Wien darf nicht Österreich werden!

Welchen Ursprung hat die Bezeichnung „Patzenlippel“? Wieso sagt man eigentlich, „der hod a Bankl grissen“, wenn jemand stirbt? Seit über 30 Jahren schreibt Andrea Maria Dusl für den Falter eine Kolumne, seit 24 Jahren heißt diese „Fragen Sie Frau Andrea“. Darin klärt Dusl über die Bedeutung und den Ursprung von Wiener Redewendungen auf. Doch Dusl, 64, ist viel mehr als nur eine Kolumnistin: Sie ist Künstlerin, Filmemacherin, Schriftstellerin, Kulturwissenschaftlerin – und ein absolutes Wiener Original. Nun hat Dusl gleich zwei neue Bücher veröffentlicht. In einem hat sie Essays über das Kolumnen-Schreiben zusammengetragen, und das zweite Buch trägt den Titel „Die Wiener Seele in 100 Antworten“. Aber was ist die Wiener Seele überhaupt? Stadtleben-Redakteurin Lale Ohlrogge hat das nach zehn Jahren in Wien immer noch nicht verstanden – und sich deshalb mit Dusl zu einem Interview getroffen.

in FALTER 37/25 STADTLEBEN, 10. September 2025, pagg. 40ff.

INTEGRATIONSKURS: LALE OHLROGGE

Lale Ohlrogge, Falter: Was ist an deiner Seele besonders wienerisch?

Dusl: Ich glaube, es ist eine besondere Art von Grant. Also eine Fröhlichkeit, die sich darin erschöpft, nicht fröhlich sein zu müssen. Eine Form von wahrhaftiger Ehrlichkeit: nicht zu lächeln, weil es nichts zu lächeln gibt.

Also authentisch sein dürfen – meinst du das?

Dusl: Na ja, manche sind authentisch, wenn sie dauernd grinsen. Im Englischen gibt es den Ausdruck resting bitch face, also ein schlecht gelaunter Gesichtsausdruck. Ich habe das – deswegen habe ich auch quasi ein Fernsehverbot vom ORF. Ich werde nur ins Radio eingeladen. Aber zurück zum Wienerischen: Ich glaube, an mir ist auch besonders wienerisch, dass ich nicht ganz wienerisch bin.

Wie meinst du das?

Dusl: Eigentlich bin ich ja Ausländerin. Meine Mutter war Schwedin, mein Vater kam aus Graz, und wir hatten nichtösterreichische Verwandte aus ganz Europa. Wienerisch ist nicht an die Geburt in Wien gebunden. Die ersten zehn Minuten, die du am Westbahnhof ankommst, verwienern dich.

Ist Wienerisch-Sein eine Entscheidungssache?

Dusl: Nein, es ist Schicksal. Es ist eine Sache, die dir zustößt, ohne dass du es beabsichtigst. Ich bin Wienerin. Ich bin Europäerin, aber keine Österreicherin. Früher gab es einmal ein kleines Wiener Kaffeehaus, das Salzgries. Heute heißt es Le Salzgries. Zu Beginn der Haider-Ära stand unten bei den Toiletten ein Spruch, der alles über Stadt und Land sagt: Wien darf nicht Österreich werden.

Was ist denn an Österreich so schlecht?

Dusl: Österreich ist zu klein. Zu Zeiten der Donaumonarchie war es groß und wirkmächtig …

Andrea Maria Dusl, 64, hat eine schwedische Mutter und einen österreichischen Vater. Heute sagt die Kulturwissenschaftlerin und Expertin des Wienerischen, dass sie den Dialekt in ihrer Kindheit wie eine Fremdsprache lernen musste. Mittlerweile
kennt sie fast jede lokale Redewendung, und wenn sie einmal ratlos ist, schlägt sie in ihrer großen Lexika-Bibliothek nach

… Es war ein Melting-Pot, wie eine kleine EU – politisch nicht okay, es war größtenteils eine Militärdiktatur, aber es war ein großes Land mit vielen Einflüssen. Und die sind alle hier in der Metropole Wien zusammengekommen. Aber das umliegende Österreich, die Kronländer damals, konnten das nicht leisten. Sie waren immer Provinz – das ist auch gut, aber eben nicht Metropole. Wien und das Wienerische sind ja immer noch geprägt von all diesen internationalen Einflüssen von einst.

Aber in deinem Buch gibt es auch Beispiele, die zeigen, wie das Wienerische immer wieder auch den politischen Zeiten unterlag. Ich habe mich schon häufiger gewundert, warum sich manche Leute mit dem Wort „Mahlzeit“ begrüßen. Ich fand das immer befremdlich – bis ich in deinem Buch gelernt habe, was für einen heldenhaften Ursprung das hat.

Dusl: Diese Begrüßung wird vor allem in Ämtern und großen Büros gepflegt. Das kommt aus der Zeit, als sich die Österreicher dem Nationalsozialismus angeschlossen haben. Sozialdemokraten begrüßten sich damals mit einem „Freundschaft“ oder „Guten Tag“. Die Katholiken sagten „Grüß Gott“. Doch die Nazis wollten, dass man sich mit „Heil Hitler“ begrüßt. Die Behörden waren damals noch stark monarchistisch geprägt, man wollte sich dem nicht beugen und benutzte stattdessen eine Formel, die im Sinne der Nazis nicht strafbar war. „Mahlzeit“ war damals eine Umgehung – und die ist bis heute geblieben.

In deiner Kolumne „Fragen Sie Frau Andrea“ beantwortest du seit unglaublichen 30 Jahren Fragen von Lesern, die wissen wollen, woher gewisse Redensarten kommen. Wie arbeitest du eigentlich?

Dusl: Ich weiß natürlich nicht alles. Aber ich habe eine enorme Bibliothek mit Lexika, und da schaue ich nach – und im Internet natürlich auch. Die meisten schauen sich bei Google nur die ersten zehn Ergebnisse an. Ich schaue mir die ersten 300 Treffer an. Einiges davon ist völlig falsch, und dann geht es darum, herauszufinden, was stimmt. Es ist wie wissenschaftliches Arbeiten, und das habe ich als Kulturwissenschaftlerin gelernt. Außerdem kenne ich viele dieser Begriffe seit meiner Kindheit. Gleichzeitig ist Deutsch nicht meine Muttersprache. Die Sprache meiner Mutter ist Schwedisch. Ich habe also ganz früh angefangen, Deutsch und Wienerisch als zwei verschiedene Fremdsprachen zu lernen. In der Volksschule wurde ich gemobbt, weil ich so seltsam gesprochen habe. Ich musste also lernen – es war eine Immunisierung gegen Mobbing.

Ich höre oft, wie sich Wiener – vor allem Eltern – beschweren, dass ihre Kinder kein Wienerisch mehr sprechen. Dass die Wiener Mundart verlorengeht und die junge Generation nur noch Hochdeutsch spricht, weil sie auf Tiktok, Youtube und Instagram deutschen Influencern folgt. Wenn ich mit jüngeren Wienern zu tun habe, höre auch ich selten einen der Ausdrücke, die in deinem Buch oder deiner Kolumne besprochen werden. Wird das Wienerische bald sterben?

Dusl: Ich glaube nicht – aber die Wahrnehmung ist richtig. Wien konnte lange kein ARD und ZDF empfangen. Wien war also sowieso später dran mit der Verhochdeutschung der Sprache als Westösterreich. Seitdem ist viel passiert. Die gemeinsame Sprache, die uns Österreicher von den Deutschen trennt, ist durch Podcasts, Tik-tok und so weiter eingedrungen. Aber ich glaube nicht, dass das Wienerische aussterben wird – genauso wenig wie die Begriffe. Denn die Menschen hören sie von ihren Eltern und Großeltern und geben sie an ihre Kinder weiter. Ich bekomme ja nach wie vor Leserfragen, die ich in meiner Kolumne beantworte. Aber im Wienerischen gibt es Veränderungen.

Welche denn?

Dusl: Zum Beispiel „Oida“. Das hat früher kaum jemand so verwendet – das ist ein Wort, das die jungen Wiener eingeführt haben. Die Jungen schaffen ein neues Wienerisch. Es gibt zum Beispiel auch das Migranten-Wienerisch. Das wird überhaupt nie verschwinden.

Ich habe auch den Eindruck, dass diejenigen, die das Wienerische am meisten bewahren und somit quasi österreichische Tradition pflegen, Migranten sind.

Dusl: Das ist ein Soziolekt, also eine Sprache, die eine bestimmte soziale Gruppe gebraucht. Es gibt viele verschiedene Wienerische, Abstufungen, die du als Deutsche vielleicht gar nicht unterscheiden kannst. Da gibt es Leute, die sich anhören, als ob sie in einem Palais aufgewachsen wären, die ganz nasal sprechen, und so weiter.

Kürzlich erschien eine Studie, in der Österreicher zu ihrer Sprache befragt wurden. Sie fanden ihre Sprache sympathischer, gebildeter und schöner als deutsches Deutsch. Ich musste über diesen Stolz und diese Heimatliebe schmunzeln. Nun möchte ich es umkehren: Was gefällt dir als Wienerin an der Stadt und ihren Bewohnern gar nicht?

Dusl: Es gibt nichts, was mich stört.

Ehrlich? Auch schön, wenn du als Wienerin nichts zu granteln hast.

Dusl: Doch, mir fällt etwas ein. Es gibt Menschen aus anderen österreichischen Gegenden, die ihre Nicht-Wienerischkeit mitbringen. Denen würde ich gerne zurufen: „Heast, beruhig di a bissl!“

Was meinst du damit? Sind die Leute vom Land besonders laut, aufbrausend und pöbeln herum?

Dusl: Es geht nicht ums Aufbrausende. Das Wienerische antwortet mit Schmäh. Die Wiener antworten auf diese Leute mit einer eigenen Weisheit, die viele nicht verstehen. Kellner haben das drauf. In guten Wiener Kaffeehäusern gibt es gute, grantige Kellner – die haben diese Attitüde. Die Ehrlichkeit ist ein Goldstandard, eine Währung. Sei ehrlich – aber sag nicht, dass es ehrlich ist.

Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.

Dusl: Ein Beispiel, ganz radikal: Wenn Amerikaner zu uns kommen, sind die immer verzweifelt, dass man sie nicht fragt: „How are you?“ Oder Deutsche, die fragen dann: „Wie geht es Ihnen heute?“ Und der Wiener antwortet: „Na ja, wie soll’s mir schon gehen?“ Mich stört nichts an den Wienern, aber die Touristen sind mir ein bisschen zu anstrengend.

Es gibt Umfragen unter Expats, also Leuten aus dem Ausland, die hier leben und arbeiten, die besagen, dass Wien seit Jahren zu den unfreundlichsten Städten gehört. Auch weil es hier schwer ist, Anschluss zu finden. Sind die Wiener Ausländern gegenüber besonders gemein und verschlossen?

Dusl: Genau umgekehrt. Die Expats könnten hier viel lernen in Sachen Wahrhaftigkeit. Es gibt viele, die sich interessieren und diese Verwienerung annehmen. Aber viele bringen aus ihren Kulturen mit, dass sie sich eine freundliche Maske aufsetzen. Und in Wien nehmen sie wahr, dass die Leute ehrlich zu ihnen sind. Ein Beispiel: Jemand hat die Nachricht bekommen, dass die Krankenkasse seine Zahnbehandlung nicht zahlen wird. Soll er dann sagen: „Ja, mir geht es wunderbar, und Ihnen?“ Das machen Wiener eben nicht. Und das erzeugt dann das Bild eines mieselsüchtigen, unfreundlichen, tragischen Wieners. Und unseren Humor verstehen sie auch nicht. Und überhaupt Expats – wie können sie sich überhaupt anmaßen, hier nur drei Jahre zu bleiben? Das ist doch eine Beleidigung für die schönste Stadt der Welt. Außerdem sprechen viele von ihnen zu laut.

Lass uns einen Zeitsprung machen ins Wien des späten 19. Jahrhunderts. Diese Zeit war sehr prägend für die Stadt. Damals hatte Wien zwei Millionen Einwohner, es war viel los. Aus dieser Zeit gibt es berühmte Illustrationen von den sogenannten Wiener Typen, also Menschen, die damals das Stadtbild geprägt haben sollen: das Lavendelweib oder der Würstler zum Beispiel. Du hast ja dein Buch selbst illustriert – und da gibt es auch Wiener Typen. Was sind denn typische Wiener Gestalten von heute?

Dusl: Eine sehr wienerische Figur ist nach wie vor der Würstelmann. Oder der Strizzi. Dann gibt es eine Figur, die man nur sieht, wenn man nachts auf dem Gürtel unterwegs ist – die sogenannte Praterfee. Eine Prostituierte, eine Sexarbeiterin.

Eine Praterfee vom Gürtel?

Dusl: Nein, die Praterfee vom Gürtel heißt natürlich Gürtelhur. Aber das ist alles schon sehr unwoke Sprache, die aber existiert oder existiert hat. Und die Praterfee gehört zum Strizzi dazu, der betreut sie.

Dann gibt es noch den Gschaftlhuber. Dem habe ich das Gesicht von Elon Musk gegeben. Auf Deutsch heißt das „Hansdampf in allen Gassen“. Es gibt auch einige Politiker, die ausschließlich gschaftlhuberisch nach oben getrieben sind. Aber da das alles substanzlos ist, fliegen ihre Gebarungen irgendwann auf – und sind erfolglos. Aber der Gschaftlhuber findet immer wieder eine neue Betätigung.

In Deutschland würde man auch „Windbeutel“ sagen. Ein Typ in deinem Buch ist mir gefühlt schon tausendfach in dieser Stadt begegnet: der Hubertusmantler mit der Attersee-Familienfrisur.

Dusl: Das kommt von Lukas Resetarits, der hat den erfunden. Das sind Leute, die am Graben verkehren, die durch die Nase sprechen und sich in schicken Lokalen aufhalten. Sie haben altes Geld, Besitz und Attitüde. Sie sind in Wien zugegen, haben aber auch Villen am Attersee, im Salzkammergut, in Altaussee. Es sind alte Familien, wo sich Großbürgertum, Schickimicki und Aristokratie vermischen. Und eines der Kleidungsstücke, die sie tragen, ist der Hubertusmantel: Er besteht aus einem grünen, filzernen Stoff, die Knöpfe sind mit einem geflochtenen Leder überzogen. Das kommt von der Jagd, aber normale Jäger auf dem Land aus Oberösterreich oder Tirol, die tragen das nicht. Es ist ein Angebermantel, der nur in Wien und Salzburg getragen wird. Aber der Hubertusmantler ist nur eine von vielen Wiener Figuren. Diese Vielfalt, auch das ist Wien.

 

G’schichtn aus Ramasurien

Am 25. Mai 2024 war ich bei der Autorin und Malerin Rosemarie Philomena Sebek und ihrer Enkelin, der Musikerin und Songwriterin Anna Timmler in Wien Favoriten zu Gast. Wir plauderten für die Folge 38 ihres Podcasts „G’schichtn aus Ramasurien – Über Mundart und Sprachmelodie“. Der Podcast ging am 12. Juli 2024 online und ist hier nachzuhören:
https://podcasts.apple.com/at/podcast/folge-38-%C3%BCber-mundart-und-sprachmelodie/id1620217934?i=1000661951377

Andrea Maria Dusl [AMD]: Früher hat man bei Popkonzerten, hat man gesagt, auf Wienerisch „Aans, zwaa, drää, Mikrocheck“. Die haben gesagt, in den 70er Jahren bei den Rock-Konzerten, wo ich auch war, „hallo hallo hallo, tak tak tak tak“.

Rosemarie Philomena Sebek [Philomena]: Ja, „tak tak tak tak“.

Anna Timmler [Anna]: Na gut, dann sag ich einmal: Hallo Oma und hallo Andrea, wir haben nämlich heute einen Gast bei uns.

Philomena: Einen ganz besonderen Gast, die Andrea Maria Dusl.

Anna: Vielleicht magst du dich einmal kurz vorstellen, wer du bist, was du so machst und ja.

AMD: Ja, also erstmal vielen Dank, dass ich überhaupt hier sein darf und ihr mich eingeladen habt in den schönen, ist es der Wienerberg oder es ist, jedenfalls im Zehnten?

Philomena: Das ist Favoriten.

AMD: Es ist im schönen Favoriten, im zehnten Hieb und wir sind hier auf einem Berg oben und es ist herrlich und man sieht über die Stadt, wenn man aber hinaussieht, dann wendet man sich vom Mikrofon ab und muss wieder an den Tisch schauen, um das hörbar zu machen. Ja, wer bin ich, das weiß ich manchmal selber nicht, aber was ich mache, ich mache sehr viel. Man könnte es zusammenfassen, ich versuche die Welt zu verstehen und bei diesem Verstehensversuch andere mitzunehmen, darüber zu schreiben, das zu zeichnen, oder sonst wie vielleicht auch musikalisch, wobei das Wort musikalisch klingt so ein bisschen abgenudelt. Also Musik ist mir wichtig, und das Erzählen in welcher Form auch immer. So könnte man das beschreiben. Und was auch immer dann beruflich daraus sich ergibt, findet statt.

