Boboville ::: Lesung NordbahnSaal

Liebe Zeitgeistteilnehmerinnen!
Liebe Freund·innen!
Liebe Bobos!

Am Samstag, den 27. Jänner 2024
18:00 – 19:30h
lese ich aus meinem Stadtroman

Boboville

Wo? Im neueröffneten, sehr leiwanden
NordbahnSaal in der HausWirtschaft,
Bruno-Marek-Allee 5,
im 2. Hieb.

Kommet zahlreich!

Vorbestellkarten um 1 Euro (!)
gibt es hier:

https://kupfticket.com/events/andrea-maria-dusl-boboville

Das Bonbongeschäft

Boboville hat 1968 begonnen, da war ich sieben, sieben auf einen Streich, es war Sommer und Boboville war heiß. Gegenüber vom rosagestrichenen Haus, wo am 1. Mai die roten Fahnen der Sozialisten hingen, gegenüber vom rosa Haus mit der Putzerei, ein schönes Bild, das rosa Haus der Sozialisten mit der eingebauten Putzerei, gegenüber von diesem Haus lag das Geschäft. Die Keimzelle von Boboville. Das heilige Geschäft. Das Bonbongeschäft. bonbons stand in großen Lettern über dem Geschäft. Bonbonville hätte ich meine Insel genannt, hätte ich als Kind gewusst, das Zuckerl und Bonbons das Gleiche sind.

Das Bonbongeschäft, es existiert noch heute, meine ich, vierzig Jahre nach 1968, es war rot gestrichen und ist es noch. Rotsein hatte eine Logik für mich, lange bevor das Wort in mein Leben treten sollte. Als Siebenjährige hielt ich es für richtig, wie ich es damals nannte, dass gegenüber von Onkel Christians rosa Sozialistenhaus mit der Putzerei das rote Zuckerlgeschäft lag. Seine Auslagen waren mit Krapfen geschmückt, mit Indianern, Pariserspitz, leeren, vergilbten Bonbonnierenschachteln. Mit gelber Plastikfolie war sie ausgelegt, die Auslage, darin lagen Vanillekipferl, zu kleinen Vulkanen aufgeschichtet, Mannerbruch in Scheiterhaufenform, Windringe in zirkulär geschichteten Windringringen. Und manchesmal stand eine Nusstorte in der Auslage. Mit einem dicken Kakaocremekringel an der Schulter, gekrönt von einer Walnuss. Oder war es eine Kaffeebohne, mit der Schamspalte nach oben in den Kakaocremekringel gedrückt?

Die Scheibe des Bonbongeschäftes hatte 1968, wenn man die Scheibe gut kannte, auf Kindernasenhöhe leichte Blindheiten. Die kamen von den gierigen Häuchen, die wir beim Anblick von Torten und Mannerbruchgebirgen auf den kalten Scheiben hinterließen. Ein Besuch des Bonbongeschäftes ohne minutenlanges Verharren an der Oberfläche der Bonbongeschäftauslagenscheibe wäre kein Besuch des Bonbongeschäftes gewesen. Man musste sich genau einprägen, was man brauchte. Ob und welches Torteneck, welche Kombination wievielwelcher Zuckerl. In unserer linken Kinderbobofaust befanden sich, zwischen gekrümmte Finger geklemmt, die Schillinge. Schillinge. Einschillinge und Zehngroschenscheiben und kleine, randgerillte Fünfziggroschenknöpfe. Abgezählt. Zu imaginierten Groschentürmen gestapelt.

Denn Boboville 1968, als ich sieben war, hinter den Zwergenbergen, war immer auch Berechnung. Wie viel sich wovon ausging mit wie viel an kinderbobofaustgewärmtem Metall. Die Berechnung dessen, was die linke Faust umklammerte. Um zehn Groschen, das musste man wissen, wenn man mit der Nase an der Zuckerlgeschäftscheibe hing, ging sich immerhin ein Stollwerck aus, die Grundwährung meiner Bobovillekindheit. Mit einem im Fußabstreifergitter vor der Putzerei gefundenen Zehngroschenstück ging sich in der Frühzeit von Boboville ein Stollwerck aus. Es war so groß wie ein Auge im Quadrat und so hoch wie zwei Schulhefte dick, es war eingewickelt in ein zwergentischtuchgroßes Wachspapier. Das Stollwerck. Das Wachspapier, man musste es ablösen, solange das Stollwerck kalt war. War es warm, klebte das Wachspapier am Stollwerck. Fünf Minuten milchzähneverklebendes Lutschen ging sich aus mit dem Zufallszehngroschenstück aus der Bobovilleputzerei im Sozialistengebäude, dem TheodorHerzl-Hof. Theodor-dem-Erfinder-von-Israel-Herzl-Hof. Dass die Gasse ums Eck Malzgasse hieß, hatte Richtigkeit für uns. Schmeckte doch das braune, klebrige Stollwerck nach Malz. Oder nach dem, was wir für Malz hielten. Wir. Wir, die Bobovillekinder vorm Bonbonvillegeschäft. Und wo waren wir her? Aus der Leopoldsgasse, aus der Schreygasse, aus der Rembrandtstraße, aus der Nestroygasse. Aus der Unteren Augartenstraße, aus der Malzgasse. Die, nach der das Malz in den Stollwerck seinen Namen hatte.

Das Bonbonvillegeschäft in der Leopoldsgasse war eine Art Maschine, eine Konsumboboismusmaschine, die erste Konsumboboismusmaschine der Welt. Das Bonbonvillegeschäft musste man besteigen, es war nicht ebenerdig zu betreten. Ein kleiner, halbstufenhoher Absatz führte in eine rotbemalte Nische, rot, wie ja alles Holz am Bonbonvillegeschäft rot gestrichen war. In einem Rot, das eine leichte Fähle hatte, ein sonnengeblichenes, vom blauen Himmel ausgelaugtes Rot. Ein Rot, wie wenn man von oben in ein Himbeerkracherl schaute. Es knirschte, wenn man die Betretungsnische des Bonbonvillegeschäfts bestieg, es machte knarrende Geräusche. Selbst dem federleichtesten Leopoldsgassenkind aus der Schreygasse, in jedem Fall war das immer ich, denn ich war das zarteste, kleinste und gewichtsloseste aller bonbonaffinen Kinder in Frühboboville, selbst dem Hauch eines Kindes gelang es nicht, die Eingangsnische ohne das Eintrittsknirschen zu besteigen. Das Knirschen war Teil der Maschinerie.

