ständen, urbanen Spezalitäten-Buden, Slow-Food-Lokalen, Ethno-Kleinrestaurants, Wein-Stuben und Imbiss-Kiosken entwickelt einen weit über das Viertel gefühlen Magnetismus. Einer der Markt-Treffs ist das Tewa (hebräisch „Natur“), ein orientalisch-israelisch-wienerisches Szenelokal, das den kulturellen Nachweis führt, dass Wien eigentlich schon im Süden liegt. Der Bäcker im Stand daneben erinnert an die böhmische Abstammungslinien der Wiener Brötchen und Mehlspeisen. Im ehemaligen Fischgeschäft an der anderen Ecke des Marktes hat sich der neapolitanisch-kroatische Italiener Pizza Quartier eingerichtet und bäckt Sauerteig-Pizza im Vulkansteinofen. Die Mazzesinsel liegt nämlich auch am Fuße des Vesuvs.

Als der Platz noch Tandelmarkt hieß und Krimskrams und Alltagsware feilbot, war er Hauptplatz der pulsierenden Judenstadt. Hier lag damals schon Musik in der Luft und die koscheren der Düfte des Orients, jedenfalls aber die Sprachen der Monarchie. Walzervater Johann Strauss Vater wurde hier ums Eck geboren, in der Floßgasse, standesgemäß, als Sohn eines Wirtes. Das Viertel, zuletzt vom Holocaust entvölkert, hat im letzten Jahrzehnt einen beispiellosen Aufschwung genommen. Mit dem (Wieder-)Zuzug orthoxer Juden und einer jungen mobilen Generation von Kreativen haben im Grätzel um den Karmelitermarkt koschere Kleinmärkte, Artsy-Fartsy-Boutiquen und Handwerksläden, Galerien, Ethnolokale und Fahrradwerkstätten aufgesperrt. In der Leopoldsgasse 22 ordiniert Supermari, ein winzig-witziger, weissgekachelter Laden, der selbstimportierte italienische Kult-Produkte verkauft und dabei den besten Espresso nördlich der Alpen aus der Maschine drückt. Schräg gegenüber liegt das zentrale Wirtshaus des Viertels, die Schöne Perle, eine karge Mischung aus Designerlokal und Alt-Wiener Betriebskantine – im Sommer sitzt man luftig auf der Straße. Hier drückt sich das Karmelitergrätzel kulinarisch aus. Ein paar Schritte weiter nördlich liegen die Lokale Skopik & Lohn (Wiener und Pariser Cusine) und Okra (moderne japanische Küche) – beide kochen auf Metropolitan-Niveau. Wiener Küche in all ihrer Vielfalt serviert der Friedensrichter, am Flußufer der Upper Westside des Viertels gelegen. In eine andere Zeit katapultiert uns ein Besuch eines Fackelträgers der Wiener Beisl-Kultur, das Gasthaus zum Sieg. Es gibt nur Stammgäste und täglich ein einziges Gericht. Beide, Gäste und Tagesmenü bleiben in Charme und Erlebnistiefe unerreicht.

Im Norden grenzt die ehemalige Judenstadt, an den Augarten. Der barocke Lust- und Wandelpark war einst kaiserlicher Palastbesitz. Mozart dirigierte hier die täglichen Morgenkonzerte. In den Resten des ehemaligen Sommerpalastes Favorita töpfert die weltberühmte Porzellanmanufaktur Augarten. Das hauseigene Museum berichtet über die Geschichte des Weissen Goldes, Führungen durch die Produktion geben aktuelle Einlicke in die Porzellanherstellung. Im Palais nebenan residieren die Wiener Sängerknaben, deren architektonisch aufregender Konzertkristall MuTh (Musik und Theater) ist die bevorzugte Konzertstätte des weltberühmten Jungenchors. Hier ertönt aber auch Kammermusik, Kinderopern und klassische Weltmusik.