Philomena: Das ist sehr schön, was du jetzt gesagt hast, auch übers Erzählen. Da fällt mir ein der Ausdruck Mundart – ein anderer Ausdruck für Dialekt ist das. Aber Mundart löst bei mir aus, mit dem Mund, mit dem Sprechen, Kunst zu erzeugen, und Sprechen kann Kunst sein. Und daher auch die Sprachmelodie, die Sprachmusik, weil letztendlich ist alles Musik, weil alles Schwingung ist. Da hast du mich jetzt herausgefordert, das hinzuzugehen.

AMD: Wobei ich dich gerne wieder hereinfordere. Und ich muss zur Mundart gleich was bekennen. Ich bin Migrantin. Ich komme aus einer Migrantenfamilie. Ich bin zwar eine Wienerin, aber keine, und auch hier geboren. Aber meine Eltern sind von woanders. Ich bin sogar zweisprachig – eigentlich bin ich einsprachig aufgewachsen, aber musste Deutsch als Fremdsprache lernen. Und Wienerisch ist für mich auch eine Fremdsprache.

Anna: Für mich auch.

AMD: Das macht aber gar nichts. Man kann Fremdsprachen so erlernen als besser als die, die es in die Wiege gelegt bekommen. Weil die Leute dann aus der Mundart sagen, „na wer bist denn du? Ti ti ti ti.“ Und da hab ich gelernt beim Lukas und bei den Resetarits-Brüdern, wieso kennts ihr so gut Wienerisch, hab ich sie gefragt. Weil wir das lernen haben müssen, sonst hätten wir gleich Fotzen abgehaselt. Und das war wichtig, dass man richtig reden kann. Haben sie das gelernt als Fremdsprache? Und da bin ich draufgekommen, dass es mir auch so ergangen ist. Zwar jetzt nicht so, die sind auch in Favoriten aufgewachsen. Nicht nur in Stinatz und in Floridsdorf, sondern auch in Favoriten. Und richtig sprechen zu können, ist immer schon eine Art Überlebensstrategie gewesen. Im richtigen Augenblick das Richtige zu sagen.

Philomena: In der richtigen Sprache, die verstanden wird.

Anna: Ja, oder in der richtigen Art, wenn man die Sprache nicht ganz zusammenbringt. Das heißt, alles, was wir miteinander machen, ist Sprache. Wir können gar nichts anderes. Auch Bildsprache, Literatur, was weiß ich.

Philomena: Kommunikation, ja.

AMD: Es gibt nichts anderes. Und wenn man allein ist zu Hause, dann redet man mit sich selbst. Ich spreche auch zu Hause mit mir selbst.

Anna: Ich spreche auch zu Hause, aber nicht mit mir selbst, sondern mit meinem Kater.

AMD: Aha, gut, das geht auch. Aber man kann sich auch selber Witze erzählen.

Philomena: Ja, ich lache sehr viel, wenn ich allein bin. Ich lache pausenlos über mich, weil ich so viel Blödsinn mache. Und das ist lustig, ich ärgere mich nicht darüber.

AMD: Wir haben ja vorhin in dem, wie sagt man, Lockermachen-Gespräch, wir waren schon locker vorher, aber wir haben so ein bisschen gesprochen beim Frühstück – eigentlich war es ein Brunch, aber in Wien bruncht niemand, außer die Gstopften, da fällt mir das schwarze Kameel ein, da bruncht man wahrscheinlich um 11 und trinkt ein Prosecco und ein Jour-Gebäck und redet vernünftige Sachen. Aber gut, wir haben uns locker gemacht und da haben wir gesprochen über Blödheiten und so und dann sind wir zu dem Schluss gekommen, dass natürlich alle blöd sind. Die Erfahrung der Blödheit ist universell, so könnte man es sagen. Niemand ist ausgeschlossen. Und man kann sich dem stellen, man kann von dem mitgenommen werden und man kann einfach die eigene Blödheit als eine Konstante annehmen. Das macht einen vielleicht sogar gütig. Es gelingt aber nicht immer, weil andere können das besser, das Blödsein.

Philomena: Na ja, aber wenn man sich selbst dazu bekennt, im Zuge des Prozesses der Selbsterkenntnis, kommt man irgendwann einmal zu diesem Punkt. Wünschenswert ist es zumindest. Eine meiner Töchter sagt dann immer zu mir, du kannst jetzt sagen, was du willst. Du kannst auch deine Meinung ändern, wie du willst. Denn du hast den Weishaar-Bonus. Ab einem gewissen Alter ist das alles offiziell möglich.

AMD: Ja, und dann haben wir auch darüber gesprochen, dass man natürlich immer ein Kind bleibt. Und das ist sogar, ja wie soll ich das sagen? Es ist in Vergessenheit geraten, weil es so ein unglaublicher Fetisch ist, erwachsen zu sein. Also ein richtiger Fetisch, an dem sich alle ergötzen und in dem sich alle verlieren. Die Kinder sind von Anfang an sehr klug und sehr neugierig und möchten alles verstehen und sind kritisch. Also die Verdammung des Kindseins, ja, das ist leider schon in der Gesellschaft angekommen, aber um Kunst zu machen, muss man wieder in dieses ursprüngliche Format zurückkehren.

Philomena: In das Staunen.

Anna: Da fällt mir ein, als ich ein Kind war, ist bei mir jetzt vielleicht noch nicht ganz so lange her, da wollte ich immer erwachsen sein, erwachsen sein, dann ist das Leben leichter. Jetzt bin ich erwachsen, jetzt denke ich mir, Kind sein, das wäre schon schön, vor allem jetzt, wo ich meinen Neffen sehr oft sehe. Und da habe ich letztens ein Foto gemacht, und der steht da und das war so lebensbejahend und wunderschön, dieses Kind, das hat mich so motiviert, dass ich gesagt habe, das war für mich damals, wenn ich jetzt so dran denke, die glücklichste Zeit, Unbeschwertheit, einfach lernen, Leben genießen, alles ist schön.

Philomena: Das Leben ist schön, ja.

Anna: Und das hat mich total positiv wieder in das zurückgeworfen ist. Auch jetzt kann das Leben schön sein. Nicht nur damals als Kind, sondern eben jetzt auch als Erwachsener. Vor allem mit meinem Neffen, der zeigt mir das immer wieder.

AMD: Ich muss dich dann auch ermahnen, dass du dich erinnerst dran, wie gut es immer ist. Nicht, wie gut es einmal war, die gute alte Zeit.

Anna: Das hört man immer früher, aber es ist besser.

AMD: Ja, und man vergisst die furchtbaren Sachen, die man erlebt hat. Sogar die furchtbaren Sachen, die einen wirklich bedroht haben, werden romantisiert, in eine anekdotenhafte Schönheit gestellt. Und, ja, ich muss gestehen, es gibt Furchtbarkeiten, die niemand romantisiert. Wenn es um Leben und Tod geht und um Vernichtung, das ist nicht mehr romantisch. Aber diese Pimperlprobleme, die wir, wenn wir es gut gehabt haben, als schlecht in Erinnerung kamen, die werden dann, „mein Gott, wir haben noch Ravioli auf einem verkehrten Bügeleisen heiß gemacht. So haben wir gekocht.“ Ja, als man das gemacht hat, war es nicht so lustig. Mim verkehrten Bügeleisen.

Anna: Ich finde, das klingt schon sehr lustig.

AMD: Es klingt lustig. Ravioli ist die Speise der sehr, sehr armen Künstlerinnen gewesen. Eine Dose Ravioli am Tag oder in der Woche. Man hat nicht verhungert. Man ist nicht verhungert. Ich kann die deutsche Sprache nicht wirklich gut. Ist man verhungert oder hat man verhungert? Man hat sich vielleicht verhungert.

Philomena: Man hat sich verhungert und man ist verhungert. Ja, man ist, aber das darf man dann… Man ist verhungert. Dieses ist darf man nicht mit scharfem S schreiben.

AMD: Man darf überhaupt das scharfe S nur sehr vorsichtig benutzen. Dort, wo man darf und es verändert sich immer. Ich habe eine Zeit lang nur Doppel-S verwendet, damit ich ja keinen Fehler mache. Und sofort sind die Sprachpolizisten gekommen und haben mich verhaften wollen. Du weißt aber schon, dass dort ein scharfes S hingehört. Und dann war ich beschämt und habe gesagt, ja, ich weiß natürlich, aber ich habe es absichtlich falsch gemacht.

Philomena: Diese seltsamen Rechtschreibänderungen, die um die Jahrtausendwende waren, die glaube ich nicht, das hat mir dann auch große Schwierigkeiten gemacht. Weil ich war vorher ja Lektorin. Ich musste korrigieren und Beistrichregeln und scharfe S und Doppel S und das alles genau wissen und Groß- und Kleinschreibung. Und auf einmal hat sich so viel geändert. Und diese Prägung von vorher loszuwerden, ja, ich muss es ja nicht mehr.

Anna: Da muss ich aber was dazu sagen, weil ich mache ja Musik und wenn ich etwas veröffentliche, brauche ich Presse-Texte. Und wenn ich diese Presse-Texte fertig habe, schicke ich sie immer sofort an die Oma. Und sie sagt, bitte liebe Oma, kannst du kontrollieren? Und dann tut sie mir immer die Beistriche ausbessern. Und ich glaube, die werden sicher immer gleich bleiben, die Beistriche, wie sie schon damals waren. Aber da bin ich so froh, dass ich die Oma habe, weil sonst, glaube ich, wäre das ein bisschen peinlich, meine Texte.

Philomena: Ach so, tragisch ist es auch nicht. Nein, passt schon.

AMD: Das ist wirklich ein Problem in der modernen Publizistik. Früher hat man ja einen Presse-Text zwar geschrieben, aber da konnte man nicht ins Internet stellen, da hat es kein Internet gegeben. Nichts. Das hat dann jemand bekommen und das wurde lektoriert, immer. Das ist ein großer Luxus, und der verliert sich langsam. Aber ich glaube, es macht nichts. Dann schreibt man halt irgendwas. Früher hat man sich auch, Goethe hat geschrieben, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Texte, die in Originalausgaben [vorliegen], da sind nicht die richtigen Beistrichsetzungen erfolgt. Das würde man heute sagen, Herr Goethe. Dann hätte er gesagt, Geheimrat bitte, so viel Zeit muss sein. Also Herr Goethe, da müssen wir noch drüberfahren, mit dem Korrekturstift. Na gut, bittesehr.

Anna: Wenn wir gerade drüber sprechen, du hast nämlich ein Buch mitgebracht. Vielleicht wollen wir das kurz ansprechen. Wien für Alphabeten. Wunderwelt von A bis Z. Magst du da vielleicht ein bisschen was drüber erzählen?

Philomena: Entschuldige, lustig. Alpha und Beten.

AMD: Ja, das ist nicht zufällig.

Philomena: Die das Alpha beten. Bitte erzähl uns etwas darüber.

AMD: Ich fange mal mit dem Schlimmsten an. Das Buch wurde gedruckt und geschrieben. Zuerst wurde es geschrieben und ausgedacht. Von mir gezeichnet und lektoriert und gedruckt. Und dann ist es nicht erschienen. Weil der Verlag eingegangen ist. Wir sprechen über etwas, was sich niemand kaufen kann. Das macht aber nichts. Ich verteile es trotzdem. Es ist im Metro-Verlag „nicht“ erschienen. Die haben es aber gemacht. Die Details kenne ich selber nicht. Aber das Buch handelt eigentlich von mir. Alle Bücher handeln von mir. Wie überhaupt alle Bücher von den Autorinnen immer handeln. Egal was.

Philomena: Entschuldige, wenn ich dich unterbreche. Alles, was jemand schreibt, ein Autor, es ist alles autobiografisch. Auch wenn es am Fantastischsten daherkommt. Es ist autobiografisch.

AMD: Man entleuchtet sich.

Anna: Das kann ich bei der Musik auch sagen.

AMD: Man kann auch nichts erfinden. Man kann es nur anders erzählen. Und alles, was man erzählen kann, ist, was man erlebt hat, was man nicht erlebt hat. Egal, und wenn man von einer Mars-Kolonie erzählt, im 37.000. Jahrtausend, es ist immer eine Erzählung vom eigenen Ich und was das Ich sich gerade gedacht hat beim Schreiben. Dann schreibt man das um. Dann kommt es dazu, was man in diesem Moment sich denkt.

Schreiben ist immer eine Ich-Offenbarung. Ich wollte ein Lexikon. Das prägende Buch meiner Kindheit hat geheißen Die Kinderwelt von A bis Z. Das war ein Lexikon für Kinder mit Zeichnungen. Da haben sie so betulich erklärt, wie die Welt funktioniert, sodass Kinder das verstehen. Die Kinder, so wie ich, haben natürlich die Lexika der Eltern auch gelesen und haben sich gedacht, na gut, sie versuchen es uns so zu erzählen, weil sie halt lieb sind und glauben, wir sind Trotteln. Und dann schreiben sie das für Kinder, das Kinderbuch. Wir sind ja ununterbrochen von Erwachsenen umgeben und nicht von Kindern. Man kann uns auch alles zutrauen. Wir wissen auch, was die Eltern machen im Ehezimmer. Wir turnen herum aufeinander. Aber gut. Und da dachte ich mir, so was könnte man über Wien schreiben. Man könnte über Wien, ich will jetzt nicht sagen ein Kinderbuch, aber ein Buch der Genauigkeit, ein Lexikon über Wien und wienerische Befindlichkeiten in einer für mich notwendigen Genauigkeit.

Philomena: Das wären viele Bände, das wäre sehr umfangreich.

AMD: Die Phantasie hätte das eh angestrebt, einen großen Umfang, aber der Herr Verlagspräsident hat gesagt, ja, nein, wir haben da, da gibt’s immer so magische Zahlen, wie viel ein Buch, wie dick ein Buch sein darf, bevor es überhaupt gemacht wird, wissen Sie immer, wie dick das Buch ist und welchen Umfang. Und kannst du uns schon eine Inhaltsangabe oder für den Pressetext schon was schreiben? Dann schreibt man was und das ist natürlich erfunden. Dann ist es eine ganz seltsame Welt geworden oder vielleicht war die immer schon so.

Philomena: Nein, sie war nicht immer so. Ich habe in den 60er Jahren in einem Verlag oder in den 70er Jahren in einem Verlag gearbeitet.

AMD: Und das war anders?

Philomena: Ganz ganz anders.

AMD: Dann ist das, wie man auf Wienerisch sagt, eingerissen. Und das ist so weit fortgerissen, dass es inzwischen gar nicht mehr erscheinen muss. Das Buch, wichtig ist, dass es geschrieben wurde. Aber die anderen Bücher sind erschienen. Und ich wollte einfach eine… Ich wollte Wien für die, die es… Der Qualtinger hat das so gesagt. „Helmut Qualtinger, wer ihn kennt“, sagte der Resetarits, wenn er einen Namen hervorgerufen hat, der Willi hat immer gesagt, „Helmut Qualtinger, wer ihn kennt.“ Also Helmut Qualtinger hat gesagt „Österreich ist das Labyrinth, in dem sich alle auskennen.“

Philomena: Sehr gut, das ist ein toller Ausdruck.

AMD: Es kann auch sein, dass es nicht von ihm ist, es ist aber völlig egal. Es wird ihm zugeschrieben. Und in Wien kennen sich natürlich die Leute noch besser aus in diesem Labyrinth. Also kann man etwas schreiben für die Leute, die Labyrinth-Wissenschaftler sind, nämlich alle Wienerinnen und Wiener sind Wissenschaftlerinnen des Wienerischen. Und zwar ununterbrochen. Ja. Es gibt kein Entkommen. Und denen kann man das erzählen, was sie eh schon wissen. Das ist die Aufgabe dieses Buches gewesen. Und das hat große Freude gemacht. Weniger Freude hat es gemacht, als es nicht erschienen ist. Also es klingt jetzt so, als ob mich das bedrückt. Und ich das nur mit einem Lächeln überspiel. Ja, man kann auch tragische Sachen lustig finden. Oder es ist ja nicht so tragisch. Was ist denn das im Vergleich zum Weltfrieden, dass irgendetwas momentan nicht in der Buchhandlung steht? Das ist doch ein Luxusproblem, oder?

Philomena: Wichtig ist eigentlich, dass man es geschrieben, oder dass du es geschrieben hast. Es ist, ich sag dann immer, also die ersten Materialisierungsprozesse, es kommt die Idee, dann kann sich in einem Gedanken materialisieren, dann in der Sprache, dann in der Schrift. Und der nächste Materialisierungsprozess ist das Buch. Und dann bedarf es der Menschen, die das lesen und etwas anfangen können damit. Aber das mit dem Verlagswesen, das ist schon sehr bergab gegangen. Und es geht nur mehr ums Geld und um die Schickeria, weil die bringt Geld.