Der zweite Mechanismus der Bonbonvillemaschinerie war nicht minder geräuschvoll. Eine Türe, rot gestrichen war sie und dreiviertelgläsern, sie musste an einer Griffstange gehalten und gegen den Widerstand eines Kugelschnappmechanismus aufgedrückt werden. Der Bonbontürmechanismus schärfte mein Talent für technische Zusammenhänge. Ich hatte damals keine Ahnung und heute ebensowenig, wie das Schloss hieß, war es ein englisches Patent oder ein amerikanisches? Für das Kindermich war es eine kleine Messingnuss, die von einer Feder in die Außenwelt gedrückt wurde. Sie war mit honigfarbenem Schmierfett verklebt und roch nach Fahrradkette. Die Messingnuss hielt die Türe im Schloss. Man musste mit dem ganzen Gewicht eines zuckerschuldigen Kindes an der Türe drücken, um den Widerstand der honigschmierfetten Messingnussfeder zu überwinden. Das geschah, so es geschah, denn es war nicht leicht, stets mit einem Knall, von dessen mechanischer Erschütterung die Glasscheibe in der Bonbongeschäftstüre klirrte. Leicht, so dachten wir, könnte dieses Glas brechen und zu enormen Kinderschulden bei den Bonbongeschäftsinhabern führen. Schellende Ohrfeigen, markzersetzendes Angeschrienwerden, schmerzhafte Schüttelungen und daheim dann schlicht lebenslanges Fernsehverbot nach sich ziehen. Der Eintritt ins Bonbonparadies war untrennbar mit der Angst verbunden, die Zuckerpforte zu zerstören. Indes, das Dilemma war Teil einer ausgeklügelten Inszenierung. Nie nämlich, ja nie ist das Glas des Paradiesportals aus seinen Kittfugen gesprungen. Die Diabolik dieses Mechanismus war ebenso perfide wie gefürchtet.

Hatte man die Türe aufbekommen, schlug ihr Blatt rechts oben, eine Handbreit aufgedrückt, gegen ein Glöckchen. Als hätte das Knirschen der Betretungsnische und das Knallen der Türe nicht schon genug Bonbongeschäftsalarm ausgelöst. Knirschknallklingeling, das war, in Geräusche umgesetzt, das Süßigkeitenprogramm des Bonbonvillegeschäfts. Zuckerlkauf war ein Abenteuer, dessen Ritualpartikeln sich nicht alle von uns aussetzen wollten. Ich jedenfalls hatte bald eine Technik einstudiert, die Sesam-öffne-dich-Arbeit anderen aufzuschultern. Einem anderen Kind, einer Bonbonnierekäuferin, einem Schokohurtigen, einem Diabetiker auf Selbstzerstörungstour. Irgendjemandem jedenfalls, der die honigfette Nuss für mich aufdrückte. Sobald ein Helfer nahte, stellte ich mich in die Nähe der Eingangsnische, studierte den Mannerbruch, zählte die heidelbeergeschmackigen unter den Hellerzuckerln oder dachte mir sonst eine Unauffälligkeit aus. Das hatte ich mir von den Bienen abgeschaut. Die zuckelten doch auch zögerlich vor den Kelchen herum, um mit ihrem Schwirren andere Bienen zum Blütenbesuch anzustiften. Diese Vorgänge wollen deshalb in aller Ausführlichkeit erzählt werden, weil zum Verständnis Bobovilles das Verständnis für die Abweichung gehört. Bobovillains sind am Ungleichartigen interessiert, nicht am Uniformen. Auch von diesen Vorgängen wollten die Blindheiten stammen, die in Kindermundhöhe in die Auslagenscheiben geätzt waren. Von den Häuchen der Wartenden. Von den perfide vor dem Kelch taumelnden Kinderbienen.

Und dann kam sie, die dicke Hummel im Hubertusmantel, die Tortensuchende, den Seppelhut aufs weiße Lockengebirge drapiert. Und die knirschknalldrückte mir die Türe zum Süßigkeitenjerusalem auf.

Von Innen, das will ich gerne zugeben, ließ sich die bestialische Türe so leicht wie geräuschlos manipulieren. Von Innen sehen alle Initiationsrituale lächerlich aus. So geräuschvoll der Eintritt war, so leise, so sakristeihaft still war es im Inneren des Bonbongeschäfts. Ein Zimmerchen, von einer L-förmigen Glastheke beherrscht. Keine von den Bonbonischen befand sich je bei Eintritt in ihr Reich hinter dieser Budel. Die Bonbonischen befanden sich in lauernder Stellung, in der Tiefe ihrer Geschäftsräume. Ich entwarf ein Bild von ihnen, wie sie auf rosaledernen Sofas, im Lichte schokoladenfarbener Stehlampen vollgeklebte Fußballbilderalben studierten und Eskimoeiskataloge, Keksbestelllisten ausfüllten oder auch nur die Kreuzworträtsel in der Zuckerbäckerinnungsgazette. Vielleicht schliefen sie auch auf großen Schaumrollen? Designschaumrollen gewiss. Aus der Carnaby Street. Im Lichte himbeersaftfarbener venezianischer Luster.

Wie auch immer, nach dem Vergehen einer guten Minute krabbelte eine der Bonbonischen aus ihrem Versteck, nach meiner Erinnerung eine kleine, dicke Frau mit blaukarierter Textilviertelschürze, die Leopoldstädter Friseurbesuchsfrisur im Haar, zur Zeit, in der meine Erinnerung spielt, war es das silberblau getönte Lockenhaupt. Die Frisur der Gegend war uniform, silberblaue Dauerwelle. Nur Frau Natiesta im dritten Stock unseres Hauses in der Schreygasse, einen Apfelbutzenwurf von hier Richtung Leopoldsberg, hatte weißgoldenes Haar.

Die Bonbonische war mürrisch, sie hatte dicke Hände wie die Babuschkas in der Ukraine, wie die Waldviertler Kartoffelbäuerinnen. Dicke, kurze Hände. Und mürrisch war sie. Alle Bonbonischen sind mürrisch, anders als mit militanter Mürrischkeit lässt sich ein Bonbongeschäft nicht führen. Die Mürrischkeit paarte sich mit Präzision. Der Bonbonischen konnte man die ungeheuerlichsten Listen vortragen. Mehrstellige Listen. Listen, die von 17 weißen Stollwerck handelten, drei Liebesherzen, zwei Fizzersrollen, zwei Bazooka-Kaugummi-Paketen, drei Kuverts Fußballbildern, zwei Schlangen, zwei Colaflascherln aus Gummi, einer Packung Brause Orange, einer Packung Brause Zitron, einem Leberknödel.