Für einen Mazzes-Inselspaziergang interessiert auch die Magistrale des Bezirks, die Praterstraße. Sie war einst Kutschenweg für Jagdlustige und Ausflügler, die dem gezähmten Urwald Prater zusteuerten, und wurde im Biedermeier und frühen 19. Jahrhundert zu einer Pracht-Avenue ausgebaut. Hier lagen die feinsten Adressen ganz Wiens, die angesagtesten Theater, die besten Cafés, die mondänsten Hotels. Wer auf sich hielt, ließ sich hier nieder oder baute sich gleich einen kleinen Straßenpalast. Auf Nr. 54 logierte Johann Strauss Sohn und komponierte hier 1866/67 den berühmten Donauwalzer. Sogar einen veritablen venezianischer Palast gibt es in der Praterstraße, den Dogenhof, er war Teil der ernst gemeinten Phantasie, die brettebene Insel mit einem venezianischen Kanalsystem zu erschliessen. Ob der Palazzo Partikel eines Plans war, hier eine italienische Kolonie anzusiedeln oder ob er nur Bezugspunkt des 1895 im nahegelegenen Prater eröffneten Themenparks “Venedig in Wien” war, lässt sich nicht mehr entscheiden.

Jedenfalls hat sich hier vor kurzem Supersense eingerichtet, eine Mischung aus Italo-Café und Steam-Punk-Conceptstore. Der Laden gibt eines der besten Frühstücke der Stadt aus (das andere gibt es am Beginn der Praterstraße im georgischen Café Ansari). Supersense gibt einen Eindruck davon, wie die junge kreative Szene der Stadt sich selbst inszeniert, ohne dabei laut und schrill zu werden. Geführt wird der durchgeknallte Laden vom „Retter von Polaroid“ – der Entrepreuneur hat das letzte Polaroid-Werk im holländischen Enschede erworben. Hier kann man Vintage-Polaroid-Apparate erstehen und fast wichtiger noch: Die kultigen Sofortbild-Filme.

Die Prachtmeile Praterstrasse führt direkt ins Nervenzentrum der Volksbelustigung. Wiewohl nicht mehr Teil der eigentlichen Mazzesinsel, ist der Prater, Rest der alten Auwälder, schon durch seine Suauerstoffproduktion omnipräsent. 

Einem grossen Auge gleich bewacht ihn das weltberühmte Riesenrad. Im Wustelprater, so heißt Wiens alter, ja ehrwürdiger Vergnügungspark, riecht es nach Zuckerwatte und Langos (Hefefladen mit Knoblauchtinktur). Der polternde Lärm der Fahrmaschinen und Karussells mischt sich mit Kindergeschrei und allgemeinem Juhu aus Autodromen und Hochschaubahnen, Falltürmen und Lachkabinetten, Toboggans und Schießständen. Ein bisschen Spielhöllen-Halbwelt gibt es auch, und den Hauch des Verruchten. Am Ende des Amusement-Bezirk residiert Wiens bester und größten Biergarten: Das Schweizerhaus. Unter kühlenden Nussbäumen servieren Wiens flinkeste Kellner frischgezapftes, sämiges böhmisches Budweiser-Bier, knusprig-gegrillte Stelzen (Schweinshaxe, das heimliche Inselgericht) und die kulinarischen Kostbarkeiten der böhmisch-wienerischen Küche. Der Ort beatmet uns mit überwirkliche Magie. Praterprinzessinnen sitzen neben hemdsärmeligen Konzernchefs, der Bürgermeister neben Unvermittelbaren. Kein Wiener sähe es anders: Hier schlägt das wahre Herz der Stadt. 

Am Leopoldstädter Ufer des Donaukanals geht es stromaufwärts wieder in die alte Mazzesstadt zurück. Die dicken Quadern der Kais säumen eine der wichtigen Promenaden der Donaumetropole. Hier zeigt Wien starke Verwandtschaft mit seiner Cousine Paris. In Nouvels Hotel-Turm, dem Pharos der Insel lässt sich die Leopoldstadt mit dem 21. Jahrundert ein. Unter einen spektakulären Lichtteppich der Schweizer Experimental-Artistin Pipilotti Rist gehängt, schweben das Panoramarestaurant Le Loft und die gleichnamige Bar zwischen Insel und Wolken. Die Bellevue aus dem körperlosen 18. Stock des Mazzes-Pharos ist atemberaubend und gilt als die schönste Sicht auf Wien. 