AMD: Gibt’s eine Schickeria noch?

Philomena: Ich glaube, ich weiß es nicht. Na ja…

AMD: Sind die nicht schon alle … ?

Philomena: Da gibts ja die Wichtelhuber. Die Wichtelhuber!

AMD: Die Geschaftlhuber.

Philomena: Die Geschaftlhuber ist auch gut. Wichtelhuber is auch gut!

AMD: Ja, und so funktioniert die Sprache. Plötzlich ist ein Wort da. Und dann ist es da und ist richtig.
Und hat Bedeutung. Wichtelhuber! Der Geschaftlhuber ist eine ganz wichtige Figur. Also er selbst hält sich ja noch wichtiger als man glaubt. Und er muss es unterbrochen unter Beweis stellen, die Geschaftlhuberei. Und natürlich sind alle die Kunst betreiben, und es herzeigen auch Geschaftlhuberinnen. Und wie?

Philomena: Und wie!

AMD: Und das ist leider, wenn man drüber nachdenkt, denkt man sich, oje, oje, oje. Ich würde viel lieber im Elfenbeinturm sitzen und dann kommt eine Fee vorbei und entnimmt mir das Kunstwerk. Und ohne, dass ich drüber nachdenke, wird es jemandem überreicht. Und ich werde gelobt und spüre es durch einen kleinen, feinen Wind, der es mir zuträgt oder so. Und ich bin nicht gestört durch Lob und Anerkennung, weil ich es gar nicht brauche. Aber nein, man muss herumtun und sich wichtig machen. Und wird von den anderen der Wichtigmacherei bezichtigt. Und dann sagen sie, „na ja, mir gefällt das nicht, das haben andere schon besser gemacht“. Oder wie es in der abstrakten Kunst so oft war: „das kann ja jedes Kind“. Und dann musste man sagen, obwohl es natürlich nicht stimmt, „ja, natürlich, darum geht es ja“. „Das könnte ich auch“, war auch so ein Satz früher, „das könnte ich auch“. „Ja, dann machen sie es doch!“

Anna: „Das kann ich aber besser.“

AMD: Auch das ist erlaubt. „Machen sie es doch besser! Und ich werde sie nicht dran hindern.“ „Ja, aber das war jetzt nicht die Frage.“ Jetzt haben sich die Diskursformen schon wieder verändert. Also, alle sind Autorinnen. Alle sind Autoren. Sie können ununterbrochen von überall einen Tweet, jetzt ein Xerl oder wie das heißt, ein Posting absetzen und für 15 Sekunden die Meldung Nummer 1 sein.

Philomena: Ja, so ist es.

AMD: Und das auch genießen. Und was sie nicht bedenken, und das fällt mir auf, ist, sich des eigenen Namens zu erfreuen. Die meisten Menschen wollen nur publizieren, aber nicht, dass man weiß, wer sie sind. Sie haben immer alle so… Die meisten Poster, so heißen diese Leute, jeder von uns weiß, was Poster sind, was da erzähle ich da, also die haben dann so, heißen dann „Willibald015“ oder so, oder „das große Weltungeheuer“ oder irgendwelche blöden Namen, weil sie Angst haben, da könnte jetzt was passieren. Es könnte jemand zu Hause anrufen und sagen, „sie Falott sie!“

Anna: Ja, aber da frage ich mich schon, wenn ich schon Angst habe, dass da was passieren könnte, dann kann ja irgendwas nicht stimmen mit dem, was ich da grad preisgeben möchte.
Oder?

AMD: Meistens bei Beschimpfungen ist ja das so. Das ist eine… Und das sogenannte… Wie heißt das? Es ist ja nicht anonym, in dem Sinne, weil die Poster ja nicht wissen, dass sie gar nicht anonym sind, weil sie ihre IP-Adresse immer mitschicken. Sie können dann auch geklagt werden. Es ist ein Fetisch, dieser… Gut, die Künstlerinnen aller Zeiten haben sich immer auch eigenen Namen gegeben, aber das hat einen anderen Grund. Du weißt das ja aus deiner Künstlerbiographie, Lebensgeschichte. Man wollte sich selbst einen Namen geben, weil man autonom war. Es war nicht eine Verstellung, sondern es war eine Präzisierung. Man hat sich einen Namen gegeben, um man selbst zu sein.

Philomena: Ja!

AMD: Kannst du das bestätigen?

Philomena: Ja, das kann ich. Ich war zum Beispiel mit dem Namen „Rosemarie“ überhaupt nicht einverstanden, lange Zeit. Ich wäre glücklich gewesen, Lieselotte zu heißen. Ich hab daher meine Puppe „Lieselotte“ genannt. Es hat also lange gedauert, bis ich mich mit „Rosemarie“ angefreundet gehabt habe. Und jetzt steht in meiner Geburtsurkunde „Rosemarie Philomena“. „Philomena“ ist von meiner Großmutter der Name, die aus Südtirol kam. Das hat mich sehr angesprochen. Jetzt nenne ich mich eben „Rosemarie Philomena“. Und dann halt irgendeinen Nachnamen, der Nachname bei Frauen meiner Generation. Also der hat ja immer sich geändert. Und ich habe einmal auch gesagt, es ist egal, ich könnte Rosemarie Philomena Blau oder Rosarot oder wie immer heißen, denn der Nachname hat für mich wenig Bedeutung. Also ich hieß Dubkowicz, Schwarz, Mayrhofer, Sebek. Es ist total egal. Ja, so ist das mit den Namen bei mir zumindest gewesen.

AMD: Aber dein…, oder Annas Großvater, sagen wir das so, damit wir dich da…, hat sich ja Barabbas genannt. Er hat mehrere Namen eigentlich genannt.

Philomena: Also er hat sich „Barabbas“, er hat Claus Mayrhofer geheißen, „Claus“ mit C geschrieben. Und als er mit dem Padhi Frieberger zusammen war und beschlossen hat, dass er nicht Künstler wird, sondern bereits Künstler ist, hat er nachgedacht über einen Künstlernamen. Und da ist er auf die Geschichte gestoßen, wo Jesus bei Pontius und Pilatus ist, weil ich meine, auch der Padhi Frieberger, der war ja biblisch beschlagen bis zum Gehtnichtmehr. Und da kam die Geschichte von Pontius zu Pilatus, wo Jesus kam und dann ist es darum gegangen, wer wird zum Tode verurteilt. Und der Pilatus sagt, na ja, ich frage das Volk soll entscheiden. Wen wollt ihr haben? Und das Volk rief, wir wollen den Barabbas. Und da hat der „Barabbas“ gesagt, der Jugendliche, 15jährige, ich bin ein Rebell und mich will das Volk und meine Malerei und meine Kunst wird heiß begehrt sein. Und daher hat er sich „Barabbas“ genannt. Und dann ist er zum Islam konvertiert und hat den [Namen] „Harun Ghulam“ angenommen, „Harun Ghulam Barabbas“. Und dann ist er wieder auch von dem Islam abgekommen. Und wie er nach Australien ist, musste er, also ging das mit dem „Harun Ghulam“ nicht mehr, musste er ja seinen nachweislichen Namen nennen. Und da hat er sich „Claus Mayrhofer“ und den „Barabbas“ als Künstlernamen noch angehängt. Also es war so eine komplizierte Namensgeschichte eigentlich.

Anna: Ich möchte jetzt noch auf eine Sache ganz kurz, die möchte ich gerne fragen, weil mir die aufgefallen ist, wie ich deine Wikipedia-Seite gelesen habe. Und das hat mich gewundert, weil da steht, du bist Freimaurerin.

AMD: Ja.

Anna: Kannst du, darfst du da vielleicht ein bisschen was erzählen? Oder ist das mehr…

AMD: Ja, ich kann drüber was erzählen. Und warum darf ich das überhaupt? Also es gibt ja Gerüchte, das darf man nicht erzählen.

Anna: Genau, das hat mich nämlich gewundert, weil…

AMD: Ja, also man selber darf es erzählen. Man darf sagen, man ist das, es ist kein Geheimnis. Es ist allerdings in Österreich nicht immer üblich, weil manche haben Berufe, in denen sie, sagen wir mal so was wie, leichte Schwierigkeiten bekämen. Es ist noch immer ein bisschen… Es ist nicht verpönt, aber es gibt eine Geschichte des Verbots, der Freimaurerei in Österreich, insbesondere in Österreich. In Ländern, wo es keine Verbote gab, so wie England, Skandinavien, Südamerika, teilweise Italien, also Länder, in denen es keinen Faschismus gab. Oder keinen Faschismus als Staatsdoktrin. Und da zähle ich auch die Sowjetunion, den Stalinismus dazu.

Überall, wo es totalitäre Regime gab, war die Freimaurerei sofort verboten. Noch bevor irgendwas anderes verboten wurde. Und aus dieser Tradition erklärt sich, dass es in Österreich nicht darum erzählt wird. Ich kümmere mich da nicht darum, aus zwei Gründen. Die, die es herausfinden wollen, um mich zu töten, wenn das Kalifat kommt, dann bin ich dran. Wenn der Hitler noch einmal kommt, auch. Also, die finden das raus, ohne dass ich das jetzt bekenne. Aber, ich kann anderen ein Signal geben und sagen, Schauts her, habt keine Angst, das ist etwas, was mit Humanismus zu tun hat. Und es können auch Frauen Freimaurer werden. Und das ist nicht so bekannt. Es gibt Frauen in der Freimaurerei seit fast 140 Jahren. Nicht in Österreich, aber in Österreich zumindest seit den 20er Jahren.

Und das weiß man nicht. Und das sollte man aber wissen, weil es gibt viele Frauen, oder es gibt Frauen, die sich dafür interessieren würden. Und um denen ein Signal zu geben, habe ich das nicht verschwiegen. Ich gebe aber jetzt da keine großen Pressekonferenzen oder irgendwelche, schreibe es auch nicht irgendwie. Ich schreibe keine Bücher darüber, aber man kann mich befragen. Und was darf man erzählen?

Natürlich darf man erzählen, dass man dabei ist. Man darf erzählen, was die Freimaurerei ist. Es ist ein Projekt, ein demokratisches, humanistisches Projekt der Gleichheit, Geschwisterlichkeit, manche sagen Brüderlichkeit, sehr hohe Ideale, die die Gesellschaft verbessern. Und gegen etwas auftreten, was man unter Faschismus zusammenfassen könnte oder auch Rassismus, [das] liegt der Freimaurerei fern. Im Gegenteil, es ist ein Projekt der Menschlichkeit. Ja, aber warum muss es geheim sein?

Es muss eh nicht geheim sein. Es muss nur deswegen geheim sein, weil es die Gegner nicht wollen. Das ist eine Sache, die [wir] in Österreich oder in Gesellschaften mit einer politischen Geschichte des Faschismus haben. Es gibt Länder, wo das nicht ist. Da stehen die Mitglieder der Logen auf den Websites. Die Mitglieder mit ihren Namen stehen auf den Websites. Man kann das lesen in Schweden, Norwegen, teilweise in Amerika. Es ist nicht geheim. Was geheim ist, teilweise geheim ist, es gibt ein paar Dinge, die mit freimauerischem Erleben zu tun haben, die geheim sind, weil man sie nicht erzählen kann.

Man muss sie erleben. Man muss sich diesen Idealen verpflichten. Man muss sich jetzt nicht verpflichten im Sinne, ich muss jetzt einen heiligen Eid schwören und dann werde ich geköpft und zerrissen, wenn ich das breche. Aber man bekennt sich sozusagen zu einer Menschlichkeit und zu einem, wir nennen das „Arbeit,“ zu einer „Arbeit am Tempel der Menschlichkeit“. Die besteht darin, dass man sich regelmäßig trifft. Das Vereinslokal heißt Loge, bekannt. Da drinnen finden Arbeiten statt. Da wird aber nicht der Teufel angebetet oder Kinder zerstückelt oder die Weltverschwörung geplant, sondern es wird darüber gesprochen, worüber man sprechen kann. Im Wesentlichen war es das, was heute in Universitäten gemacht wird. Es werden Vorträge gehalten und über Erkenntnis gesprochen.

Und die Demokratie wurde dort… Natürlich wurde die Demokratie als Wort und als Idee schon im alten Griechenland erfunden, aber einige haben nicht teilnehmen können. Die Sklaven haben nicht an der Demokratie teilnehmen können oder irgendwelche Barbaren, aber an der Freimauerei können alle teilnehmen, die sich dem nahe fühlen. Es gibt, ob es ein König ist oder ein Lakai, wobei Lakaien gibt es ja nicht, aber es kann ein Arbeiter sein, es kann der Präsident sein und der Präsident ist dort in der Loge genauso wichtig wie der Gärtner vom städtischen Garten oder ein Müllkübler, weil es nicht geht darum, wie reich bin ich, wie gut bin ich, was für einen Beruf habe ich, sondern: Wie denke ich.

Und das ist gefährlich für die, die das nicht wollen. Und deswegen ist es teilweise verboten. Und man kann jemandem das kaum erklären, der es nicht… Was ist das Schöne daran? Da sitzts ihr alle herum und tuts euch Geschichten erzählen? Ja, so könnte man es sagen. Aber da kann ich auch in den Yogakurs gehen und in einen Sitzkreis. Ja, eben, kannst du auch.

Philomena: Ja, kann man auch.

Anna: Sehr, sehr spannend. Danke, dass du uns das jetzt erzählt hast. Ich fand das immer schon sehr interessant. Und ebenso, dass es halt doch nicht jetzt ganz so geheim ist, sondern diese Ideale einfach man so auch offen kommunizieren kann, was ich ja generell wichtig finde, dass man humanitär denkt.

Philomena: Na, sehr schön, sehr schön. Vielen Dank, dass du das so verständnisvoll gebracht hast, jetzt.

AMD: Ja, gerne.

Philomena: Und jetzt donnerts uns krachts.

Anna: Danke, dass du da warst heute. Sehr gerne auch wieder, wenn du Lust hast.

AMD: Ja, ich komm gern. Ihr müsst nur sagen, komm und erzähl uns was anderes. Oder das gleiche noch mal.

Philomena: Es gibt genug, ja.

Anna: Na gut, dann sagen wir Tschüss.

Philomena: Ahaja…

Anna: Bussi, Bussi und Baba.

Philomena: Bussi, Bussi und Baba müssen wir ja jetzt sagen.

AMD: Bussi, Bussi und Baba?

Philomena, Anna: Bussi, Bussi und Baba.

 

Was wäre der Tod ohne das Wienerlied?

Morgen Mittwoch 1. November 2023 bin ich im Radio Ö1 zu hören. 15:05h „Was wäre der Tod ohne das Wienerlied?“ Kollege Bernhard Eppensteiner hat die Sendung gestaltet. Die Strottern sind zu hören, Georg Kreisler, Franui und viele andere Kompetente. Enjoy!

https://oe1.orf.at/programm/20231101#737177/Was-waere-der-Tod-ohne-das-Wienerlied

Mit dem Steppenwolf im Raucherkammerl

Interview für die 150-Jahre-Festschrift des Wasagymnasiums, publiziert im Oktober 2021. Meta Gartner-Schwarz sprach mit Andrea Maria Dusl am Dienstag, den 19. März 2019 über ihre Schulzeit am Wiener Wasagymnasium.

Meta Gartner-Schwarz, WasagymnasiumSie haben, wenn ich das richtig recherchiert habe, 1980 an unserer Schule maturiert. Übernehmen Sie bitte kurz die Rolle einer Zeitzeugin: Was war das für eine Zeit? Wie dürfen sich unsere Schülerinnen und Schüler diese vorstellen?

Andrea Maria Dusl, AlumnaEs ist schwierig, die Zeit aus der heutigen Perspektive mit den damaligen Augen zu sehen, weil sich alles zusammenschiebt. Ich müsste mich jetzt erinnern, nicht an meine persönlichen Erlebnisse, sondern daran, was eigentlich zwischen 1970 und 1980 passiert ist. Aus schulischer Perspektive hatte ich überhaupt keine Ahnung, was politisch ablief. Das war nicht wichtig. Wir waren politisiert in einem viel engeren Sinn, als es der gesellschaftliche Aufbruch war. Wir sind vielleicht auf Demonstrationen gegangen, aber wir waren nicht parteipolitisch politisiert. Wir waren auch nicht ideologisch motiviert, wir wollten ganz einfach nicht unterdrückt sein. Das war ein Beweggrund, aber das hat man auch gar nicht so ausgedrückt, es war irgendwie alles ein bisschen reglementierter. Und ich? Ich kann jetzt nicht wirklich in Erinnerung rufen, wie die 70er Jahre waren, ich kann es nur an den Unterschieden festmachen.