Die Bonbonische hatte im Kopf mitnotiert, und schon beim Ausklang des Wortes Leberknödel, oder was auch immer das Ende der Liste markierte, die Summe parat. Dreizehn dreißig. Mehr als Dreizehn dreißig überstieg so ein Großeinkauf im Bonbongeschäft nie, und es war immer eine Kombination aus Groschen und Einschillingmünzen. Und immer zahlten wir sofort. Nach Bekanntgabe der Liste. Erst dann grub die Bonbonische in den Details und schichtete mit einer Genauigkeit, für die sie Uhrmacher beneideten, unser Zuckerwerk in weiße Papiersäckchen. Mit denen man später, waren sie leer und aufgeblasen, einen bobovilleerschütternden Knall machen konnte. Mürrische Genauigkeit. Die lernten wir bei der Bonbonischen. So waren die mehrstelligen Listen ja auch zusammengestellt worden, durch mürrisch genaue Kalkulation von Zuckerlpreisen. Zehngroschenscheiben ließen sich gegen Stollwercke tauschen, Fünfziggroschenknöpfe gegen Fizzersrollen, Bazooka-Gums, Brausesäckchen und Gummilutschzeug. Nur die Panini-Fußballbilder waren in Schillingwährung geerdet. Und der dicke, fette Leberknödel, das Zweischillingmonster. Sein wuchtiger Preis folgte gestalterischer Logik. Nach dem Essen der Nougatbombe war der Kindermagen verklebt. Nicht mal Brause konnte dann den fetten Nougatleberknödel durch den Bauch spülen. Der Nougatleberknödel war der Gruftdeckel des Zuckerlgrabs.

Das Reich der Bonbonischen war im Gegensatz zu den anderen Geschäften auf der Insel auch an Sonntagen geöffnet. Manchesmal musste ich hier Sonntagsmilch für daheim einkaufen. Oder Sonntagskaffee. Oder Sonntagszucker. Die Bonbonischen verwahrten Milch auch an Nichtsonntagen in einem Geheimkühlschrank. Denn die Zuckerlgeschäftkonzession verbot 1968, im Jahr, als am Boulevard SaintGermain die Pflastersteine flogen, gewiss den Verkauf von ungezuckerten Nahrungsmitteln. Es war mir damals schon bewusst: Geschäft ist immer auch Verbrechen. Milch verkaufen, wo Milchverkauf verboten ist. Kaffee verkaufen, wo Kaffeeverkauf verboten ist.

Bei den Bonbonischen saßen manchmal Leute vom Grund. Ausgemergelte Gestalten bei einer Tasse schwarzen Mokkas, die sich vorgaukelten, bei den Bonbonischen etwas für die Gesundheit zu tun. Mokka und Underberg tranken sie, an einem Resopaltischchen sitzend, und auch wenn sie dabei keine Falk inhalieren durften und keine Ernte 23, war das für die Ausgemergelten gewiss so gesund wie Zuckerzeug für Kinderzähne.

Das himbeerkracherlrote Bonbongeschäft gegenüber von Herzls sozialistischer Dampfbügelei ist der Nabel von Boboville. Auch wenn andere Bobovillains von anderen Nabeln wissen wollen. Von Nabeln im Village oder im Marais. Oder Umbilicae in Castro, Mitte und Kreuzberg. Alles Quatsch. Der Omphalos von Boboville ist das rot gestrichene Bonbongeschäft gegenüber vom rosa Gemeindebau, der nach Theodor Herzl benannt ist. Gestern habe ich das Schreiben des Bobovillebuchs unterbrochen, um in einem hastigen Anflug von Bekümmerung in die Leopoldsgasse zu fahren und Nachschau zu halten, ob das Bonbongeschäft überhaupt noch existiert. Ich parkte vor dem rosa Gemeindebau, wie es sich für Bobovillains gehört, mit drei Rädern im Kriminal, auf der Bushaltestelle nämlich. Mein Schreck war groß. Das Bonbongeschäft existiert. Unverändert. Sogar die gelben Plastikbahnen in seinen Auslagen sind noch da. Etwas gebleicht von der Leopoldstädter Sonne.

Aus: Dusl, Andrea Maria: Boboville, Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg, 2008, pagg. 10ff.

Wien, Wien, nur du allein …

Auf der Suche nach dem Kern des echten Wieners.

Gespräch mit Andrea Maria Dusl über Verzwergung und Attitüde, Sprache, Schwergewichte und Humor.

BARBARA HUTTER, Salzburger Nachrichten vom 13. November 2021, Kultur/Leben, Seite 9.

„Es gibt keine echten Wiener.“ Ein bisserl schlucken muss man schon bei dieser kategorischen Verneinung. Weil: Schön war’s schon, im Ausland immer sagen zu können, ja, ich bin eine Wienerin, ja eine echte. So was. Vor allem bei den deutschen Nachbarn kommt das ziemlich gut. Wien, hach! Aber Befindlichkeiten beiseite, die Person, die das eingeboren Wienerische so ganz generell in Abrede stellt, muss halt schon als Fachfrau, ja wenn nicht gar Autorität auf diesem Gebiet respektiert werden. Andrea Maria Dusl, aus alteingesessener (gilt das?) Wiener Großbürgerfamilie mit schwedischen Episoden, Kulturwissenschafterin, Autorin und Zeichnerin, Kolumnistin in Falter, Standard und vor allem in den „Salzburger Nachrichten“, diese kleine Eigenwerbung darf sein, sagt also auf die Frage, ob es so etwas wie echte Wiener gebe: „Nein.“

Na gut. Dusls Expertise lässt sich durch drei Bücher belegen, „Wien wirklich!“, „So geht Wien“ und „Wien für Alphabeten“. Und, wenn man so will, auch ein viertes Buch, „Boboville“, das sich allerdings mit einer Teilmenge der Wiener und Wienerinnen befasst, wenn auch einer wachsenden. Wien, das ist ein ewiger Zuzug. Manche bleiben hier, andere ziehen wieder weg.

Die Historie zählt sie auf: Die Ziegelböhm’, nach dem Ersten Weltkrieg dann die Altösterreicher aus Triest, Czernowitz und Reichenberg, später die Gastarbeiter, erst vom Balkan, dann aus Anatolien, in letzter Zeit die laut Dusl „unintegrierbaren“ Deutschen. Ein hartes Urteil. Über das man gleich ins Grübeln kommt. Dusl hat eine Theorie: „Alle, die hierherkommen, lieben diese Stadt.“ Vielleicht hat ja sogar Thomas Bernhard, in dessen Stammcafé „Bräunerhof“ dieses Gespräch stattfindet, trotz seiner Schimpftiraden Wien geliebt. „In der G’ham“ sozusagen.