KASTEN

Wie kommt man hin

Die besten Zugverbindungen nach Wien

Aus München: 2mal täglich direkt mit dem Railjet (am Wochenende öfter). Fahrtdauer 4h. Aus Frankfurt mehrmals täglich direkt mit dem ICE in unter 7h. Aus Köln spätmorgens direkt mit dem ICE, Fahrtdauer gute 9h. Aus Hamburg morgens direkt mit dem ICE in 9h. Aus Berlin mit Umsteigen in Prag oder Breclav in ca. 10h. www.bahn.de

Direktflüge nach Wien

Aus München und Frankfurt mehrmals täglich mit Lufthansa oder Austrian Airlines. Aus Köln/Düsseldorf mehrmals täglich mit Austrian Airlines, Eurowings oder Airberlin. Aus Hamburg mehrmals täglich mit Austrian Airlines oder Eurowings. Aus Leipzig abends mit Lufthansa oder Austrian Airlines. Von Berlin-Schönefeld zweimal täglich mit easyJet. Von Berlin-Tegel mehrmals täglich mit Air Berlin oder Austrian Airlines.
www.lufthansa.com, www.austrian.com, www.airberlin.com, www.eurowings.com, www.easyjet.com

Vom Flughafen in die Stadt 

Der City Airport Train (CAT) fährt in 16 Minuten (€ 11,-) vom Flughafen ins Zentrum zum Verkehrsknotenpunkt Wien Mitte (U-Bahnlinien U3, U4; Wochenkarte für alle Öffis – U-Bahn, Straßenbahn, Bus: € 16,20). Im CAT-Stadt-Terminal kann man auch das Gepäck einchecken (Tipp für die Rückreise!) Von Wien Mitte gehts mit der U4 zum Schwedenplatz und weiter zu Fuß über die Brücke (Hotels Sofitel, Mercure und Stephanie) (oder mit der U1 ins Hotel in der Praterstraße). Eine Alternative ist der Flughafenbus der Vienna AirportLines Line VAL2 (€ 8,-). Er fährt in halbstündigen Intervallen den Morzinplatz/Schwedenplatz an, die Fahrt dauert 21 Minuten. Ein Taxi vom Flughafen ins Hotel kostet um die 35 Euro. 

Vom Bahnhof in die Stadt

Beide großen Bahnhöfe Wiens sind Hubs für U-Bahnlinien. Vom Hauptbahnhof nehmen wir die U1 direkt zum Schwedenplatz oder Praterstern, vom Westbahnhof die U3 (am Stephansplatz steigen wir die die U1 um und von dort bis Schwedenplatz oder Praterstern). 

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Wo wohnt man gut

Hotel Stefanie Wien
Wiener Flair, traditionell, zentral
DZ (inkl. Frühstück): € 140-295
Taborstraße 12, 1020 Wien
(Über die Brücke vom Schwedenplatz, 
U1, U4, Flughafenbus; Straßenbahn: N, 21)
stefanie@schick-hotels.com 
www.schick-hotels.com/hotel-stefanie/index.html

Austria Classic Hotel Wien
Praterstraße 72, 1020 Wien
Gehobene Klassik, elegant
DZ: €81 – 169
(3 Gehminuten vom Bahnhof Wien Praterstern, U1, U2)
info@classic-hotelwien.at
www.classic-hotelwien.at

Hotel Mercure Vienna City
Modern, komfortabel, zentral
DZ: € 99 – 239
Hollandstraße 3-5, 1020 Wien
(300m Gehweg vom Schwedenplatz, U1, U4, Flughafenbus)
h1568@accor.com
www.mercure.com/1568

Hotel Sofitel Vienna Stephansdom
modern, stylisch, spektakuläre Aussicht,
von Stararchitekt Jean Novel geplant
DZ: ab €255,- inkl. Frühstück
Praterstrasse 1, 1020Wien
(Über die Brücke vom Schwedenplatz, 
U1, U4, Flughafenbus; Straßenbahn: N, 21)
h6599@sofitel.com
www.sofitel-vienna-stephansdom.com

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Rundgänge/Touren

Die Leopoldstadt – Das jüdische Wien jenseits des Donaukanals
Treffpunkt: Ecke Schwedenplatz/Rotenturmstraße (McDonald’s). Jeden Freitag , 13.30h. (€ 16). Tickets vor Ort. info@viennawalks.com, www.viennawalks.com