Welche prägenden Erinnerungen haben Sie an Ihre Schulzeit in der Wasagasse?

Ich will es jetzt mal so ausdrücken: Es gibt nichts in meinem Leben, was nicht durch die Schulzeit geprägt worden wäre, absolut nichts. In jedem Aspekt meines Daseins hat die Schule Spuren hinterlassen. Es ist sozusagen mein ganzes Leben schuldurchwirkt und seltsamerweise mehr durchs Gymnasium als durch die Volksschule. Das stelle ich immer dann fest, wenn es Situationen gibt, die ähnlich sind. Etwa beim Aufenthalt in Räumen, in denen man nicht das Kommando über das eigene Tun hat. Ich versteh darunter so Sachen wie das geplante Zuhören, das Konzentrieren gegen die eigenen körperlichen Wünsche, und der Aufenthalt mit und in einer Gruppe.

Solche Situationen kommen immer wieder. Auf der Universität kommt es wieder, bei Seminaren und bei Vorträgen, und da merke ich, dass ich von der Schule sozialisiert wurde. Wie geht man mit der eigenen Energie um, wie geht man mit den eigenen Wünschen um? Wie geht man mit dem Drang um, entweder etwas zu sagen oder zu verschweigen? Ja, wie interagiert man? Da gibt es ja so Strategien, ich weiß jetzt gar nicht, ob man sie Kommunikationsstrategien nennen sollte, aber es gibt in diesen geschlossenen Räumen, die wir in der Schule zum ersten Mal erfahren, so etwas wie nonverbale Kommunikation mit anderen, sehr komplexe Geflechte von Einbindung oder Ausgrenzung. Und das betrifft nicht nur die Lehrer und die Schüler. Wobei, jetzt fällt mir wieder auf, dass wir damals nicht Schülerinnen und Schüler sagten, sondern Schüler, und da war natürlich immer Schülerinnen und Schüler gemeint, aber es wurde nicht darüber gesprochen, dass darin alle inkludiert waren.

Wir hatten auch eine ganz andere Reflexionsebene über Sprache und über gesellschaftliche Zustände, und die Zeit, in der wir in der Schule waren, war insgesamt die ganze Suppe heute sehr berühmter Dinge. Da waren sehr viele Dinge drinnen, die wir ganz normal fanden, die aber gar nicht normal waren zu dem Zeitpunkt, als sie passierten. Zum Beispiel Gratis-Schulbücher, dass wir gratis mit der Straßenbahn fuhren, dass Mädchen und Buben – eigentlich hieß es damals Knaben und Mädchen – überhaupt gemeinsam in einer Klasse saßen. Das alles war damals absolut normal, aber aus heutiger Perspektive war es gerade eben erst eingeführt worden. Es muss also für die damaligen Lehrer, die aber auch nicht Lehrer hießen oder Lehrende, sondern „Professoren“, sehr anders gewesen sein. Die hatten das ja nicht so erfahren. Und selbst wenn man in einer modernen Schule war und vielleicht koedukativ erzogen wurde, war das nicht die Regel.

Für die Lehrenden war das auch etwas Spannendes, und diese 70er Jahre, die waren politisch gesehen in Österreich ein Aufbruch in sehr viele neue Felder, die vorher noch nicht beschritten waren. Daran erinnere ich mich, dass wir gespürt haben, dass sich da immerzu etwas verbessert. Etwas Analoges war der sogenannte Fortschritt, nicht der auf gesellschaftlicher, sondern der auf technischer Ebene. Jedes halbe Jahr wurde irgendetwas erfunden, das aus der Raumfahrt kam und die Welt verbesserte. Ich gebe ein Beispiel: Ich bin in die Phase hineingeraten, wo der Rechenschieber – es kann sich heute niemand mehr vorstellen, was ein Rechenschieber ist – wo also der Rechenschieber obsolet geworden ist. Wir hatten noch gelernt, wie der Rechenschieber funktioniert, aber wir haben ihn dann nicht mehr verwendet in der Oberstufe, wir konnten die ersten Taschenrechner verwenden, und das war eine unglaubliche Sensation, dass Kinder einen Apparat hatten, der einem das, was die Schule zu einem Großteil ausgemacht hat, nämlich rechnen zu können, abgenommen hat. Das war für die Eltern fast undenkbar, es gab ein einziges Modell, das an der ganzen Schule eingeführt wurde.

Die zweite technische Innovation, an die ich mich erinnere, die das Leben dann sozusagen geflutet hat, waren Overheadprojektoren. Eine heute völlig ausgestorbene Form. Der Overheadprojektor, der auf magische Weise etwas an die Wand warf, hat die Tafel abgeschafft. Die Tafel, die aus Kreide, Schwamm und diesen spezifischen Gerüchen bestand, die ist natürlich jetzt noch immer da, und auch das große Dreieck und der große Zirkel. Aber die Overheadfolie, das war ein Zauberding, und auf der haben die Lehrer, ich sag jetzt mal Lehrer, wir können das ja im Geiste gendern, mit ihren Overheadstiften herumgezeichnet. Sie haben das zwischendurch immer wieder abgewischt, oft auch unabsichtlich.

Meine Erinnerung ist gefüllt mit Vermittlungstechnik. Heute hatten wir in der Stunde, die ich besuchen durfte, einen Projektor, und da haben Sie vom Computer ein kleines Filmchen gezeigt. Das einzige, das ähnlich war an dem Ganzen, war die Tatsache, dass die Lichtsituation ungünstig war, weil es ja Tag war. Man kann nicht gut verdunkeln, sonst kann man auf den Tischen nichts mehr lesen. Das hat sich nicht verändert. Wir hatten damals 16-Millimeter-Projektoren und das ratternde Geräusch der Lehrfilme habe ich deutlich in Erinnerung. Interessanterweise war der Ton genau gleich wie heute. Er war so laut, dass er keinesfalls unhörbar war, also man konnte da kaum durchschlafen. Das ist völlig identisch mit damals, auch das schlechte Bild an der Wand ist identisch. Ich weiß nicht, ob der Projektor heute in Ihrer Stunde eine Entzerrungsfunktion hatte. Das gab es bei den bei Overheadprojektoren jedenfalls nicht, die warfen immer ein verschobenes Parallelogramm. Ja, selbst wenn es Projektionen waren, waren es greifbare Dinge.

Ich erinnere ich mich an den Geruch der Stifte, an den Geruch der Taschen. Auf dem Weg hier her habe ich mich daran erinnert, wie meine Schultasche gerochen hat, weil ich wieder denselben Weg gegangen bin, den ich in meiner Schulzeit auch gegangen bin. Ich habe dann immer entschieden am Schulweg: Soll ich die fade Straße gehen? Die neben der Kaserne, oder die spannende, wo so viele Autos durchfahren? Die roch furchtbar nach Abgasen. Schon damals war die Frage: Soll ich gesund oder spannend gehen? Ich habe mir dann irgendwann ein Fahrrad schenken lassen, damit ich länger schlafen kann. Ich weiß das deswegen, weil ich eine frühe Kassettenaufnahme gefunden habe von einem Gespräch, in dem meine Eltern debattierten, warum ich noch nicht beim Frühstück sitze. Meine Entschuldigung, warum das so sei? Ich könne mit dem Fahrrad fahren, war das Argument, und dadurch müsse ich nicht so früh aufstehen. Ich bräuchte nur 5 Minuten mit dem Fahrrad, und nicht 20 Minuten wie zu Fuß.

Und wie sind Sie über den Donaukanal gekommen?

Das war sehr schwierig. Ich musste über die Hörlgasse rauffahren, in diesem fürchterlichen, mörderischen dreispurigen Verkehr, und da ist auch mal ein Unfall passiert. Ich bin gegen die aufgehende Autotür eines Richters gefahren, dessen Tochter in der Schule studierte, und ich hab dann unglaublich viel Schmerzensgeld bekommen, konnte mir gute Ski kaufen davon, also unleistbar gute Ski von dem Schmerzensgeld. Ich weiß, das waren 4000 Schilling, das Schmerzensgeld, und es war dem Richter furchtbar peinlich. Mein Finger war ein halbes Jahr lang gelähmt, mein kleiner Finger, sonst hat mir nichts gefehlt, aber es hätte natürlich auch böse enden können. Fast niemand fuhr damals mit dem Fahrrad. Es war eine bizarre Außergewöhnlichkeit, Fahrrad zu fahren, noch dazu in die Schule. Aber nochmal zurück, wie hieß die Frage?

Welche Erinnerungen haben Sie bis heute mitgenommen?

Dass es eine Zeit galoppierender Technik und Innovationen war! Taschenrechner von Texas, Texas Instruments, TI 30 hieß dieser Rechner, der hatte so kleine rote Leuchtfäden, der hatte noch kein Display. Und mit dem durften wir in der Schule rechnen. Das war unglaublich. Was mich sonst geprägt hat, waren Freundschaften, Liebschaften. Aber das hieß nicht Liebschaften, sondern man war verknallt oder verliebt oder man ist mit jemand gegangen.

Aber noch zu den prägenden Dingen an der Schule. Ist es jetzt von mir keine günstige Betrachtung, wenn ich sage, ich habe sehr gelitten unter der Schule? Aber ich habe tatsächlich sehr gelitten unter der Schule, am meisten unter der Unfreiheit. Vielleicht ist es heute anders. Ich hoffe es, aber es gab damals unglaublichen Druck, und der Druck war permanent. Es war der Druck zu versagen. Das hohe große Ziel war es, die Matura zu schaffen. Das war gleich von Anfang an klar definiert, also das war klar da, und das war von der ersten Klasse an das große Ziel. Wenn du das nicht schaffst, hieß es, wenn du zum Beispiel nicht in die Oberstufe kommst, wenn du also die Schule nicht schaffst, ist dein Leben verwirkt! Das war so ein bisschen das Grundthema von allem, und mit dieser Angst wurde auch operiert.

Auch die Eltern haben diesen Druck erzeugt. Und irgendwie war die Gesellschaft auch so drauf. Es drohte die Lehre oder ein Zurücksinken in die Hauptschule oder in eine HTL. Das waren so unglaubliche gesellschaftliche Abstiege, dass es, sobald man im Gymnasium war, einem Todesurteil gleichgekommen wäre. Es wäre einem lebensbestimmenden Prozess gleichgekommen, der nie wieder geändert werden konnte. Es gab ununterbrochen diesen Druck. Ich weiß nicht, wie ich ihn beschreiben soll, er war allgegenwärtig. Er hat das ganze Leben durchdrungen. Das ist mit Unfreiheit gemeint. Man hatte ganz lange Zeit überhaupt keine Idee davon, wohin das münden solle; man hat gewusst, es gibt nachher die Universität. Da ist dann alles besser und so ein Studium, das dauert drei Jahre, aber es war in so weiter Ferne. Die Matura war das Licht am Ende des Tunnels.

Ganz am Anfang gab es ja nicht Semester, sondern noch Trimester und ich kann mich erinnern, dass ich eine Aufnahmeprüfung absolvierte, obwohl sie gerade er abgeschafft worden war. Es war relativ bizarr, der Direktor stellte ein paar Fragen: Ist ein Wal ein Fisch oder ein Säugetier? Wie viel ist 7 mal 8 und 13 mal 2, und die C-Dur Tonleiter. Das war eigentlich sehr seltsam. Wichtiger indes waren die Eltern, also welcher gesellschaftlichen Schicht sie entstammten. Für die Schule war wichtig, dass die Eltern die richtigen Eltern sind, und daraus ergibt sich sozusagen die Richtigkeit der Schülerinnen und Schülern, und nicht umgekehrt. Das hat sich aber in meiner Schulzeit stark gewandelt. 1970 war noch eine ganz andere Zeit. 1971 gab es ebenfalls ein Jubiläum, allerdings das Hundert-Jahre-Jubiläum der Wasagasse. Das ist jetzt schon 50 Jahre her, aber damals war es für mich unvorstellbar, dass etwas hundert Jahre existieren kann.

Es war für mich eine lange Zeit. Woran ich mich erinnere ist die permanente Müdigkeit. Ich war ununterbrochen müde. Ich kann mich nicht an Munterkeit erinnern, es war immer ein Kampf gegen die eigene Müdigkeit in der Schule, die Munterkeit konnte durch Pausen nicht wiederhergestellt werden. Das war, weil die Schule zu früh begann. Eine Stunde später hätte schon sehr viel gelindert. Und sie dauerte zu lange, die Schule. Die 6 Stunden, die wir durchgehend drinnen saßen!

Man hatte seinen Rhythmus und wußte ziemlich genau, in 5 Minuten ist es so weit, dann läutet es, auch ohne auf die Uhr zu schauen. Das ganze Leben war in Minutenschritte eingeteilt. Das Ende der fünften und sechsten Schulstunde war das Anstrengendste, weil man da schon starken Unterzucker hatte. Wir haben ein Schulbrot mitgehabt, und das musste man sich gut einteilen. Die Pausen waren sehr wichtig, um kommunikativ zu sein, in den Pausen konnte man mit den anderen Kindern kommunizieren.

Ich halte das gesellschaftliche Leben für das Wichtigste an der Schule, das Lernen, wie man miteinander umgeht, wie man Freundschaften pflegt. Dafür aber gab es zu wenig Raum. Die Nachmittage waren gefüllt mit Aufgaben. Ich kann mich jetzt nur permanenter Müdigkeit erinnern. Es gab Stunden, wo man schlafen konnte, Musik war sehr, sehr gut um zu schlafen, an gute Nickerchen kann ich mich erinnern, und dann kann ich mich erinnern, dass man eine andere Beschäftigung nebenher machte, zum Beispiel in den Kalender besondere Malereien hinein zu machen oder kleine Ersatzhandlungen vorzunehmen. Die Bank einzuritzen. In der der ersten, zweiten, dritten Klasse war es sehr wichtig, die Schulbücher mit Zeichnungen zu füllen und einen Raum, einen eigenen Raum zu finden, in dem die eigenen Regeln galten, und es war natürlich furchtbar, wenn das sichtbar wurde. Das hat die Betragensnote geschmälert. Es wurde nicht als das erkannt was es ist, als ein Refugium, ein persönliches. Das war für mich prägend. Was auch prägend war – aber das liegt im Wesen der Schule – ich habe ganz viel gelernt, aber mir damals gedacht, ich lerne das falsche.

Was empfinden sie davon auch heute noch als falsch?

Aus heutiger Perspektive? Ich kann es nicht beurteilen, wie die Schule heute drauf ist, weil ich in den letzten 30 Jahren genau 2 Stunden, und zwar heute, davon gesehen habe. Ich kann nicht wirklich beurteilen, wie die heutigen Lehrpläne aussehen. Aber ich weiß, dass es die Fächer noch immer gibt von damals, und diese Fächer, das wusste ich damals das Kind natürlich nicht, folgen einem humanistischen Kanon, der im 19. Jahrhundert aufgestellt worden ist, für eine ganz andere Gesellschaft. Man sollte konversieren können, vor allem in Französisch. Man sollte humanistische Bildung haben, Technik war nicht so gefragt, das war fast ein bisschen verpönt in diesem Zusammenhang. Die Gesellschaft hat sich auch geändert.

Geographie hat mich sehr interessiert, aber mir war bewusst, dass das ein Fach ist, das sonst niemanden interessiert. Biologie konnte ich identifizieren als wichtig, weil Medizin und das Leben und das Verständnis für organische Vorgänge wichtig waren. Aber schon Physik und Chemie, die Tatsache, dass diese Fächer getrennt waren, das ist mir sehr komisch vorgekommen. Mich haben Sprachen schon sehr interessiert, aber eigentlich wurden nur zwei Sprachen angeboten, die anderen waren Freifächer. Da hätte man sich mit dem Müdigkeitsgrad, den wir durchwegs gehabt haben, sehr überwinden müssen. Oder irgendwelche Tabletten nehmen müssen, die es damals nicht gab. In der Freizeit hätte man Französisch und Italienisch lernen können. Englisch war sehr wichtig für mich, denn es konnte ganze Welten öffnen, und dafür war ich sehr dankbar. Latein wurde uns anders verkauft. Es hieß, wenn du Medizin studieren möchtest, dann musst du Latein können. Aber man hat nichts Relevantes für Medizin in Latein gelernt, sondern eigentlich nur die Grammatik, die verstörend kompliziert war am Anfang und für mich mit Sprache sehr wenig zu tun hatte. Es wurde gesagt, die Struktur von Latein sei so genau, dass man, wenn man das könne, alles könne. Interessanterweise stimmt das sogar. Das Englische erschließt sich mir über das Lateinische, die englischen Fremdwörter sind für mich übers Lateinische viel besser begreifbar, nur hat das damals niemand so erzählt.