Andere sind weggezogen, nicht selten nach Berlin, der „geheim-ungeheimen Exildestination enttäuschter Wiener“. So auch der Kaffeehausliterat Anton Kuh. Er lästerte: „Lieber unter Wienern in Berlin als in Wien unter Kremsern.“ Wobei für Wiener a priori nichts gegen Krems einzuwenden ist, wer so viel Grünen Veltliner erzeugt wie die Kremser, kann kein schlechter Mensch sein.

Das resche Tröpferl hat jüngst einen Siegeszug durch die Weinbars von New York hinter sich, die Erinnerung an die Dauermigration ist auch sehr wienerisch. „New York ist die Fortsetzung von Wien, selbst wenn man die Sprache nicht beherrscht, ist alles sehr wienerisch. Woody Allen könnte ein Wiener sein.“ Und Hollywood – ein Wiener Exporthit. „Das sind eigentlich Operetten, mit Wiener Programmmusik von Max Steiner, Erich Korngold. Die Regisseure haben dort mit dem weitergemacht, was sie am Theater in Wien getan haben. Der Kern kommt eben aus Wien, auch der Humor.“

Apropos Humor. Die Schreiberin dieser Zeilen – als echte oder jedenfalls gebürtige Wienerin, wir erinnern uns – kommt aus dem Kichern gar nicht mehr heraus beim Blättern in „Wien für Alphabeten“. Bassena, so steht hier, das Facebook der Metternichzeit. Opernball, seit Beginn der Treffpunkt der zweiten und dritten Gesellschaft. Und man fühlt sich leicht ertappt. Und manchmal sogar ein bisserl, na, sagen wir, ang’rührt. „I wü’s gar ned wissen, ned so genau“, singt Willi Resetarits, alias Dr. Kurt Ostbahn, der musikalischere der beiden bühnenpräsenten Resetarits-Brüder.

Womit wir in der Vorstadt wären, in den proletarischen Bezirken, zwischen – siehe oben – Bassena und dem Beserlpark, einer der Brutstätten heimischer Fußballerfolge. Die Familie Resetarits als Burgenlandkroaten übersiedelte zu Beginn der 1950er nach Wien, nach Favoriten. Dort lernten die Buben Willi und Lukas Deutsch. Als Waffe. „Es ging darum, wer den besseren Schmäh hat und daher das bessere Deutsch.“ Das Wienerisch des entsprechenden Soziotops, in dem Fall Favoritnerisch, das Dusl so definiert: eine Schwestersprache von Meidlingerisch mit tschechischer Grammatik. Wienerisch gebe es gar nicht, es sei vielmehr eine Art von Effekt. „Wenn man wissen will, wie früher Wirte oder Kutscher in Wien gesprochen haben, muss man ins Weinviertel fahren. Ein Hollabrunner Bauer spricht wie ein Wiener aus dem Jahr 1900.“

Favoritnerisch ist jedoch nicht zuletzt Idiom von Edmund Sackbauer, dem Mundl, der in den 1970ern zum „echten Wiener, der nicht untergeht“ wurde. In der Person von Karl Merkatz, im weißen Feinrippleiberl und mit Bier in der Hand. Kindheitserinnerungen kommen hoch. An die Großmutter, ebenfalls in Favoriten ansässig, die mit erstarrter Miene und einem Blick voll Verachtung die Tirade an Kraftausdrücken, die aus dem SchwarzWeiß-Fernseher quoll, über sich ergehen ließ. Allerdings nur ein einziges Mal und mit dem abschließenden, eisigen Kommentar: „So ordinär reden wir Wiener ned.“

Eins allerdings hat der Mundl mit dem Vater der Oma gemeinsam: das Gewichtheben. Ein zeitlich begrenztes Phänomen in Wien. Der Volkssport – fast jedes Wirtshaus hatte seinen eigenen Gewichtheberverein, der Uropa hatte beides – geht auf Markgraf Pallavicini zurück, Alpinist, begeisterter Gewichtheber und Erfinder der Hantel, so will es die Anekdote, als er vor dem Sacher zwölf Personen in eine Kutsche klettern ließ und dann die Achse hochhob.

Wienerisch gibt es nicht, das ist eine Art von Effekt.

Andrea Maria Dusl
Kolumnistin, Autorin, Zeichnerin

Wien ist eine alte Stadt. Einst größte Stadt im Heiligen Römischen Reich, noch 1910 viertgrößte Stadt der Welt. Wen wundert der Phantomschmerz? Dusl: „Die zwei Weltkriege haben Stadt und Land verzwergt. Aber alle Attitüden sind noch da, ein österreichischer Diplomat fühlt sich auf Augenhöhe mit russischen oder britischen Kollegen.“ Vom scheinbar Servilen soll man sich nicht täuschen lassen: Das Aufmüpfen zählt ebenfalls zum Wesen des Wieners. Hier musste sich die Intelligenz immer entscheiden: Aufrührer oder loyal?

Und noch etwas: Die wirklichen Deals werden im Kaffeehaus gemacht. Die byzantinische Technik, in Halbsätzen was anzudenken, Nuancen im Dialog. Übers Handy? Das ist provinziell. Alles passiert gleichzeitig: Verzwergung und Überhöhung, Provinzialisierung und Internationalisierung. Qualtinger hat gesagt: Österreich ist ein Labyrinth, in dem sich jeder auskennt. Das stimmt auch für Wien. Dem Besucher rät Andrea Maria Dusl, in ein gutes Kaffeehaus zu gehen, sich hinzusetzen und den Mund zu halten. Was man da trinken soll? Wurscht. Ein Wiener würde ohnehin nichts empfehlen. Besichtigen? Gar nichts. Alle Sehenswürdigkeiten seien Fantasieorte, erzählen keine lebendigen Geschichten, seien Statuen. „Lesen ist einfacher. Lesen Sie Thomas Bernhard und alle meine Bücher.“

10 Dinge, eines gelogen

Der von mir überaus geschätzte österreichische Autor und Journalist David Baum  hatte mich auf Facebook darum gebeten. Ohne Zögern machte ich bei dieser “Competition” mit und listete 10 Dinge auf, von denen zu behaupten war, dass ich sie mal getan hätte. Eines davon, so die Vorgabe, musste gelogen sein.