Fremdenführung Leopoldstadt
Stadtspaziergang mit spannenden Einblicken in Geschichte und Kulturinstitutionen (Augarten Porzellan, Wiener Sängerknaben) und in das Leben der jüdischen Gemeinde. Individuelle, exklusive Führung (ab € 140, für 2h; maximal 6 Personen). Anfragen: www.fuehrungenwien.at/anfrage/index.html

Steine der Erinnerung
Die Führung erinnert an Orte jüdischen Lebens vor 1938 und während der Phase der Vertreibung und Deportation erinnert. Anmeldung für Führungen zwei Wochen im voraus: info@steinedererinnerung.net. (Tour ab 40 €/h). www.steinedererinnerung.net

Donaukanal/Donauschiffsfahrten
Ganze Donaurundfahrt (Route AB): MS Wien und MS Vindobona (beide von Friedensreich Hundertwasser gestaltet) 1.4-31.10. täglich 10.30h (15.4.-1.10 auch 13.30h) Schwedenplatz-Schwedenplatz, Dauer 3h20, (€ 26,10).
Rundfahrt am Donaukanal (Route C): MS Blue Danube, ganzjährig 11h, 12.30h, 14.30h, 16h. Schwedenplatz tour-retour, Dauer 1h15, (€ 20,25).
Anlege-/Ablegestation: 1010 Wien, Schiffstation Wien. Donaukanal Franz-Josefs-Kai 2, Schwedenplatz (U1, U4). 
www.ddsg-blue-danube.at

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Auskunft
Wiener Tourismusverband 
Wien Info: www.wien.info/de
Newsletter: www.wien.info/de/newsletter

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Sängerknaben
MuTh, Konzertsaal der Wiener Sängerknaben
Am Augartenspitz 1, 1020 Wien 
muth.at
tickets@muth.at

Augarten Porzellan
Wiener Porzellanmanufaktur Augarten
Obere Augartenstraße 1, 1020 Wien (Eingang Augarten-Hauptportal)
augarten@augarten.at
www.augarten.com/de

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Tipp der Redaktion

Vienna Ugly Tour
Äußerst unterhaltsame und die Wahrnehmung erhellende Tour zu den hässlichsten Häusern des Bezirks. Kult-Faktor.
4.2., 4.3., 8.4., 13.5. 24.6.2017, jeweils 10:30 (€5)
Treffpunkt Hauptportal Augarten, gegenüber Augartenstrasse 40, 1020 Wien, (U2 Taborstrasse). 
eugene.quinn@spaceandplace.at
spaceandplace.at/vienna-ugly

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Essen

FRÜHSTÜCKEN und RELAXEN

Cafè Einfahrt
Frühstück, Snacks, Schanigarten
Haidgasse 3 (Karmelitermarkt), 1020 Wien
www.einfahrt.wien
Mo-Sa 8-1h (Fei geschlossen).

Supermari
Italo-Design-Espresso
Leopoldsgasse 22, 1020 Wien
www.supermari.at
Di-Do, Fr 8.30–12.30, Sa 9.30–14.30, So, Mo geschlossen.

Cafe Ansari
Georgisch-orientalische Küche. Georgische Weine, Samowar-Tee. Reichhaltiges Frühstück. Gastgarten.
Praterstraße 15, 1020 Wien
www.cafeansari.at
Mo–Sa 8–23.30, So 9–15 (Fei geschlossen).

Supersense
Café und Conceptstore. Snacks und Selbstgemachtes. Reiches Frühstück.
Espressomaschine aus Seattle. Schanigarten.
Praterstraße 70, 1020 Wien
www.supersense.com
Di–Fr 9.30–19, Sa 10–17 (Fei geschlossen).

Café Restaurant Augarten
Gespeist wird auf Augarten-Porzellan, das Ambiente ist imperial. 
Obere Augartenstraße 1, 1020 Wien (Eingang Augarten-Hauptportal)
www.augarten.at/restaurant
April bis Oktober Mo–Fr 10–22, Sa, So 9–22, November bis März Mo–Fr 10–18, Sa, So 9–18, genaueres: Homepage.