Zwischen den Fächern gab es keine Überlappungen, zumindest keine, die ich gespürt hätte, und Latein war sehr, sehr anstrengend, weil es aus einer toten Welt gekommen ist und weil dieses Tote überpräsent war. Wir lasen Texte, die ich zum Teil noch immer auswendig aufsagen kann, weil das ein Teil dieser spezifischen Lateinlehre, ja der Kultur des Lateinlehrens war. Latein ist ja noch älter als alle anderen Unterrichtsfächer, damit wurde eine Tradition transportiert. Das konnten wir natürlich überhaupt nicht einschätzen, und das wurde uns auch nicht erzählt. Es gab hier in dieser Schule, das passt hier gut rein, eine Kammer, im Erdgeschoss, und zwar genau in der Ecke Hörlgasse – Wasagasse, die gehörte einem Professor. Ich glaube, er hieß Lanz oder so, und der hatte ein Freifach. Das hat mich sehr fasziniert, denn da kamen immer wieder, unsere Klasse lag in dieser Ecke, für mich damals als Erwachsene empfundene heraus, aus dieser Kammer. Die hatten dort das Freifach Sanskrit belegt. Sie waren ungefähr doppelt so groß wie wir, es können nur Achtklässer gewesen sein und Siebtklässer, und es waren fast nur Männer. Es gab ganz wenig maturierende Mädchen. Das hat sich dann stark in Richtung Fifty-Fifty geändert. Als ich in der 1. und 2. Klasse war, waren wir sozusagen der erste Schub von gender-equalen Kindern. Die Klassen waren aber größer, 31, 32 Kinder. Es wurde damit gerechnet, dass sich die Klassen ganz natürlich dezimieren. Die verkleinern sich selber, hieß es, und dann werden aus drei Klassen zwei.

Einer unserer Mitschüler hat sich im Klo erhängt. Es hieß, es sei ein Unglücksfall gewesen. Ich glaube aber, dass er depressiv war, dass es sozusagen ein Kindersuizid war. Wie der auf die Idee gekommen ist? Keine Ahnung. Es war nicht zu verhindern, es gab keine Anzeichen. Und es wurde nachher nicht mehr viel darüber gesprochen.

Wie alt war das Kind?

Es war in der ersten Klasse.

Ich erinnere mich auch noch dran, dass wir sehr viele Mitschülerinnen und Mitschüler aus anderen Ländern hatten. Heute würde man das vielleicht anders ausdrücken, aber es war sicher ein Drittel nichtdeutscher Muttersprache, konnte aber trotzdem blendend sprechen. Weil das Gymnasium damals einen anderen Magnetismus hatte, kamen die entweder aus Diplomatenfamilien oder aus Familien, die den gesellschaftlichen Aufstieg schon geschafft hatten. Es war ganz normal, eine Vielzahl unaussprechlicher Namen kennenzulernen. An das erinnere ich mich: Dass das eben normal war. Aber dass ich mich erinnere, dass es normal war, gibt einen Hinweis darauf, dass es für andere nicht normal gewesen ist, sonst würde ich ja gar nicht drüber sprechen. Dass es normal war, war offenbar nicht normal, aber wir haben es als normal empfunden.

Und auch gemischte Klassen, außer in Turnen. Leibeserziehung hieß das damals, Leibeserziehung für Mädchen und Leibeserziehung für Knaben. Aber niemand sagte das so, es hieß „Turnen“, auch heute noch? Es gab noch einen anderen Namenswechsel, und zwar den von Naturgeschichte zu Biologie. Geschichte wurde nicht mit dem Buchstaben G abgekürzt im Stundenplan, sondern mit H, wegen History. Daran erinnere ich mich, auch daran, dass wir es Reflexion über die Bezeichnung dieser Fächer gab, wahrscheinlich auch, um Geschichte von Geographie zu unterscheiden. Und dann hatten wir ein Fach, ich weiß nicht, ob ich das heute noch gibt, es hieß DG, Darstellende Geometrie.

In gewissen Schulzweigen gibt es das noch.

Ich bin dann in den realistischen Zweig gekommen. Da hatten wir jeden Tag Mathematik, manchmal sogar 2stündige Mathematik. Für mich war damit Mathematik noch stärker lebensdurchdringend als Latein.

Die Müdigkeit war Teil einer Polarität, eines Wechselspiels vieler Pole. Interessanterweise habe ich gute Erinnerungen an Religion, obwohl ich sehr areligiös bin, aber Religion hab ich nicht als gegenpolig empfunden, sondern als fast sowas wie freundlich entgegenkommend.
Turnen war auch eine Art Refugium, in dem alles anders war, in dem eine Art von Freiheit möglich war.

Musik hingegen war anstrengend, weil ja damals gerade die eigene Musik wichtig geworden war: Rockmusik. Für manche war das dann auch schon Jazz, aber Rockmusik war so präsent, man kann sich gar nicht vorstellen, wie wichtig war. Als Antithese zur Musik in der Schule, und ich kann mich erinnern, dass wir versucht haben, damit kleine Breschen zu schlagen in den Lehrplan. Obwohl der Lehrer selber Jazzpianist war, hat er sich an den Lehrplan halten und mit uns über Schubert und Bach, Beethoven und die Klassik reden müssen, und das auch vorspielen. Da konnte man immer gut schlafen, und ich habe das gern gehabt, im Musikunterricht zu schlafen. Natürlich musste man dann reflektieren und viel Wissen abrufen, über die Dinge, die man beim Schlafen versäumt hatte.

Ein Beispiel für eine dieser Breschen, die wir geschlagen haben: Wir haben etwas mitgebracht von der Gruppe „Emerson, Lake and Palmer“, die hatten eine elektronische Version von Mussorgskys Pictures at an Exhibition eingespielt. Das durfte man mitbringen und es wurde vorgespielt, weil es von Mussorgsky war, und dann war da eine Einspielung auf einem Moog-Synthesizer von verschiedenen Bach-Stücken, die Platte hieß Switched on Bach, und auch das durfte man vorspielen. Obwohl der Synthesizer ein Teufelsinstrument war, schlimmer als Mord oder Totschlag, und die Musik ruiniert hat, aus Sicht der klassischen Musiker. Obwohl es moderne Musik schon gab in der schulischen Welt, war es noch eine Zeit, in der noch ganz viel aus dem 19. Jahrhundert hochgehalten wurde. Wenn man also auf dem Synthesizer Bach spielte, war das okay, das ging grad noch, aber das waren Schallplatten und Schallplatten waren unermesslich teuer.

Auf dem Weg hierher habe ich mich erinnert, wie unsere Schultaschen ausgeschaut haben und ich hatte keine Idee mehr, wie meine Schultasche aussah. Wir hatten keine Schultaschen, sondern Army-Taschen. Das waren Umhängetaschen, die ein ganz langes Band hatten. Es waren original amerikanische Militär-Taschen, in denen, ich weiß jetzt nicht, Munition oder irgendwas in der Art transportiert wurde. Sie eigneten sich hervorragend zum Transport immens teurer Schallplatten. Und es war ganz wichtig, auf diese Army-Taschen mit Kugelschreiber die Namen der Lieblingsgruppen draufzuschreiben: The Who, Deep Purple, Pink Floyd, ELP, das hieß Emerson, Lake and Palmer. Ein bisschen weniger beliebt waren Uriah Heep und The Rolling Stones. Kann man sich gar nicht vorstellen, Bob Dylan hat überhaupt niemanden interessiert, das war nicht rockig genug.

Ein wichtiger Teil der Schule war, sich minutiös über diese Dinge zu unterhalten, über bestimmte Rocknummern. Irgendjemand hatte eine Schallplatte mitgebracht und die ist dann im Kreis gegangen, wurde eine Woche verborgt an die und eine Woche an den, und ist dabei natürlich immer schlechter geworden, zerkratzer. Aber man konnte sich in dieser Woche die gesamte Magie der Rock-Gruppe einverleiben und war Teil einer Geheimgesellschaft.

Haben sich Beziehungen oder Freundschaften aus dieser Zeit erhalten?

Wir machen manchmal Maturatreffen. Eigentlich alle 10 Jahre. Niemand plant es, weil es sehr kompliziert ist, die Namen, die Adressen wiederzufinden, aber es gibt erstaunlicherweise immer wieder jemand, der es organisiert. In meiner Erinnerung findet das alle 10 Jahre statt, und da treffen alle zusammen. Das Interessante bei diesen Maturatreffen ist, dass sich nichts geändert hat. Nichts. Also wer mit wem gut ist. Es ist wie damals in der Schule, es hat sich nichts geändert. Nur sind alle älter, dünner oder dicker, also älter im Sinne von körperlich älter geworden. Auch die Lehrer. Das einzige, was sich ein bisschen verändert, und das hab ich seltsam in Erinnerung, ist die Tatsache, dass die Lehrer ihre – ich kann es nur so sagen, wie ich es jetzt sagen werde – ihre Dämonie verlassen haben und Menschen geworden sind. Weil diese Hierarchie nicht mehr da ist. Das ist sehr angenehm. Die unangenehmsten Lehrer werden plötzlich zu lieben, netten Menschen. Es muss also das System sein, dass das mit uns macht oder gemacht hat, dass wir manche Lehrer fürchteten. Das ist ein interessanter Bericht: Die Furcht vor Lehrern. Es gab Furcht.

Wir haben ganz am Anfang über den Schüler Gerber gesprochen. Ich glaube, dass das ganz gewiss keine Schrift war, die Lehrer selbst empfohlen hätten, das wurde eher illegal gelesen, weil das Buch ja vom Verhältnis von Schülern und Lehrern handelt. Es handelt vom missgünstigen und dämonischen Lehrer, Gott Kupfer genannt, und es spielt in der Wasagasse, der Torberg hat seine eigenen schulischen Erinnerungen in einem Roman verarbeitet, ich glaube es war der erste, mit dem er überhaupt bekannt geworden ist. An das erinnere ich mich, das haben wir uns illegal besorgt, wussten aber nicht, dass es in der Wasagasse spielt, ja, das hat uns niemand erzählt. Es steht auch nicht im Buch. Aber sobald man gelesen hat, wie die Architektur der Schule beschrieben wird, diese kleine Gasse, auf die wir jetzt blicken, die Türkenstraße, die eigentlich eine Gasse ist, im Vergleich zur Hörlgasse, die eine Straße ist. Die ist abschüssig, und das haben wir sofort erkannt. Und auch die Beschreibung der Schule, also der Dämonie, die manche Lehrer, oder die Macht, die sie hatten.

Und dann komme ich wieder zurück zu diesem Ausgeliefertsein, das ich erst in der Schule kennengelernt habe. Das hat mir nicht gut gefallen. Ob das mit der Zeit zu tun hat, oder ob das noch alte Echos waren aus einer Zeit, die es gar nicht mehr gab? Was ich eigentlich glaube, dass nämlich Schule in einem technischen Sinn konservativ ist, also eine Gesellschaft, die draußen nicht mehr existiert, noch bewahrt. Sie ist eigentlich eine Nacherzählung anderer Zeiten, wofür es ja auch Gründe gibt, denn man kann ja die Zukunft nicht besprechen, sie hat ja noch nicht stattgefunden.

Politische Agitation war immer verboten. Was ich heute miterlebt habe, dass in der Klasse diskutiert wurde über Klimawandel, das hätte man ja auch damals schon machen können, war ja damals auch schon ein Thema. Vielleicht gab es progressive Lehrer, die das versucht hätten, so ein bisschen aus einem eigenen Antrieb. Ich kann mich erinnern an einen Zeichenlehrer, der hat uns beigebracht hat wie Filmen geht, aus eigenem Interesse, das war nicht vorgesehen.

Es hat ja auch nicht Zeichnen geheißen, sondern Bildnerische Erziehung. Da gab es noch so ein Wort, Werkerziehung hieß das. Werkerziehung für Knaben und Werkerziehung für Mädchen. Dass Mädchen da vielleicht lernen, wie man eine Zange benützt oder Laub sägt, oder umgekehrt Buben, es hieß damals Buben und Mädchen, nicht Knaben und Mädchen, Buben und Mädchen waren die Ausdrücke. Also es gab seltsame Wörter aus vergangener Zeit, Buben und Mädchen, und Buben haben sich heimlich nähen und stricken beigebracht, und Mädchen heimlich Werkzeuge benützt. Das war nicht vorgesehen.

Was aber überhaupt nicht verhindert werden konnte war, dass sich Liebe und Verliebtheiten eingestellt haben, und das war eine ganz wichtige Sache. Es war kein Ventil, sondern alles durchdringend, noch mehr als die Müdigkeit. Verliebtheit und das Verhältnis der Geschlechter waren bestimmend und durchdringend. Auch Verliebtheiten in Lehrer und Lehrerinnen waren bestimmend. Anders als heute haben da auch Beziehungen stattgefunden, von denen alle wussten. Mit Schwangerschaften, von denen alle wussten. Man wusste es, hat aber so unter der Hand gesagt, dass die in der Siebenten, weißt eh, von wem die schwanger ist. Weniger Kinder waren von einander schwanger, vielleicht ein Hinweis darauf, wie weit Beziehungen gegangen sind. Aber es waren immer zwei, drei Mädchen in der Siebenten oder Achten schwanger. Ja, heute wäre das undenkbar.

Ich kann mich erinnern, dass die Schulschikurse für die Lehrer, eigentlich für die Turnlehrer, unglaublich anstrengend waren. Erstens haben sie ihre eigenen Pantscherln auf den Schulschikursen mit den anderen Lehrern gehabt. Turnlehrerinnen und Turnlehrer konnten dort sehr viel machen, was sie zu Hause nicht gemacht haben. Die Kinder hätten das vielleicht auch wollen, so ab der 3., 4. Klasse, aber da wäre der Turnlehrer der Vormund geworden. Nein, er hätte tatsächlich Schuld getragen an der Schwangerschaft, und er hätte Alimente zahlen müssen. So wurde es erzählt, ob das stimmt oder nicht müssen Jus-Historiker beurteilen. Aber das war ganz präsent und auch die Frage: Wer geht mit wem?

Da gab es manchmal, das ist wahrscheinlich heute auch noch so, Show Cases. Das „Gehen“ war eher die Proklamation von einem Verhältnis. Man hat gefragt: „Gehst du jetzt mit mir?“ oder „Ich würde gerne mit dir gehen“. Dann hat man gesagt: “ Wir gehen jetzt miteinander“, aber das hat überhaupt nichts beinhaltet. Über die Sachen, die schon schärferer Natur waren, ist weniger gesprochen worden. Da hat man gespürt, oh da ist was Ernstes, aber es hat nicht „ernst“ geheißen, es gab dazu keine Begrifflichkeiten.

Die sind „zusammen“?

Nein, das hat man auch nicht gesagt. „Miteinander gehen“ habe ich ganz deutlich in Erinnerung. Wahrscheinlich war das Sprechen darüber tabuisiert, aber man hat es gewusst. Man hat es auch vor allem gewusst, wegen der sogenannten Partys. Es gab immer irgendwelche Eltern, die einen Wochenendurlaub gemacht haben, und dann wurde dort sofort Party gemacht. Das war das Wichtigste überhaupt, und Party war fast jede Woche, natürlich immer am Wochenende. Und diese Wohnungen wurden ausgiebig verwüstet. Wichtig war, dass man dort schmusen konnte, „schmusen“ war ein Wort. Damit hat sich ja überhaupt erst das Sprechen über Sexualität in der Gesellschaft etabliert. Was die Eltern an sexueller Befreiung durchmachten, konnte man auf kleiner Ebene gleich mitmachen.

Es hat nur eine Angst gegeben. Die vor Schwangerschaften. Man hat nicht gesagt „vor ungewollten Schwangerschaften“. Maximal haben Mütter davon gesprochen, dass verhütet werden solle, vielleicht auch vereinzelte Väter. Man hat gesagt: „Geh in die Apotheke, die werden dir schon sagen, wie das geht.“ Das war etwas, das Familien nicht miteinander besprochen haben. Das haben auch Kinder nicht miteinander besprochen. Ich kann mich aber schon erinnern, dass wir in Biologie „aufgeklärt“ wurden, nur waren wir schon alle davor aufgeklärt. Niemand wurde wirklich aufgeklärt, es war eher eine Art Bekanntmachung, dass man jetzt offiziell in dem Alter sei, in dem man aufgeklärt werden solle, obwohl, wie gesagt alle schon aufgeklärt waren. Vorher hätte man es ja nicht verstanden, die Körpersäfte nicht zuordnen können und sich nichts unter dem Begriff „Geschlechtsmerkmal“ vorstellen können. Es war sozusagen der Schritt vom kindlichen ins Erwachsenenalter. Der war radikal, nur hat niemand Pubertät dazu gesagt. Das gab es nicht, das Wort. Man war Kind und dann war man eine Frau, aber auch das hat niemand so gesagt. Sexualität wurde nicht in Sprache gegossen.