Ich habe/bin, so behauptete ich (und führe im Folgenden auch den Nachweis):

1. von Tabori zum Essen eingeladen worden, von Peymann nicht.
2. Rocko Schamoni in einem Theater einen Zungenkuß gegeben und erst später erfahren, wer das war.
3. einer toten alten Dame mit einer Säge aus dem Baumarkt die Schädeldecke aufgesägt.
4. in Ascona die 5-Sterne-Suite neben Sydney Pollack bewohnt.
5. in Rom bei einem Mafia-Gala-Diner Ehrengast gewesen.
6. auf einem Fest 34 weiße Spritzer getrunken.
7. mit Gerd Schröder in Köln Boogie Woogie getanzt.
8. mit den Leningrad Cowboys im Alt Wien bis in den frühen Morgen Schnaps gesoffen.
9. mich eines Nachts im Café Kunsthalle angezündet und in Flammen gestanden.
10. im Suez-Kanal geschwommen.

Die sehr sehr argen Sachen und Begebenheiten meiner Biographie konnte ich nicht in dieser Liste versammeln. Das waren Sachen, wo meine Eltern die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und den Satz: „Du hast Schande über unser Haus gebracht“ und Ähnliches, ja Schlimmeres von sich gegeben haben. Von Außenstehenden habe ich zu ausgewählten Erlebnissen meiner persönlichen Geschichte den Satz „das habe ich noch niemals erlebt“mehrmals gehört.

Ich bin übrigens untätowiert und habe noch alle Finger. Und ich hatte, dabei klopfe ich dreimal auf Holz, noch nie einen Verkehrsunfall. Bis auf den einen vor meinem Gymnasium, wo der Richter seiner Tochter die Autotüre öffnete und ich mit dem Rad gegen ebendiese Türe krachte. Der kleine Finger meiner linken Hand ist seither gefühllos.

Löse wir die Geschichten in der auf Facebook geposteten Reihenfolge auf.

1. Ich bin von Tabori zum Essen eingeladen worden, von Peymann nicht.

In den 80er Jahren arbeitete ich als Bühnenbild-Assistentin, war sehr unglücklich und wollte dringend nach London auswandern um dort vom Glück einer wirklichen Stadt zu naschen. Ich sparte und sparte Geld und sagte mir, ‚ich mache alles, um endlich aus dem grauslichen Wien rauszukommen‘.

Ich studierte den Stadtplan von London, als das Telefon schrillte. „10 Dinge, eines gelogen“ weiterlesen

3.11.2017 – Rabenhof – Premierenlesung

 

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Literatursalon im Gemeindebau
Rabenhof Theater
Freitag, 3.11.2017, 20h
1030 Wien, Rabengasse 3
Tel.: +43 1 712 8282
Fax DW 65

Eintritt € 15.-

Comandantina Andrea Maria Dusl präsentiert ihr neues Buch. Durch den Abend führt die Autorin selbst. 
Im Aufklärungsband „Wien wirklich“ berichtet sie aus Grätzel, Vorstadt und Villenviertel, macht sich mit Prolos und Piefkes gemein, mit Bobos und Bimfahrern, mit Witzfiguren und Würdenträgern. Zentrale Fragen des Wienerischen werden beleuchtet: Wie unterscheidet sich der Jargon der Jeunesse vom Schmäh der Strizzis? Wie gschert ist der Gschaftlhuber, wie gschupft die Galerie? Was hat die Frucht mit dem Futkarli zu schaffen und was verbindet Held und Hausmeister?
„Wien wirklich! Von Amtsperson bis Würstelmann“,
Metroverlag Wien, 2017.
In den Buchhandlungen!
ISBN: 978-3993003043

Hans Hurch.

„Sehr schön haben sie es gemacht, die Leinwand steht schön, viel Aufmerksamkeit, Filmarchiv, Filme, betrunken, muss bleiben, noch, ja, Archiv, Filme, Stadt, Signal jetzt schlecht. Ist Hurch herum? Hurch? Hurch herum, er wird doch was sagen, Hurch, Hans Hurch. Verstehe nur Hurch, genau, Hurch, Hans Hurch, wird er reden? Sehe ihn nicht. Er wird wohl reden.

Hans Hurch hatte das Reden bei den Katholiken gelernt, deswegen sprach er auch wie ein Pfarrer. Hurch, Bobovilleurgestein, in die Stadt gekommen, als Boboville noch aus drei Stühlen bestand und einem Regal.

Hurch darf bei mir alles, dachte es in mir, pfäffisch reden, einen Mullahbart tragen und existenzielles Schwarz, Hurch darf bei mir alles, denn er hat meinen Film gezeigt. Auf dem dicken Festival, meinen ersten Film, nie hätte ich darauf gehofft, aber er hatte es getan. Meinen Film gezeigt, ohne mich zu kennen, ohne Freundschaft oder Liebe, weil er den Film gesehen hatte. Auf dem Rad hatte er gesessen, in Locarno. Habe den Film gesehen, hatte er wackelig gesagt, der Schweiß war in Strömen aus seiner schwarzen Klu gelaufen, werde ihn zeigen. Den Film. Deswegen darf Hurch alles. Wenn Hurch mal in der Patsche sitzt, werde ich kommen, die Hand reichen und Hurch aus der Patsche ziehen. Hat mir geholfen, Hurch darf alles, werde ich dann sagen, Mullahbart hin, schwarze Kluft her, Hurch darf das, pfäffisch reden und in Rätseln, Freunde nicht mögen, ungerecht sein. Hurch darf.

Er sah aus wie ein spanischer Grande, den zwei Zeitmaschinen in der Mangel gehabt hatten, eine hatte den Hurghe-Duque aus Medina-Sidonia gebeamt, aus der ältesten Stadt Europas, mitten aufs Land, in ein kleines Poughkeepsie, wo sie Käse reifen lassen und Cinematophilie. Eine zweite Zeitmaschine hatte Hurch als einen der ersten aus dem Käsepoughkeepsie ins Protoboboville expediert. Protobobovillains wie Hurch tragen ihr Leben lang Schwarz. Am Schwarz ihrer Couture ist Sartre schuld. Und Camus. Hurch darf schon deswegen alles, weil ich die Schwarztragenden schätze. Als Atheisten sind sie mir lieber, ich gebe es zu, aber Hurch darf alles, darf auch pfäffisch sein und den Katholiken in sich schüren. Sogar das Kloster ließe ich ihm durchgehen, er darf alles. Schwarzgekleidet, mit dukalem Bart, das Kino im Herzen, hat er, Hurch, Boboville erbaut. Nicht alleine, gewiss, und keine einzige Farbe hat er angerührt. Für die Farbe haben mein Bäcker gesorgt und die kitrauchenden Bauerntöchter, die Bergaufschuhe vertrieben und Kristalle auflegten und John McLaughlin auf ihren Plattenteller legten und mit dem Further nach Haight-Ashbury pendelten.