SZENE

Tewa
Orientalisch-israelisches Szenelokal direkt am Karmelitermarkt, Frühstück mit brasilianischem Kaffee, Getränke und Speisen aus biologischem Anbau. Karmelitermarkt 26–32, 1020 Wien
office@tewaammarkt.at 
www.tewaammarkt.at
Mo–Sa 7–22 (Fei geschlossen).

Pizza Quartier
Süditalienisches, Pizza aus Sauerteig (hefefrei), Pasta, frischer Fisch des Tages. 
Karmelitermarkt Stand 96, 1020 Wien
www.pizzaquartier.at
Mo–Fr 11–23, Sa 8.30–23, Küche 11.30–22.30.

Schöne Perle
Szene-Gasthaus im Karmeliterviertel. Schanigarten.
Große Pfarrgasse 2 (Ecke Leopoldsgasse), 1020 Wien
www.schoene-perle.at
Mo–Fr 11–24, Sa, So, Fei 10–24.

Tel Aviv Beach
Mediterraner Beachclub am Donaukanal. Falafel, Wraps, Cocktails. Beach-Bar, Strandstühle aus Tel Aviv und New York.
Donaukanal-Promenade, Höhe Obere Donaustraße 65 (U2/U4 Station Schottenring, Ausgang Herminengasse), 1020 Wien
admin@telavivbeach.at 
www.neni.at
April bis Oktober täglich 12–24.

Automat Welt
Lässig Hausgemachtes direkt am Volkertplatz-Markt. Espresso aus Kalabrien. Craft-Beer. Schanigarten. Szene-Treff.
Rueppgasse 19 (Volkertplatz), 1020 Wien.
www.automat-welt.at
Di–Fr 16–1, Sa 17–1, So 15–24, Küche täglich 17–22.

WIENER GASTHÄUSER

Gasthaus zum Sieg
Uriges Wiener Beisl in altem Haus im ehemaligen Getto. Familiäre Bedienung. Rührende Stammgäste. Täglich ein Menü wie von der Wiener Mama.
Haidgasse 8, 1020 Wien
Mo–Sa, Fei 10–24, So 9–22, Juli/August 10–14 und 17–24, Küche 12–14 und 17–22.

Zum Friedensrichter
Alt-Wiener Gasthaus mit einem der besten Schnitzel der Stadt. Österreichische Weine.
Obere Donaustraße 57, 1020 Wien
www.zum-friedensrichter.at
Mo–Fr 11–22, durchgehend warme Küche

Gasthaus Hansy
Gutbürgerliches Wirtshaus mit fabelhafter Wiener Küche und besten Wiener Weinen. Schanigarten.
Praterstern/Heinestraße 42, 1020 Wien
www.hansy-braeu.at
Täglich 10–23, warme Küche von 11–22.

PRATER

Lusthaus
Ehrwürdig-eleganter josephinisches Jagdpavillion am Ende der Prater Hauptalle. Gehobene Wiener und mediterrane Küche. Terrassen.
Freudenau 254, 1020 Wien.
www.lusthaus-wien.at
Jan bis Mär: Mo, Di, Sa, So, Fei 12–17. Apr – Sept: Mo, Di, Do, Fr 12–22, Sa, So, Fei 12–18, Okt- Dez: Mo, Di, Do–So, Fei 12–17.

Karl Kolarik’s Schweizerhaus
Saisonbetrieb (Mitte März bis Ende Oktober). Gegrillte Stelzen, offenes  Fassbier aus Budweis, böhmische Küche. Der grösste Gastgarten Wiens. Legendär.
Prater 116, 1020 Wien
www.schweizerhaus.at
www.facebook.com/schweizerhaus.wien
täglich 11–23, durchgehend warme Küche bis 23. 

ABENDS

Skopik & Lohn
Stimmungsvoll-relaxtes Wiener Bistro-Restaurant. Wiener und französische Küche. Schanigarten.
Leopoldsgasse 17, 1020 Wien.
skopikundlohn.at
Di–Sa, Fei 18–1, Küche bis 23.

Okra
Moderne japanische Küche. Schanigarten.
Kleine Pfarrgasse 1 (Ecke Leopoldsgasse), 1020 Wien. 
www.okra1020.com
Di–Sa, Fei 17–24.