Ich erinnere mich, dass es trotzdem Momente gab, in der 6., 7. Klasse, wo es Simulationen von Fernseh-Gesprächsrunden gab, sowas wie eine Art Club 2 für die Schule. Da wurde gesprochen über Sexualität, und da war ich mal eingeladen bei so einer Gesprächsrunde als Teilnehmende und habe mich selbst gewundert, wie gut es mir gelang, über Sexualität so zu sprechen, wie man über Buntstifte redet. Ganz normal die tabuisiertesten Dinge zu besprechen. Da ist mir selber aufgefallen, wie normal mir etwas war, was offenbar davor nicht normal war. Das muss aber mit der Gesellschaft insgesamt zu tun gehabt haben.

Wichtig war es auch, in Filme zu gehen. Das Kino war noch eine Form von, nicht Refugium, sondern Paradies, ein Ort, an dem man ganz weit wegreisen konnte. Das kann man sich heute kaum vorstellen, weil es so wenig Kinos gibt, und Film nicht mehr so präsent ist. Aber ins Kino zu gehen und Filme anzuschauen, das waren große Expeditionen, und ganz wichtig. Es gab auch im Umkreis von hier mehrere Kinos.

Eine eminente Erfahrung vergaß ich zu erwähnen: Schulschwänzen war eine ganz wichtige Sache. Da gab es doch gerade eben eine Debatte, ob man bei dieser letzten Demonstration, die glaub ich diesen Freitag war, wo es drum ging, dass Schüler entweder nur unter Erlaubnis ihrer Klassenvorstände oder zusammen hingehen durften. Das Hingehen galt als unentschuldigtes Fernbleiben. Und der Minister hatte davor auch eindrücklich gewarnt, man sah so richtig, wie er sich windet, eigentlich gefällt ihm das eh ganz gut, merkte man, andererseits kann er es nicht zugeben, weil der Minister von einer rechten Regierung sowas nicht gutheißen kann. Also jedenfalls nicht, wenn es um die Natur geht.

Zurück zu unserer Schulzeit. Das Managen von Schulschwänzen war damals ganz wichtig. Es war eine richtige Managementaufgabe. Erstens: Wo? Wann? Mit wem? Wie lange? Das waren die wichtige Fragen. Und: Kann ich es mir leisten? Man war dann plötzlich, überraschend krank bei einer Schularbeit, aus dem Nichts, hat hohes Fieber gehabt – das Thermometer wurde zwischen den Händen gerieben, oder auf die Heizung gelegt (im Sommer ging das natürlich nicht), und da hat man dann spontan Fieber bekommen und musste zu Hause bleiben.

Meine Eltern haben diese Spiele gar nicht mitgemacht, ich habe nur gesagt, „ich kann heute nicht, ich bin so fertig, ich will heute nicht“. Das Schulschwänzen war eingeteilt in zwei ganz unterschiedliche Bereiche: Zuhause bleiben, oder Schulschwänzen und Wegbleiben – das hat in Wien „Schulstangeln“ geheißen. Das Zuhause bleiben war aber sehr lohnend, weil man das Vormittagsfernsehen sehen konnte. Was könnt ich werden? war eine wichtige Sendung. Im Radio gab es Sendungen von Walter Richard Langer über ganz besondere Jazzsachen. So war es also eine Zeit der Ausbildung, wenn man zu Hause geblieben ist. Russisch gabs auch schon, aber das Schichtarbeiterfernsehen wurde zum Großteil von uns Kindern geschaut. Und die haben das schon ganz gut hingekriegt. Also, dass man dann vor dem Fernseher geklebt ist, das war das Schulschwänzen zu Hause.

Das öffentliche Schulschwänzen bestand darin, ins Kaffeehaus zu gehen. Es gab noch mehr Kaffeehäuser hier in der Gegend, eins in der Türkenstraße, nein in der Berggasse, es hieß Café Liechtenstein, da ist jetzt eine Pizzeria drinnen oder ein Chinese. Dann gabs in der Kolingasse das Votivcafé, das ist jetzt irgendeine Art Bistro. Das waren eigentlich die beiden. Das wichtigere war das Café Liechtenstein, und dorthin sind auch Lehrer hingekommen, und interessanterweise haben die dazu geschwiegen. Meistens sind sie hingekommen mit irgendeiner anderen Lehrerin. Das waren immer illegale Pantscherl von Lehrern. Die haben gewusst, dass sie nicht verraten werden, wenn sie sich dort zeigen, und wir, dass wir nicht verraten werden.

Ich erinnere mich, dass das auch mit Geld zu tun hatte. Denn man konnte nicht in ein Kaffeehaus gehen ohne zu konsumieren, und wir waren ja immer zu viert oder zu fünft. Man hat gewusst, es ist sicher jemand anderer Schulstangelnder auch da, man hat bestellt ein Achtel Soda und eine Mannerschnitte. Damit konnte man drei, vier Stunden zubringen. Kaffee hat niemand getrunken, das war kein Getränk damals. Ich erinnere mich aber, dass es Kinder gab, die schon Alkoholiker waren. Sogar in der Unterstufe, und wo man auch gemerkt hat, dass die besoffen waren, sich davor irgendwo ein Bier besorgt haben. Wir haben nicht so genau gewusst, was da los ist, aber sie haben gesagt, „ja ich habe mir jetzt ein Bier eineghaut“. Das war so ein komischer, sehr seltsam entrückter Zustand.

Rauchen war auch ganz wichtig, um dabei zu sein. Es gab ein Raucherkammerl in der Schule, es war der zentrale Kommunikationsort, die Keimzelle, nein nicht Keimzelle, sondern das Herz der Schule, und es hat bestialisch gestunken dort. Es war völlig zugenebelt, aber es waren alle Wichtigen da, und da wurden die wichtigen Bücher mitgebracht und ausgetauscht.

Es war wichtig, ein Buch in der Jackentasche zu haben. Ein ganz bestimmtes, zum Beispiel Sartre, irgendetwas von Sartre, oder irgendwas aus dem Suhrkamp Verlag oder irgendwas aus dem Residenzverlag, um zu sagen: „Das lese ich gerade.“ Steppenwolf von Hesse, oder Siddhartha, das waren die wichtigen Bücher. Also überhaupt, Hermann Hesse hat eine so unglaubliche Wichtigkeit gehabt in dieser Zeit. Ich versteh noch immer nicht, warum das so war. Aber ich erinnere mich, wie ich das gelesen habe, es war wunderbar! Der Hesse ist einer von uns, war das Gefühl, und Steppenwolf nicht nur ein Buch, sondern die Musik der Band Steppenwolf. Das war keine berühmte Combo, aber diese Kombination eines Hermann-Hesse-Buchtitel und wilder Rockmusik hat beide legitimiert. Die Band Steppenwolf lieferte ja auch die Musik für den Film Easy Rider. Mit Hermann Hesse verbunden war also die verbotene, gesuchte Welt.

Oder das Glasperlenspiel, das war so undurchdringlich, ein unglaublich dickes Buch, fünfmal so dick wie Siddhartha und viermal so dick wie Steppenwolf. Ach, haben wir das geliebt! Das musste man lesen, und ja, es gab zwar Philosophieunterricht, aber das waren lauter fade Leute, die Philosophen. Nichts was man in Philosophie gelesen hatte, konnte man ins Raucherkammerl als Literatur mitnehmen. Und nichts was man im Musikunterricht gehört hatte, hätte man als Schallplatte mitgenommen.

Wichtig war auch die Schulband. Im Festsaal hat an bestimmten Nachmittagen die Schulband ein Konzert gegeben. Das war unfassbarer Krach. Unfassbar laut und progressiv. Ich habe vergessen, wie die Bands hießen, hab aber selber in einer gespielt und war Teil dieser Wirklichkeit ab der fünften und sechsten Klasse. Als ich noch jünger war, waren das richtige Götter, die Menschen mit Stromgitarren. Es gab da oben in der Alserstraße ein Musikgeschäft, es hieß „For Music“,  und ich erinnere mich, dass ich, obwohl ich müde war, jeden Tag ins „For Music“ gegangen bin und mir die Stromgitarren angeschaut und sie bewundert habe. Ärger als in einem Zuckerlgeschäft bewundert habe. Es hat eine religiöse Verzückung gegeben, anders kann man es gar nicht beschreiben.

Es gab diese Vermischung von Sinnlichkeit, von Liebe und Verliebtheit und Sexualität und Fremdbestimmung und Zeitmanagement und Erkenntnisgier. Ich war schon sehr gierig darauf, zu verstehen, wie die Welt funktioniert. Ich habe es eingangs schon gesagt, die Schule hat es nicht immer ganz verstanden, diese Gier zu stillen. Sie hat sie oft zugedeckt mit falschen, oder unbrauchbaren Hinweisen und das hat mich sehr, sehr traurig gemacht. Aber ich habe kein Ventil gehabt dafür. Es gab welche, die dann in der sechsten, siebten Klasse aufgehört haben. Die haben einfach aufgehört, sie haben gesagt: Ich habe keine Lust mehr. Es hat sich meistens angekündigt durch viele Fehlstunden, oder Haschischrauchen, durch eine Art von Interesselosigkeit.

Auch mir wurde attestiert, ich sei rauschgiftsüchtig. Ich habe aber weder geraucht noch Alkohol getrunken, oder irgend sonstwas genommen. Ich war nur „auf Musik“. Für mich war Rockmusik so wichtig, und ich habe meine Müdigkeit mit Schulschwänzen bekämpft. Das ist mir als Drogensucht ausgelegt worden. Mein Vater war sehr entsetzt, er musste mit mir ein Gespräch über Drogensucht führen. Empfehlung des Professors. Mein Vater war aus einer noch viel älteren Generation, gewissermaßen vormodern, für ihn waren Drogen irgendwie nicht real. „Was ist eine Droge? Sowas gibts ja gar nicht!“ Für ihn war das gar keine Bedrohung, also hat er mit mir eigentlich nur technisch geschimpft: „Du musst das mit deinem Klassenvorstand regeln, weil ich habe keine Lust für diesen Blödsinn. Sag, dass du das nicht machst und damit ist es erledigt.“ Und die, die wirklich geraucht haben, sind unentdeckt und unbetreut geblieben und haben ihre Schulkarriere hingeworfen. Interessanterweise sind die Mädchen, die schwanger waren, durch die Schwangerschaft nicht aus der Schule geflogen. Also weder selbst noch durch Fremde, die hatten dann einfach Kinder zu Hause. Also ich kann mich nicht erinnern, dass sie ihre Schulkarriere beendet hätten.

Und wie hat ihr Alltag ausgesehen?

Der Alltag war minutiös durchstrukturiert. Es gab einen Stundenplan, es war alles auf die Minute planbar, es gab kaum ein Entkommen. Ich erinnere mich, dass ich mir manchmal einen Samstag weggezwickt habe und diese unfassbare Freiheit genossen habe, dass ich an einem Samstag in die sogenannte „Stadt“ gehen kann, um dort, ich weiß nicht, irgendwelche Auslagen anzuschauen. Das wäre ansonsten nicht gegangen, als Schulkinder waren wir nicht in der Welt draußen. Wir waren eigentlich eingefangen, ich versteh schon, warum das notwendig ist und dass das auch nicht anders geht, aber es war ein Gefühl des Eingesperrtseins, und das Studieren hat das behoben. Aber das war ein Teil einer komplexen Erzählung, das eine hat das andere bedingt. Diese Karotte war immer vor der Nase: Wenn du die Matura schaffst, wird alles gut. Alles wird gut.

[Gab es sonst noch Zukunftswünsche?]

Niemand hat gesagt: „Ich heirate“. Vielleicht ist das erst später gekommen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass irgendjemand einen sogenannten Ehewunsch gehabt hätte, im Gegenteil. Sexualität war eh präsent, das hat man also durch die Ehe nicht bekommen. Kinder sind halt passiert, und man ist dann halt lieb zu den Kindern, hieß es, und kümmert sich um sie. Wenn wirklich irgendwelche ehemaligen Schulkolleginnen oder -kollegen geheiratet hätten, hätte man sich gedacht: „Was ist denn da passiert, irgendwas stimmt da nicht mit denen!“ Das war weder ein Ziel noch ein Wunsch noch irgendeine Art von realistischer Hoffnung, weder für Knaben noch für Mädchen, aber, und jetzt kommen wir zu etwas, was trotzdem sehr seltsam klingt.

Es gab nur eine sehr überschaubare Studienauswahl. Im letzten Jahresbericht musste man jeweils bekanntgeben, was man vorhätte zu studieren, und ich habe mir das genau angeschaut, weil ich nicht wusste, was man da schreibt. Man kann ja nicht hineinschreiben: Rockmusikerin oder Jazzpianistin oder irgendwas in der Art. Da ist dann immer gestanden, in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeiten: Jus, Medizin, Pharmazie, Lehramt, Architektur. Aus. Mehr gab´s nicht. Lehramt war sehr, sehr wichtig. Ich würde meinen, ein Drittel aller Maturierenden, die hießen damals alle „Maturanten“, hat gesagt: Lehramt! Das hat zwar nicht gestimmt, aber Lehramt galt als ganz wichtig. Es haben ja alle, die in der Schule unterrichtet haben, ich glaube, es waren 90%, selber Lehramt studiert. In der Hierarchie war es weiter unten. Wenn man keine Idee hatte und nichts konnte: Jus. Vielleicht Jus und dann heiraten, oder Jus und dann Richter. Also solche Sachen.

Und Ihre eigene Wahl, wie ist die zustande gekommen?

Ja, ich habe in meinen Jahresbericht hineingeschrieben: Architektur. Ich wollte eigentlich Philosophie studieren und Kunst, das wäre ein Doppelstudium gewesen, und das ist nicht gegangen, denn diese Kombination war nirgends vorgesehen. Also musste ich auf der Uni zwei Fächer belegen. Das ist heute absurd, aber ich musste auf der Uni zwei Fächer belegen. Eines, das mich interessiert hat, und eines, das mich zumindest nicht ganz abgestoßen hat. Gleichzeitig war ich auch noch auf der Akademie der Bildenden Künste. Diese Kombination war völlig undenkbar, und daher ist es auch nicht gegangen. Ich musste mich also entscheiden. Wo sie mich lieber gehabt haben, das war auf der Kunstakademie, denn da hatte ich eine Aufnahmeprüfung machen müssen. Der Prozentsatz derer, die dort nicht hineingekommen ist, war sehr hoch. Diese Chance wollte ich nicht gehen lasse, dass ich da reingekommen bin.

Später im Leben habe ich mir dann die Uni dazugeholt, mehr oder weniger als Wiedergutmachung einer schändlichen Verletzung, die mir das System angetan hat. Das hat sich bis heute durchgezogen, wie man ausgebildet sein muss, damit man in diesem System, das damals in den Siebzigerjahren implantiert wurde, als vollwertiger Mensch gilt. Das ist sehr komisch. Also, dass ich dem nicht entkommen konnte. Niemals. Weil die Flucht ist ja auch nur eine Flucht vor etwas. Sie steht in Beziehung zu dem, wovor man flieht. Ja, und das, glaube ich, habe ich schon immer erkannt, nur konnte ich es nicht immer überwinden. Und seltsamerweise ist es nie weggegangen. Eine Zeit lang konnte ich diesen Ort hier, die Schule, nicht besuchen. Mir war das Gebäude so widerwärtig, dass ich Beklemmungen bekam. Das ist nach ungefähr fünf, sechs Jahren vergangen. Der Ort selber war für mich belastet. Jetzt ist natürlich alles völlig weg, jetzt ist es hier romantisch für mich und lustig und schön.

Als mein Neffe Maximilian gymnasial eingeschult wurde, den ersten Schultag hier hatte, ich glaube das war sogar in der Klasse, in der wir heute gemeinsam waren, da habe ich zu seiner Lehrerin gesagt: „Ich bin auch vor vierzig Jahren in diese Schule eingetreten, und es ist, als ob es gestern gewesen wär.“ Und da hat sie gesagt: „Vor vierzig Jahren war ich noch nicht geboren!“ Da ist mir aufgefallen, wie die Zeit sich verschiebt. Früher war ein Jahr eine Welt, und vor zehn Jahren gab es Menschen hier, die mir erzählten, sie seien erst auf die Welt gekommen, als ich Matura gemacht habe. Das ist alles irgendwie so verschoben, weil ja mein Ich und meine Erinnerungen nicht weg sind, sondern noch immer ganz frisch und ganz da. Der Kalender hat mit einer rasenden Geschwindigkeit die Zettel heruntergezupft und auf einmal werden aus den Jahren fünf und dann zehn und dann zwanzig. Wohin ist die Zeit marschiert?  Sehr komisch, sehr, sehr, sehr komisch.

Ich hätte Sie dann noch gerne noch zu [einem Teil Ihres jetzigen] beruflichen Wirken interviewt. Mein Sohn und ich haben uns eingehend mit Ihren Karikaturen beschäftigt und uns natürlich köstlich amüsiert, glauben Sie uns wird das Lachen im Hals stecken bleiben?