Hurch hatte sich noch nicht gezeigt, am Bobovillegartenspitz, aber auch das durfte er, Hurch durfte alles.“

Aus: Dusl, Andrea Maria: Boboville, Wien, 2008, pagg. 137f.

Kasperl und Pezi

Kasperl und Pezi sind zentrale Figuren im Pandämonium Wiens. Sie sind apokalyptische Sendboten byzantinischer Dialektik, lebende Tote aus dem ständestaatlichen Gesellschaftskontinuum, Zeitzeugen einer ins Lächerliche geschmissenen, kleinbürgerlich-kleinstbürgerlich deformierten Vorzukunft. Und mit jeder Faser ihrer Puppenleiber sind die beiden Provinzler Kasperl und Pezi eines: Echte Wiener. Philosophen des Sch(m)erzes.

Andrea Maria Dusl: ‚Wien, Personal‘, Wien 2017, aus dem Manuskript.

Das Wiener Kaffeehaus

Ein Essay von Andrea Maria Dusl

Für die WELT am SONNTAG; geschrieben am 28.7.2016

-> Wiener Kaffeehäuser sind mythische Orte – in: Welt Am Sonntag vom 8.1.2017, S. 52/53.

©Andrea Maria Dusl - Wien - Café Sperl comandantina.com
Café Sperl, Wien.

Das Kaffeehaus ist der Minotaurus im Labyrinth Wien, jenem Irrgarten, in dem sich alle auskennen. Als Ariadnefaden dient der Diskurs, der hier gepflogen wird. Sei er selbstreferentiell oder dialogisch.

Viel Unsinn ist über diesen wienmythischen Ort geschrieben worden. Das meiste von Einheimischen, der Rest von unterinformierten Adoranten aus dem befreundeten Ausland. Effekt dieser Publikationsflut ist ein grundsätzliches Missverständnis Uneingeweihter über Funktion und Bestimmung des Wiener Kaffeehauses.

In Zirkulation befinden sich Deutungen, die dem Wiener Kaffehaus uneingelöste gastronomische Kompetenzen zusprechen – von der Eleganz und dem Charme der Oberkellner ist die Rede, von der fabulösen Mehlspeistradition, und der unnachahmlichen Qualität des hier gesiedeten Kaffees. Unsinn.

Wegen des Kaffees jedenfalls ging oder geht niemand mit ernsten Absichten und einigermassen Erfahrung in ein Wiener Kaffeehaus. Der Bohnenseich ist im besten Fall trinkbar, meist ärgerlich bitter, schal und nicht selten schlicht ungenießbar.

Warum also geht man in Wien in ein Kaffeehaus? Warum bleibt ein Wienbesuch leer und ereignislos, ohne den Besuch einer solchen gastronomischen Einrichtung? Die Frage ist so berechtigt, wie unbeantwortet. Im Triestiner Caffè degli Specchi gibt es den besseren Kaffee, das venezianische Caffè Florian hat die bessere Adresse (und das elegantere Ambiente), das New York kávéház in Budapest beeindruckt mit grösserem Prunk und in den Pariser Cafés Les Deux Magots und de Flore wird mehr und höherstehend philosophiert, geschrieben und debattiert. Was also macht das Wiener Kaffeehaus zu einer Institution von weltgeltender Einzigartigkeit?

Ins Wiener Kaffeehaus, so die lokale Sinnstiftung, ging und geht man, um sichtbar unsichtbar zu sein, ungestört zu stören, und, wie es so treffend heißt, nicht daheim zu sein und doch zu Hause. Das ist alles? Das ist alles.

Das Wiener Kaffeehaus, eine orientalische Idee, 1685 vom Armenier Owanes Astouatzatur vulgo Johannes Diodato erstmals eingerichtet, ist eine Akademie der Dialektik. Die Verhältnisse an diesem real-irrelen Ort können auch überschiessen und statt ins Paradies direkt in den Untergang führen. Das Wiener Kaffeehaus, so dürfen wir ein Zitat Winston Churchills abwandeln, produziert mehr Geschichte, als es lokal konsumieren kann.

Gehen wir näher ran. Dort wo der Schmerz sitzt. Wiens Öffentlichkeit ist spärlich entwickelt. Es gibt eine Presse, aber sie hat nur lokale Bedeutung. Es gibt eine Intelligenzija, aber sie meldet sich kaum zu Wort. Die Menschen in der Metropole der Depression haben nie Gelegenheit ergriffen, eine heterogene zivile Gesellschaft aufzubauen, geschweige denn, ein Sensorium dafür zu entwickeln, was Öffentlichkeit bedeutet, bedeuten kann und in letzter Konsequenz: bedeuten soll. Es wundert also nicht, dass sich in der Versuchsstation des Weltuntergangs stattdessen eine Kultur der Halböffentlichkeit entwickelt hat.

Die einzige brauchbare Begegnungsstätte dieses verborgenen Austauschs, eine Agora aphana, war und ist das Kaffeehaus. Es ist die einzige funktionierende Aufklärungsmaschine des Landes. Im Kaffeehaus wurden und werden Nachrichten gedealt, Revolutionen geplant, Symphonien geschrieben. Im wörtlichen, nicht im metaphorischen Sinn.

Eine oft erzählte Anekdote des sozialdemokratischen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky kolportiert einen Ohrenzeugenbericht seines Vaters. Als in dessen Stammlokal, dem Café Central die Nachricht von der Oktoberrevolution eintraf, sei sie von einem anwesenden Minister mit Unglauben aufgenommen worden: “No, sag, mir einmal, wer soll dort eigentlich Revolution machen, vielleicht der Herr Bronstein dort drüben?“ Lew Dawidowitsch Bronstein, schachspielender Stammgast im neogotischen Kaffeehaus in der Wiener Herrengasse, war niemand geringerer als der russische Revolutionär, spätere Außenminister und Gründer der Roten Armee: Leo Trotzki. Besagter Bronstein, die späteren Diktatoren Stalin und Hitler, der nachmalige Jugo-Marschall Tito und ein gewisser Dr. Freud sind, so die oft angestrengte Überlegung, mit einiger Wahrscheinlichkeit im Jahr 1913 gleichzeitig im Café Central gesessen und haben ihr jeweiliges Leibblatt studiert, vielleicht sogar die eine oder andere Partie Schach oder die Kaffeehauszerstreuung Karambol miteinander gespielt, jedenfalls aber Kaffee aus der selben Maschine getrunken.