Das Loft
Nouvel-Tower, 18. Stock. Spektakuläres Setting und Aussicht.
Praterstraße 1 (im Hotel Sofitel Vienna Stephansdom), 1020 Wien
www.dasloftwien.at
täglich 10–2 (Bar), Restaurant: Mo–Fr 6.30–10.30 Frühstück, täglich 12–14 Lunch und 18–22.30 Dinner.

Andrea Maria Dusl
Welt am Sonntag, 26.02.2018
https://www.welt.de/reise/staedtereisen/article173891120/Staedtereise-Wo-Wien-Bobograd-heisst.html

Hans Hurch.

„Sehr schön haben sie es gemacht, die Leinwand steht schön, viel Aufmerksamkeit, Filmarchiv, Filme, betrunken, muss bleiben, noch, ja, Archiv, Filme, Stadt, Signal jetzt schlecht. Ist Hurch herum? Hurch? Hurch herum, er wird doch was sagen, Hurch, Hans Hurch. Verstehe nur Hurch, genau, Hurch, Hans Hurch, wird er reden? Sehe ihn nicht. Er wird wohl reden.

Hans Hurch hatte das Reden bei den Katholiken gelernt, deswegen sprach er auch wie ein Pfarrer. Hurch, Bobovilleurgestein, in die Stadt gekommen, als Boboville noch aus drei Stühlen bestand und einem Regal.

Hurch darf bei mir alles, dachte es in mir, pfäffisch reden, einen Mullahbart tragen und existenzielles Schwarz, Hurch darf bei mir alles, denn er hat meinen Film gezeigt. Auf dem dicken Festival, meinen ersten Film, nie hätte ich darauf gehofft, aber er hatte es getan. Meinen Film gezeigt, ohne mich zu kennen, ohne Freundschaft oder Liebe, weil er den Film gesehen hatte. Auf dem Rad hatte er gesessen, in Locarno. Habe den Film gesehen, hatte er wackelig gesagt, der Schweiß war in Strömen aus seiner schwarzen Klu gelaufen, werde ihn zeigen. Den Film. Deswegen darf Hurch alles. Wenn Hurch mal in der Patsche sitzt, werde ich kommen, die Hand reichen und Hurch aus der Patsche ziehen. Hat mir geholfen, Hurch darf alles, werde ich dann sagen, Mullahbart hin, schwarze Kluft her, Hurch darf das, pfäffisch reden und in Rätseln, Freunde nicht mögen, ungerecht sein. Hurch darf.

Er sah aus wie ein spanischer Grande, den zwei Zeitmaschinen in der Mangel gehabt hatten, eine hatte den Hurghe-Duque aus Medina-Sidonia gebeamt, aus der ältesten Stadt Europas, mitten aufs Land, in ein kleines Poughkeepsie, wo sie Käse reifen lassen und Cinematophilie. Eine zweite Zeitmaschine hatte Hurch als einen der ersten aus dem Käsepoughkeepsie ins Protoboboville expediert. Protobobovillains wie Hurch tragen ihr Leben lang Schwarz. Am Schwarz ihrer Couture ist Sartre schuld. Und Camus. Hurch darf schon deswegen alles, weil ich die Schwarztragenden schätze. Als Atheisten sind sie mir lieber, ich gebe es zu, aber Hurch darf alles, darf auch pfäffisch sein und den Katholiken in sich schüren. Sogar das Kloster ließe ich ihm durchgehen, er darf alles. Schwarzgekleidet, mit dukalem Bart, das Kino im Herzen, hat er, Hurch, Boboville erbaut. Nicht alleine, gewiss, und keine einzige Farbe hat er angerührt. Für die Farbe haben mein Bäcker gesorgt und die kitrauchenden Bauerntöchter, die Bergaufschuhe vertrieben und Kristalle auflegten und John McLaughlin auf ihren Plattenteller legten und mit dem Further nach Haight-Ashbury pendelten.

Hurch hatte sich noch nicht gezeigt, am Bobovillegartenspitz, aber auch das durfte er, Hurch durfte alles.“

Aus: Dusl, Andrea Maria: Boboville, Wien, 2008, pagg. 137f.