Hoffentlich nicht! Ich nenne sie ja nicht Karikaturen, sondern einfach nur politische oder satirische Zeichnungen. Aber das hat mit meinem Begriff von politischer Karikatur zu tun. Mir gehts weniger darum, das Gesicht eines Herrschers bis zur Kenntlichkeit zu entstellen, sondern darum, eine uns allen bekannte Situation zu beschreiben. Das Lachen ist ja nur ein Lachen über etwas Bekanntes, das Lachen liegt ja sehr nahe bei der Trauerarbeit. Wir lachen über Dinge, die eigentlich gar nicht lustig sind. Ich bin ganz gegen jede Lustigkeit. Je ernster etwas ist, desto genauer kann man es mit den Mitteln der Satire darstellen. Es ist nicht meine Absicht, dass uns das Lachen je vergeht. Denn das Lachen ist nur unsere Methode das Weinen zu überkommen. Eigentlich sind die Sachen tragisch.

Ich bin sehr optimistisch. Geschichte wiederholt sich nicht. Das ist meine Erkenntnis. Früher hat man gesagt, Geschichte wiederholt sich, aber die Geschichte wiederholt sich nicht. Wir müssen Angst haben vor den Dingen, vor denen wir keine Angst haben. Es gibt andere Entwicklungen, die wir vielleicht gar nicht erkennen, in denen wir schon drinnen stecken, über die wir jetzt gar nicht lachen. Das ist das Eine, dass wir das vielleicht gar nicht erkennen können, wo die Gefahren sind. Oder dass wir die falschen Sachen als Gefahr erkennen. Und die andere Erkenntnis, weswegen ich Optimistin geblieben bin, ist die, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Es gibt ja dieses Diktum von Marx, demnach sich Geschichte das erste Mal als Tragödie, und das zweite Mal als Farce ereignet. Das heißt, wir lachen eigentlich über Dinge, die wir schon bewältigt haben.

Also der Rechtspopulismus in Europa kann Sie nicht mehr schrecken?

Nein, davor habe ich keine Angst. Es wird auch wieder vergehen. Das ist irgendwie eine gesellschaftliche Erektion. Trump ist eine unfassbare Klamaukfigur, aber ich glaube nicht, dass er den roten Knopf drücken wird. In den Siebzigerjahren hätte man gesagt, der wird den Atomkrieg entfesseln. Es gibt keinen roten Knopf. Dieser Koffer ist ein James-Bond-Utensil, den gibt es nicht.

Und die Codes für die Atomraketen gibt es auch nicht. Warum kann ich das sagen? Weil es, wenn es diese Mechanismen gäbe, schon passiert wäre. Also, das gibt es nicht, das sind Surrogate, die uns erzählt werden, damit wir das Gefühl haben, es gibt Symbole, die das ausdrücken. Die Macht gibt sich ein Symbol, in Wirklichkeit ist es ganz anders.

Aber mir hat das gut gefallen, dass die Schüler (ich weiß nicht, wie das in der Wasagasse war) gerade eben auf die Straße gegangen sind, um für ihre Zukunft zu demonstrieren. Das habe ich außerordentlich gut gefunden. Ich finde auch wichtig, dass sie erleben, dass es verboten ist. Das klingt paradox. Dass jemand sagt, machts das nicht, ist sogar wichtiger, als dass es alle erlauben, oder es begünstigen, weil eine Demokratie, wenn sie in Gefahr ist, muss immer gegen die Gefahr gerettet werden. Ich hätte plädiert, dass man es ein bisschen mehr verbietet. Dass das sehr viele waren, ist eine starke Hoffnung, weil die Generation davor nicht sehr viel demonstrieren ging, und die sind jetzt gerade regierend. Also die Generation Kurz und Blümel. Deren Ventil sich auszudrücken ist der Machtapparat. Wenn sie aber vorher mehr gegen die Macht ankämpfen hätten müssen, mit Aufstand, oder mit Schulschwänzen, dann wäre es jetzt nicht notwendig, die Macht so auszukosten.  Aber das sind jetzt schon wieder politische Sachen, und um die Frage abschließend zu beantworten, ob uns das Lachen im Hals stecken bleiben wird: Es soll überhaupt nichts im Hals stecken bleiben.

Welchen Rat, welchen Tipp, oder welche Botschaft würden Sie gerne unseren 18jährigen Schulabsolventinnen und -absolventen geben?

Ich habe gar nicht so viele Finger an den Händen wie Ratschläge, die ich geben könnte. Aber ich sage trotzdem: Das Bild mit den Händen ist ganz gut, weil die Finger gehören zu einer Hand. Wir haben zwar zwei Hände, aber nur einen Körper. Die Finger sind nicht nur Finger, sondern es gehört alles zusammen. Eine Sache ist: Alles wird besser, alles wird wieder gut. Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis. Wie schlimm auch immer etwas ist, es wird wieder gut. Die Guten gewinnen. Die Geschichte zeigt das auch: Die Guten gewinnen. Vorher gewinnen die Bösen, aber die Guten gewinnen, und die Guten sind besser als die Bösen. Das ist wichtig.

Die zweite Erkenntnis: Lass dir nichts gefallen, aber wähle deine Mittel klug.

Und das Dritte ist: Alle scheitern, auch du.

„Ich mache es nicht wie Frau Aschbacher“

Seit 20 Jahren beantwortet Autorin und Zeichnerin Andrea Maria Dusl im Falter als Frau Andrea knifflige Leserfragen -ein Gespräch über Besserwisserei, die Grenzen der Suchmaschinen und fluchende Wiener.

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Interview: BIRGIT WITTSTOCK, Stadtleben, FALTER 04/21 vom 27.01.2021.

Liebe Frau Andrea!“, so begann die erste Kolumne, „Ich hasse Abkürzungen: CIA, FBI, KGB, UdSSR, DDR und jetzt Willi Resetarits mit FUT. Was soll ich nur machen?“, fragte eine Doris König aus Wien-Ottakring. „Liebe Doris, ich fürchte, wir können da wenig machen, wir müssen da durch“, waren die Worte, mit denen Andrea Maria Dusl ihre Briefkastentantenkolumne „Fragen Sie Frau Andrea“ am 24. Jänner 2001 startete.

Die Frage bezog sich auf einen Telekom-Werbespot der damals gerade im Fernsehen lief und in dem Willi Resetarits einen angeblichen Leserbrief rezitiert. Der vermeintliche Verfasser, Kurt M., beschwerte sich darin über Abkürzungen und zählte F.U.T. auf. Die Frage, wofür F.U.T. stehe, führte zu wildesten medienpolitischen Spekulationen. Frau Andrea meinte, Gerüchten zufolge habe Resetarits mit FUT nichts anderes gemeint als „Ferdammt und Tsugenäht“.

Zu jener Zeit war „googeln“ in Österreich weder eine verbreitete Tätigkeit noch ein bekannter Begriff, SMS-Akronyme stiegen gerade zur neuen Geheimsprache für digital Eingeweihte auf, und eine unüberschaubare Menge an Informationen schwappte in die Wohnzimmer jener glücklichen 2,65 Millionen Österreicher, die bereits online waren.

Das war der Moment, den Andrea Maria Dusl gewählt hatte, um als Frau Andrea von Falter-Lesern eingesandte Fragen zu beantworten. Ganz oldschool, einmal wöchentlich auf Papier gedruckt.

20 Jahre ohne Pause und an die 1000 Auskünfte später schicken ihr die Leute immer noch allwöchentlich Fragen, die sie umtreiben und auf die sie keine Erklärung finden. Das Navigieren im Informationsdickicht der Moderne hat sich doch nicht als ganz so einfach erwiesen. Nur Frau Andrea schifft gekonnt hindurch.

Falter: Liebe Frau Andrea, ein schneller Live-Check: WMDS?

Andrea Maria Dusl: WMDS? Keine Ahnung! Frau Andrea würde WMDS erst einmal in Google eintippen und etwa 30 Antworten zu der Abkürzung bekommen. Dann schaue ich je nach Erkenntnis auf die deutsche oder englischsprachige Wikipedia und könnte von dort weiterarbeiten. Es ist sehr bezeichnend, dass ich die Abkürzung jetzt nicht kenne, denn ich habe von vielen Dingen keine Ahnung. Manchmal habe ich eine Idee, manchmal einen Verdacht, eine hermeneutische Disposition und dann hangle ich mich durch verschiedene Quellen. Was heißt WMDS?

Falter: WMDS bedeutet auf Internetisch „Was machst du denn so?“- eine kleine Referenz an Ihre erste „Fragen Sie Frau Andrea“-Kolumne, die sich um Akronyme drehte. Sie waren damals Zeichnerin, Kolumnistin und Autorin des Falter, wie wurden Sie auch zu dessen allwissender Müllhalde?

Dusl: Der Einzige, der bislang den Ausdruck „allwissende Müllhalde“ gebraucht hat, ist Robert Palfrader. Der Begriff bezieht sich ja offenbar auf eine Figur aus einer Puppenserie … Wie hieß die nur? War das die „Sesamstraße“?

Falter: „Die Fraggles“.

Dusl: Von Jim Henson, der auch die „Muppet Show“ gemacht hat, oder? Wenn ich etwas nicht weiß, frage ich immer meine Experten und Expertinnen und in diesem Fall sind nun Sie meine Spezialistin gewesen. Zurück zur Frage: Ich hatte jahrelang an selber Stelle im Falter andere Kolumnen, etwa meine Befindlichkeitskolumne „Comandantina Dusilova“, und dann – fast auf den Tag genau vor 20 Jahren -habe ich mir überlegt, dass es Zeit wäre, eine satirische Briefkastentantenkolumne zu ma chen. Ihr Name sollte das Genre der Briefkastentante aus dem Boulevard und Mädchenmagazinen karikieren und an meinen Namen knüpfen, damit mir die Kolumne niemand fladern konnte. Darum habe ich sie „Frau Andrea“ genannt.

Falter: Die Kolumne hatte anfangs tatsächlich etwas Briefkastentantenhaftes –  da kamen Einsendungen wie „Ich bin so unglücklich. Meine Freundin sieht super aus, will aber nur kuscheln“ oder „Hilfe, ich hasse meinen Chef! Wie kann ich ihn loswerden?“. Haben derartige Fragen mit der Zeit nachgelassen?

Dusl: Die Intention der Kolumne war immer, dass wirkliche Menschen wirkliche Fragen stellen. Aber die Lesenden waren an dieser Stelle ein satirisches Format gewohnt und haben die ersten Wochen nur Blödelfragen gestellt. Dann habe ich ungeblödelt geantwortet und siehe da: Die Fragen wurden besser!

Falter: Es heißt, es gibt keine blöden Fragen, nur blöde Antworten. Bekommt Frau Andrea Fragen, die so deppert sind, dass Sie sie nicht beantworten?

Dusl: Es gibt da ein sehr männliches Phänomen von Schreibern, die elaboriert geblödelte Fragen im Stammtischschmähweltmeisterformat präsentieren. So etwas beantworte ich mittlerweile nicht mehr. Auch auf die Gefahr hin, dass die Schreiber angefressen sind. Wenn sie mehrmals keine Antwort bekamen, haben sie wahrscheinlich woanders hingeschrieben. Vermutlich sind die jetzt alle auf Facebook.

Falter: Zu Beginn Ihrer Kolumne jagte man noch nicht jeden Begriff durch die Suchmaschine. Wurden mit dem Aufstieg von Google die Fragen an Frau Andrea weniger?

Dusl: Nicht, dass ich es bemerkt hätte. Lustigerweise – eher statistischerweise -sinkt die Zahl nicht. Sie liegt wöchentlich zwischen eins und fünf.

Falter: Warum richten die Leute ihre Fragen an Sie, anstatt selbst zu googeln? Was macht Sie zur glaubwürdigen Expertin?

Dusl: Die Leute googeln eh, ich bin nur das letzte Mittel. Ich weiß auch nicht alles, doch ich weiß besser als viele andere, wie ich die Informationen finde. Google führt mich nur zu Quellen, wo schon viele andere gesucht haben. Es ist also kein gutes Instrument, um zu finden, was noch niemand gefunden hat. Das ist das Problem bei vielen Archiven: Du gehst im Kreis. Dann merke ich auch, warum die Leute etwas nicht gefunden haben. Und wenn ich selbst an Fragen scheitere, bleiben die auf der Halde liegen.

Falter: Was sind das für Fragen, die dort herumliegen?

Dusl: Fragen nach Informationen, zu denen es keine Literatur gibt, wie zu aktuellen Phänomenen im öffentlichen Raum. Gesprühte Tags etwa sind sehr persönlich und anonym. Wie also soll ich deren Bedeutung herausfinden? Es gibt zwar Foren, die sich damit beschäftigen, aber wenn es zu speziell ist, scheitere ich selbst dort. Vielleicht kann ich es Jahre später beantworten. Als die ersten Puber-Tags an Wiener Wänden auftauchten, hätte ich nichts anderes antworten können, als „Ich habe auch schon viele Pubers gesehen, aber keine Ahnung, wer das ist“. Auch meine Experten wussten damals nicht mehr. Das ist eigentlich die Kunst der Recherche: zu wissen, wen man fragen kann und welche Quelle belastbar ist.

Falter: Welche Fragen erscheinen dann in der Zeitung?

Dusl: Ich lege jede Frage in meinem Archiv ab, gute beantworte ich sofort. Wenn sich Themen wiederholen, versuche ich zu kuratieren. Kämen ständig Fragen nach Redewendungen, würde „Fragen Sie Frau Andrea“ zu einer Redewendungskolumne verkommen. Viele Fragen habe ich bereits beantwortet. Liegt das länger als sechs, sieben Jahre zurück, gebe ich die Antwort noch einmal, selbstverständlich auf dem neuesten Erkenntnisstand. Das Archiv schläft ja nicht.

Falter: Im Jahr Ihrer Premiere, nach dem 11. September 2001, wurden Sie nach einer angeblichen Teufelssichtung in den Rauchwolken über New York gefragt, ob Osama bin Laden und Satan unter einer Decke stecken. Geht es manchen Fragestellern nur darum, in der Zeitung zu stehen?

Dusl: Das war einmal eine eigene Präsentationsform: mittels Leserbriefen Kommuniqués in die Welt zu blasen, das hat sich mit Social Media fast aufgehört. Davor gab es ja den Beruf des Leserbriefschreibers, das waren Leute, die waren für ihre Leserbriefe bekannt. Peter Mitmasser zum Beispiel. Der hat jede Woche Dutzende Leserbriefe in österreichischen Medien platziert und war somit ein eigener Autor. Aber die genannte Frage an Frau Andrea war natürlich ein Schmäh -was sollte ich darauf antworten? Beantworten lässt sich nur die dahinterliegende Frage: Warum sehen wir Gesichter in Strukturen, wo keine sind? Dieses Phänomen ist als Pareidolie bekannt, es spiegelt den Betrachter wider. Ein bisschen wie bei Rorschach-Bildern.

Falter: Wie lange dauert der Beantwortungsprozess?

Dusl: Ich brauche einen Tag für eine Kolumne: Die Recherche ist das eine – Google, Archive, Literatur, Experten -, die frisst die halbe Zeit. Der Rest ist Schreiben. Die Information muss ja nicht wiedergegeben, sie muss erzählt werden, das heißt, ich muss sie vorher verstehen. Ich mache nicht Copy and Paste wie Frau Aschbacher, sondern sammle die Informationen, versuche sie zu verstehen und mache daraus einen Mini-Essay, der wie ein Witz funktioniert.

Falter: Kann die Verbindung von Information und Schmäh nicht auch gefährlich, weil missverständlich sein?

Dusl: Ein Witz, den alle verstehen, ist nicht gut, sondern seicht. Natürlich ist meine Kolumne kein Witz, aber so strukturiert: Es gibt einen Aufbau, eine Vermutung, wie es weitergehen könnte und eine Schlusspointe. Und es gibt immer eine Schlusspointe, nach der Maxime: Überrasche deine Leserinnen und Leser mit dem, was sie sich insgeheim erwarten.

Falter: Antworten manche Fragesteller dann nochmal auf Frau Andreas Antworten?

Dusl: Manche Mansplainer haben entdeckt, dass sie sich so gut spüren können, und erzählen mir, wo ich mich ihrer Meinung nach geirrt hätte. So auf: „Na ja, ob das wirklich so ist … mal sehen.“ Was soll man darauf antworten?“Danke für den komplexen Debattenbeitrag“, schreibe ich dann, oder wenn ich mich tatsächlich geirrt habe, bedanke ich mich. Die Kolumne funktioniert wie die Wissenschaft: Wenn jemand eine bessere Erklärung hat, freut mich das. Das Wissen, dass Erkenntnisproduktion niemals zu Ende geht, dass sie immer weitergeht, hilft.