Viel wurde geschrieben und berichtet vom Lieblingscafé, vom Stammcafé. Auch dieser Mythos steht auf schlechtem Fundament, denn die Wienerin und der Wiener und alle, die es ihnen gleichtun, haben für jeden Zweck ein eigenes Kaffeehaus. Für das Ungestörtsein eines, für schwierige Treffen ein anderes, ein drittes für das Rendezvous, ein weiteres für den Tortenheißhunger und ein fünftes, in dem man jederzeit ungefragt aufs Klo gehen kann.

Die Kaffeehäuser der Stadt sind Maschinerien mit vielfältigem Kharma. Manche hat der Kaffeehausgott zu früh von uns genommen (und in Autosalons und Fluglinienbüros überführt). Manche hat er bis zur Kenntlichkeit entstellt, manche hat er dem Dämon touristischer Tauglichkeit geopfert. Nicht wenige hat die Vergangenheit in den bösen Strudel der Vernichtung gezogen. Auf der Suche nach einem typischen Wiener Kaffeehaus bietet etwa der Zweite Wiener Gemeindebezirk ein trostloses Bild. Das hat Gründe und sie sind bitter. Die Mazzesinsel, vorrangiger Wohnbezirk des jüdischen Mittelstandes, wurde von den Nazis grausam entvölkert. Wo es kein Publikum für die Institiution Kaffeehaus gab, sperrten auch die arisierten Cafés bald zu.

Die Liste derer, die in einem spezifischen Kaffehaus verkehrten, war stets länger als das Verzeichnis der Abwesenden. Würde Wien bis auf alle Grundmauern verschwinden und nur ein einziges Café bleiben, man könnte die Stadt wiedererrichten aus den Geschichten, die hier erlebt wurden, aus dem Personal, das es bevölkerte, aus der Sprache, die hier gesprochen wurde.

Im Paralleluniversum Kaffeehaus wurde und wird ein Jargon gepflogen, der das Amüsement des Alltäglichen auf der Schaumkrone des Abgründigen spazierenschippert. Für Hege und Pflege dieser Sprache, die als „Kaffeehauswienerisch“ noch nicht endgültig erforscht und beschrieben ist, sorgt eine (meist kleine) Stammkundschaft, die sich in hingebungsvoller Treue um einen sogenannten “Lieblingskellner” schart. Einer dieser Protagonisten, das Original “Herr Peter”, des verlustig gegangenen Intellektuellen-Cafés Salzgries, führte allen ernstes Visitenkarten, die ihn als „Peter Ferber, Leitenden Direktor der manuellen Getränke-, Kaffee- und Lebensmittelspedition auf mikroregionaler Ebene“ auswies. Besagter ist nicht das einzige Original im Kosmos Café. Legendenhafte Verklärung wurde etwa dem Kaffeesieder-Ehepaar Hawelka zuteil, das im gleichnamigen Künstlercafé die Polarität von Oberkellner-Depression und Kuchenküchen-Manie zelebrierte. Ein Besipiel anderer Dimension manifestierte sich in “Herrn Robert”, der drei Jahrzehnte hindurch im ehrwürdigen Politiker-Café Landtmann amtierte. An seinem letzten Arbeitstag ehrte ihn zahlreich erschienene Prominenz. Wiens Bürgermeister Michael Häupl servierte dem Scheidenden, der ihn so oft bedient hatte, einen kleinen Braunen und überreichte ihm die populärste Auszeichnung der Stadt, den “Goldenen Rathausmann”. Für den „berühmtesten, diskretesten und zuvorkommendsten Kellner Wiens“.

Zuvorkommend muß nicht freundlich heißen. Ist doch die zentrale Befindlichkeit eines Wiener Kaffehauskellners (Arbeitskleidung: schwarzer Smoking, weisses Hemd, schwarze Fliege) der “Grant”. Touristen und Stadtnovizen haben bei Identifizierung und Einordnung dieser spezifisch Wienerischen Befindlichkeit schlechte Karten, sind sie doch durch die gastronomischen Usancen in angloamerikanisch empathisierten Gegenden verweichlicht und empfinden Groll und Unsicherheit gegen jene wortkarge Befindlichkeit, die unter der wienerischesten aller Wiener Gefühlswetterlagen summiert werden.

Auf der Suche nach dieser Seelenregung werden wir bei bei Thomas Bernhard fündig, der diese überaus Wienerische Laune wie eine Exoprothese einzusetzen wusste. In anderen Gegenden als der Bitterwelt Bernhards wäre der “Grant” eine Sünde wider das Miteinander, im Wien der Ichleidenden ist er nicht die Krankheit, sondern sein Remedium. Wer in Wien grantelt (und nur hier lässt es sich granteln), der ist schon auf die sichere Seite therapeutischer Sinnstiftung gekrochen. Der Grant ist tiefgefühlter Ausdruck ehrlichen Ringens um Güte. Man hüte sich, befinde man sich in Wien, vor der Lüge der Freundlichkeit.

Eine beliebte Herkunftshypothese will den Grant, die Miene gewordene Unzufriedenheit, in den Gesichtern der neuzeitlichen spanischen Granden ausmachen, die Wien im Zuge der habsburgischen Imperialexpansion aufsuchten. Nach dieser Erklärversion hätten die Wiener die blasierten und übelgelaunten iberischen Aristokraten als grandig, grantig wahrgenommen und die höfische Bezeichnung für die Hohen Herren flugs zur Vokabel für hiesiges Stimmungsklima gemünzt. Etwas wahrscheinlicher ist eine Wortherkunft vom althochdeutschen “grintan”, mit den Zähnen knirschen. Mit größerer Sicherheit kommt der Grant aber vom oberdeutschen “grennen”, weinen. Hier schliesst unser heute noch verwendetes Greinen an, das lautmalerisch dem Weinen ähnelt, und das leise in sich Hineinflennen meint, ursprünglich aber wohl – wie das verwandte Grinsen –  jegliche Form des Mundverziehens bezeichnete. Wir fassen die Kaffeehausgefühle zusammen: Einzig der Grant ist Glückes Garant.

Als es in den späten Neunzigern kalt geworden war in der Stadt und die politische Rechte erstmals ihre populistische Schraube angezogen hatte, leimte die Freiheitliche Partei Jörg Haiders gequirlten Unsinn an die Wände: „Wien darf nicht Chicago werden“.

Kaffeehausliteraten antworteten an der Toilettenwand des Café Salzgries: „Wien darf nicht Österreich werden.“


Die Filmemacherin und Autorin Andrea Maria Dusl ist promovierte Kulturwissenschaftlerin. Sie lebt und arbeitet in Wien. Zuletzt erschien ihr Essayband “So geht Wien! Von Arschkappelmuster bis Zwiebelparlament” (Metroverlag, Wien, 2016; ISBN 978-3-99300-244-2).

 


Die nachfolgenden Empfehlungen sind eine subjektive Auswahl der Autorin und folgen jahrzehntelanger Expertise im Shortening von Longlists.

Café Bräunerhof

Stallburggasse 2, 1010
Mo-Fr 8-19.30, Sa 8-18.30; So, Feiertag 10-18.30
+43 1 512 3893

Thomas Bernhard saß hier, das Glück der Depression auskostend, in kritischer Nähe zu seinem lebensbestimmten Leiden: Österreich. Die Kellner gelten als die grantigsten Wiens, ihr Servierhabitus ist dennoch olympisch. Das Bräunerhof ist die ideale Mischung aus Nachrichtenbörse, Echokammer, Therapiesalon und Denkklause.

Kaffee Alt Wien

Bäckerstraße 9, 1010 Wien
täglich 10-02
+43 1 512 5222

Die Lokalität mit der düsteren Anmutung einer mittelalterlichen Kaschemme hat einen Ruf als Nachtcafé der Wiener Bohéme, den es mit großer Beharrlichkeit auch unter Tag zu verteidigen sucht, wo diese Leute gemeinhin noch schlafen. Obwohl als Kaffeehaus etabliert, trinken Stammgäste Kaffee hier nur als Akut-Weckamin. Bier und Rotwein sind die Getränke der Wahl, gart die slawischen Höhle Alt Wien doch das beste Gulasch der Stadt. Korrigiere: der Welt.

Café Landtmann

Universitätsring 4, 1010 Wien
täglich 7.30–24
+43 1 24 100-100
cafe@landtmann.at
www.landtmann.at

Das Kaffeehaus in unmittelbarer Nähe von Universität, Burgtheater und der Parteizentrale der Sozialdemokraten hat als eines der wenigen Ringstraßen-Cafés die Reise durch die Zeit mit Würde überstanden und gilt in Ausstattung und Bedienung als elegantestes Kaffeehaus Wiens. Im Landtmann werden nach Angabe der Betreiberfamilie im Durchschnitt 2,8 Pressekonferenzen pro Tag abgehalten. In der Verschwiegenheit seiner Polsterlogen werden Kabinette zusammengestellt und Regierungen gestürzt.

Café Hawelka

Dorotheergasse 6, 1010 Wien
Mo-Mi: 8-24, Do-Sa: 8-01, So und Feiertage: 10-24
+43 1 512 8230
office@hawelka.at
www.hawelka.at

Das plakatpatinierte Café in einer kleinen Seitengasse des Grabens wurde 70 Jahre lang von Kaffeehaus-Legende Leopold Hawelka und seiner böhmische Buchtel backenden Frau Leopoldine geführt. Die Fama besagt, Hawelka hätte das Café bei seinem Ableben als Hundertjähriger zum erstenmal verlassen. Das Hawelka, das sich seit 1912 in unverändertem Zustand befindet, verstand sich stets als Wohnzimmer für angehende und etablierte Künstler und ihre Bewunderer.

Café Westend

Mariahilfer Straße 128, 1070 Wien
täglich 7–02
+43 1 523 3183

Trotz (oder wegen) seiner Nähe zum Westbahnhof atmet hier alles den verblichenen Charme klassischer Wiener Kaffehaustradition. Auf den durchgesessenen Polsterbänken, den knarrenden Thonetstühlen und den marmornen Tischen hat die Zeit, nicht aber die Kaffehaus-Renovations-Mafia ihre Spuren hinterlassen. Dankbar wird das von einem egalitär zusammengesetzten Publikum aus Reisenden, Gelegenheitsspionen und Genre-Connaisseuren angenommen.

Donau so blau!

„(…) Im Bewusstsein der kulturaffinen Weltöffentlichkeit liegt Wien an der blauen Donau. Dieser Befund verdankt seine Entstehung dem sogenannten Donauwalzer, im Spätherbst und Winter 1866/67 von Johann Strauss Sohn komponiert. Der eigentliche Titel des berühmten Walzers lautet „An der schönen blauen Donau“, katalogisiert unter der Opusnummer 314. Der ursprüngliche Text stammt vom Vereinsdichter des Wiener Männergesangvereins, Josef Weyl und besang nicht den Donaustrom, sondern dessen Anwohner mit den Dichterworten: „Wiener, seid froh, oho, wieso?“ Als Strauss später im Jahr, während der Weltausstellung in Paris auftrat und dort dringend neue Kompositionen brauchte, erinnerte er sich an das schon eingeschlummerte Werk. Unter dem Namen „Le beau Danube bleu“ wurde das Stück zu einem großen Erfolg. 1889 entstand dann auch ein neuer Text, der mit dem so eingängigen wie einfältigen Reim „Donau so blau, so schön und blau“ den neuen Titel des Walzers berücksichtigte. Wie aber kam es zur tondichterischen Verbindung von Donau und der Farbe Blau? Niemand hat je den Strom zwischen Leopoldsberg und Bisamberg in der besungenen Farbe gesehen. Auch zu Straussens Zeiten nicht. Zwar hatte dieser bei der originalen Benennung des Stücks auf zwei Gedichte des Dichters Karl Isidor Beck zurückgegriffen, die jeweils die Textpassage „An der schönen blauen Donau“ enthalten, nur bezog sich Beck nicht auf die Donau bei Wien, sondern bei Baja (deutsch Frankenstadt), seinen Geburtsort. Die Kleinstadt Baja, im südungarischen Komitat Bács-Kiskun, liegt 156 Kilometer südlich von Budapest an der „blauen“ Donau. Mit der Farbbezeichnung wird eine Abgrenzung zur „blonden“ Theiß vorgenommen. Der Donauwalzer besingt im Lichte dieser Erkenntnis also fluviale Zustände weitab von Wien, im Dreiländereck Ungarn-Kroatien-Serbien. Alles Walzer!(…)“

Aus: Dusl, Andrea Maria: So geht Wien!, Wien, Metroverlag, 2016, pag. 122f.