Falter: Folgten die Fragen in diesen 20 Jahren gewissen Moden?

Dusl: Im Sinne von Themenkonjunkturen? Es gibt eine tagespolitische, zum Beispiel: In Tirol benutzt irgendein Lokalpolitiker das Wort „Luder“, um jemanden zu diskreditieren. Dann fragen sich viele: Was ist eigentlich ein Luder und woher stammt der Begriff? Das sind Fragen, die Bezug zu aktuellen Ereignissen haben, sie zeigen, was die Menschen gerade politisch oder privat bewegt. Kürzlich wollte jemand wissen, warum man zum Impfen „pieksen“ sagt. Das werde ich bald beantworten.

Falter: Eines Ihrer Spezialgebiete sind Ausdrücke aus dem Wienerischen -woher kommt die Expertise?

Dusl: Ich bin zwar in Wien geboren, meine Eltern und Großeltern sind aber nicht aus Wien. Als Meltingpot-Ergebnis bin ich also zweisprachig aufgewachsen. Dadurch habe ich eine große Liebe zu anderen Sprachen entwickelt. Die Resetarits-Brüder sind auch so ein Beispiel. Der Lukas behauptet, ich sei die Einzige, die das Wienerische so liebt wie er. Er, gebürtiger Burgenlandkroate, aufgewachsen in Floridsdorf und Favoriten, meinte, er musste Wienerisch wie eine Fremdsprache lernen, um hier zu überleben. Das hat mir viel über meine eigene Liebe zum Wienerischen erzählt. Es ist ja sogar für jene, die nur Wienerisch sprechen, eine Fremdsprache, weil so viele Begriffe aus anderen Sprachen und Soziolekten stammen. Ich habe viel von meinem Vater gelernt, der das Wienerische konnte, und ich besitze sehr gute Literatur darüber. Ich nenne das meinen Handapparat, ein ganzes Zimmer voller Bücher. Diese Spezialliteratur findet man halt nicht im Internet.

Falter: Dann wird die folgende Frage sicher ein Leichtes für Sie sein: Warum wird im Deutschen und im Wienerischen im Besonderen so analfixiert geflucht, während etwa im Englischen oder auch in vielen Ländern Südosteuropas Penis, Vulva und Sexualverkehr im Vordergrund stehen?

Dusl: Das ist einfach: Der Fluchende will immer das Verbotene zum Ausdruck bringen, es geht um eine Tabuübertretung. Deshalb geben Flüche einen Hinweis darauf, worüber die jeweilige Gesellschaft sonst nicht spräche. In slawischen und anderen ehemaligen k.u.k. Ländern sind die schärfsten Flüche jene, wo es um Sexualverkehr mit Gott geht. Etwa „jebem ti boga“,“ich ficke deinen Gott“ – ich ficke nämlich nicht nur Gott, sondern deinen Gott! Es geht darum, die schlimmste Verfehlung abzurufen, die man sich vorstellen kann. Jede Gesellschaft hat andere Tabus, die sich auch verändern: Vor 100 Jahren hätte man in Österreich noch „Kruzifix“ oder „Kruzitürken“ geflucht oder „Jesusmaria“. Damit könntest du heute niemals einen Polizisten beleidigen. „Du Scheißgesicht, du blödes“ wäre hingegen strafbar.

Falter: Was war Frau Andreas größter Erfolg?

Dusl: Für mich selbst am lohnendsten … gibt es dieses Wort überhaupt? Kann man lohnend steigern? Kann man mit Sprache überhaupt Sprache erklären? Da stoße ich immer wieder an Grenzen, denn ein Werkzeug kann sich nicht selbst reparieren. Aber zurück zur Frage: Den größten Genuss bereiten mir Fragen, zu denen ich keine Antwort parat habe und keine finde; Fragen, die noch niemand richtig beantwortet hat und die mich nicht loslassen. Da hilft das Internet manchmal auf eine interessante Art und Weise, weil Google ja verbotenerweise die Bibliotheken der Welt eingescannt und auf „Google Bücher“ durchsuchbar gemacht hat. Wenn ich dort etwas finde, einen Zusammenhang herstellen kann, der noch niemandem aufgefallen ist, dann ist das ein großer Genuss.

Falter: Ein Beispiel?

Dusl: Das Gfrastsackl. Das Grfast, also das Gfries, die grimassenhafte Verzerrung eines Gesichtsausdrucks, ist einfach. Aber was ist ein Sackl? Im Deutschen eine Tüte, aber in diesem Zusammenhang? Niemand konnte es erklären. Kommt es aus einer anderen Sprache? Dem Rotwelschen, dem Jiddischen oder Aramäischen? Tatsächlich wurde ich im Deutschen fündig. Ich besitze ein Gesamtverzeichnis der Unterweltsprache für den polizeilichen Gebrauch aus den 1920er-Jahren. Darin kommt „die Zauck“ vor, ein Ausdruck für die Hündin und davon abgeleitet für deren Geschlechtsteil. Heute würde man „Hundsfott“ sagen und wenn man das weiß, macht das Grfastsackl plötzlich Sinn. Dann kommt es von Gfrastzauckl. Übersetzt -ich sag das jetzt nicht gerne -: Du kleines, schiaches Hundsfott. Jedenfalls wusste das vorher niemand, und wenn so eine Zuschreibung gelingt, ist das lohnend. Wenn es zu einfach geht, ist es nicht schön.

Falter: Bildet Sie das Kolumnenschreiben?

Dusl: Nicht im Sinne einer humanistischen Bildung. Der Begriff der Bildung bedeutet mir nichts. Für mich ist Erkenntnis das schönere Erlebnis, sie treibt mich an. Die Anhäufung des Wissens wird durch mein Vergessen dezimiert: Sobald ich eine Kolumne geschrieben habe, habe ich sie schon wieder vergessen -ein unerfreulicher Nebeneffekt der Auslagerung ins Schreiben. Ich schreibe mehr, als andere spazieren gehen – mein Schreiben wird nur durch zeichnen, essen und ein paar andere Dinge unterbrochen. Ich habe schon so viel geschrieben, müsste ich mich an alles erinnern, wäre ich ein Fall für die Psychiatrie.

Falter: Haben Sie eine Lieblingsfrage, die Ihnen aber noch nie gestellt wurde?

Dusl: Alle Fragen, die Sie mir heute gestellt haben! Aber im Ernst, statt der Lieblingsfrage beschäftigt mich mehr die Lieblingsbeantwortung: eine, von der die Leserinnen und Leser glauben, sie wäre völlig frei erfunden. Bei der der Eindruck entsteht, sie sei nur zusammengereimt, „das stimmt sicher nicht, was die Dusl da schreibt“. Dann würden Leser versuchen, mich der Lüge oder des unredlichen Forschens zu überführen, um zu bemerken -oh nein, oh nein -, das stimmt ja alles! Wenn die Erklärung so leichtfüßig und so unglaublich enthüllend ist, wenn sie mehr hält, als sie versprochen hat: Das ist das Beste.


Zur Person

Andrea Maria Dusl wurde 1961 in Wien als Tochter einer Schwedin und eines Grazers geboren. Sie studierte Bühnenbild an der Akademie der bildenden Künste. Später folgte ein Studium der Kulturwissenschaften, sie promovierte in Philosophie. Seit 1996 ist die Filmemacherin, Zeichnerin und Autorin auch ununterbrochene Falter-Schreiberin. Seit 20 Jahren beantwortet sie ohne Pause jede Woche in ihrer Kolumne als Frau Andrea Fragen, auf die Google keine Antwort weiß.

Dietmar Steiner, Laudatio

Dietmar Steiner, von 1993 bis 2016 Direktor des Architekturzentrums Wien, österreichischer Architekturpublizist, Architekturhistoriker und Architekturkritiker ist am 15. Mai 2020 verstorben.

Anlässlich der Verleihung des Goldenen Verdienstzeichens des Landes Wien am 6. Dezember 2017 hielt ich im Wiener Rathaus eine Laudatio auf Dietmar Steiner. „Zahlreiche Persönlichkeiten aus Politik und Kultur waren gekommen, um bei der Feierstunde dabei zu sein“,  berichtete die Rathuaskorrepondenz, „allen voran Bürgermeister Michael Häupl, Vzbgm. Maria Vassilakou, StR Michael Ludwig, EU-Abg. A. D. Hannes Swoboda, Christian Oxonitsch, Heide Schmidt, Rektor Gerald Bast, Angelika Fitz, Direktorin Az W, Fritz Achleitner, Walter Gröbchen uvm.“


Laudatio auf Dietmar Steiner

Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien
Andrea Maria Dusl, 6. 12. 2017

Magnifizenzen und Exzellenzen,
Brüder und Schwestern,
Damen und Herren,
Freundinnen und Freunde!
Lieber Dietmar!

Welches wäre der ideale Ort, jemanden kennenzulernen, der alles über das Ideal weiß, und alles über Orte? Wo und wie würde man sprechen über das Unaussprechliche, über sich selbst? Diese Fragen spiegelten sich in uns, als wir einander trafen, um über Dietmar Steiner zu sprechen. Dietmar Steiner und ich.

Im Versuch den idealen Ort zu bestimmen, trafen wir einander also in einem Hotel. Kein Ort wäre und war idealer als der unideale Unort. Das Hotel. Dietmar Steiner kam aus seiner Wohnung angereist, ich aus meiner. Nicht das Kaffeehaus war unser Treffpunkt, obwohl es Wien war, wo wir uns trafen, nicht sein Büro, nicht mein Atelier. Ein Hotel. Am Fluss. Das Intercont. Das mit dem Luster. Das mit der Legendenbar. Die Absteige für Präsidenten. Der Riegel in der weltkulturerblichen Blickachse.

Im Niemandsland der Hotellobby des Intercont trafen einander Steiner und ich, weil es ein Niemandsland braucht, um alles zu besprechen.

Die Aufgabe war nicht leicht. Die Aufgabe war schwer. Ja unlösbar. Und weil sie schwer war und unlösbar, geriet sie leicht und wurde lösbar. Die Aufgabe war ein Film über Dietmar Steiner. Wir haben einen Film gemacht, Dietmar Steiner und ich, einen Film über Dietmar Steiner. Wer je einen Film gemacht hat, kennt das Dilemma: Man kann nur Filme über sich selbst machen. Also musste ich zu Dietmar Steiner werden. Das sollte gelingen. Aber konnte es gelingen?

„Dietmar Steiner, Laudatio“ weiterlesen

Antworten auf vier Fragen

Fragen und Antworten erscheinen im Abschlussmagazin des Lehrgangs Journalismus der Wiener Bildungsakademie. 

Was gibst du angehenden JournalistInnen mit auf den Weg?

„Auf den Weg geben“ hieße, irgendwo an der Seite stehenzubleiben und in besserwissender Attitüde gute Ratschläge nachzuwerfen. Das ist mir schon deswegen unmöglich, weil ich ja selbst weitergehe. Was wir aber alle tun können, ist aus Erfahrungen produktive Erkenntnis zu gewinnen. Aus eigenen wie aus fremden. Diese Erfahrungen sind allgemein zugänglich. Wir können sie als Texte lesen (und hören). Die Fehler, die wir und andere ständig begehen, sind dabei erkenntnisproduktiv oft wertvoller, als die gelungenen Hervorbringungen.

Was sind die größten Herausforderungen für JournalistInnen derzeit?

Den galoppierenden Zweifeln der Öffentlichkeit an der Unverzichtbarkeit journalistischer Arbeit zu begegnen. Die Fackel der Aufklärung am Leuchten zu halten, und in Zeiten von Lug und Betrug, von Fake und News Wahrhaftigkeit und Besonnenheit walten zu lassen. Das Bewusstsein über Machtverhältnisse zu teilen.

Wie wird Journalismus in 20 Jahren aussehen?

„Anders“, wäre die leichteste Antwort. „Ähnlich wie heute“ die zweitleichteste. „Keine Ahnung“ käme meinen Prognosefähigkeiten am nächsten. Journalismus spiegelt die Machtverhältnisse. Soviel kann gesagt werden.

Ein Wort (!) zur Wiener Medienlandschaft.

Oida.


Mag. art. Dr. phil Andrea Maria Dusl, 55, ist Autorin, Zeichnerin und Filmemacherin. Sie publizierte in fast allen Zeitungen und Magazinen des Landes. Sie lehrt Textkompetenz an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien und schreibt seit vielen Jahren wöchentliche Kolumnen für Falter und Salzburger Nachrichten. 

Fragen und Antworten erscheinen im Abschlussmagazin des Lehrgangs Journalismus der Wiener Bildungsakademie. 
Andrea Maria Dusl, 12. Juni, 2017

Blue Moon ::: 15. Juli 2016 ::: Karlsplatz, Wien

Freitag 15. Juli 2016
20:30 Live-Diskussion mit Andrea Maria Dusl
21:30 Blue Moon

Blue Moon

Spielfilm, 2002
Regie und Buch: Andrea Maria Dusl
Mit: Josef Hader, Viktoria Malektorovych, Detlev Buck

Kino unter Sternen
Open Air
Karlsplatz, Wien
Freier Eintritt

Blue Moon. Dusl. 15.7.2016. Karlsplatz
Kino unter Sternen, Programmheft, Sommer 2016.

 

Blue Moon

Wassermair sucht den Notausgang XIII

Wassermair sucht den Notausgang – comandantina hilft dabei

Gespräch zu Politik und Kultur in Krisenzeiten
Sendetermin: Dienstag, 19. April 2016, 13.00 Uhr
Gast: Andrea Maria Dusl
Die Sendung war per Live-Stream auf dorf TV zu sehen und ist hier abrufbar: https://dorftv.at/video/24673

 

In der dreizehnten Ausgabe der Sendereihe auf dorf TV ist Andrea Maria Dusl zu Gast. Die Comandantina tritt gerne auch als Buchautorin, Kolumnistin, Zeichnerin, Filmemacherin und Kulturwissenschafterin in Erscheinung – und inspiriert damit politische und mentalitätsgeschichtliche Diskurse.

Im Mittelpunkt des Gesprächs stehen u.a. Fragen, wie mit Veränderungswillen den politischen Realitäten am besten entgegentreten, inwieweit identitäre Volkstribune für die satirische Kritik eine Herausforderungs darstellen und warum die Sozialdemokratie noch immer Hoffnung auf Erneuerung verdient.

Andrea Maria Dusl, geb. 1961 in Wien; lebt in Wien und San Francisco; Bühnenbild-Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Wien; Dissertationsstudium der Philosophie an der Universität für Angewandte Kunst in Wien; Magistra Artium; Doktorin der Philosophie; Universitätslektorin an der Angewandten; Spielfilm: „Blue Moon“ (Locarno-Wettbewerb, 2001, Großer Diagonale-Preis); Publikationen: „Die österreichische Oberfläche“ (2007), „Boboville“ (2008), „Channel 8“ (2010), „Ins Hotel konnte ich ihn nicht mitnehmen“ (2012). „So geht Wien!“ (2016). Essays, Kolumnen und Zeichnungen v.a. für Falter, Standard, Salzburger Nachrichten.

http://wassermair.net/media/notausgang_190416/

https://dorftv.at/video/24673

 

Die österreichische Oberfläche ::: Chronisch krank
Interview

Dusl-Oberflaeche-Cover-220.jpgAm 22.11.2007 hat sich Veronika Leiner mit mir im Café Wortner in der Wiedner Hauptstrasse getroffen und mich für den Anzeiger zur „österreichischen Oberfläche“ interviewt.
……………………
Die Filmregisseurin und Essayistin Andrea Maria Dusl untersucht in ihrem kulturphilosophisch – anekdotischen Buch Die österreichische Oberfläche (Residenz Verlag) „das Land, an dem wir alle leiden“.

Sie sind Filmemacherin, Zeichnerin, kommen von der bildenden Kunst her, in der öffentlichen Wahrnehmung sind Sie aber am bekanntesten als Kolumnistin im Falter. Welchen Stellenwert hat das Schreiben für Ihr Arbeiten?

Außer E-Mails und handschriftlichen Notizen, die ich für meine Filme mache, gibt es eigentlich nur das Schreiben an etwas, das schon ein Projekt ist. Ein Drehbuch ist ja eine ganz besondere Art von geschichtenerzählendem Schreiben, das aber in dieser Form natürlich nie publiziert wird. Drehbücher sind Literatur, die nicht gelesen wird, jedenfalls nicht von einem lesenden Publikum. Schreiben ist bei mir eigentlich immer etwas, wo die Öffentlichkeit schon dabei ist. Die Kolumnen, oder wenn ich eine Geschichte für eine Zeitung schreibe, oder wenn ich, was ich jetzt begonnen habe, zwischen Buchdeckel etwas hineinschreibe. In Zeitungen ist beträgt die Verzögerung zwischen Schreiben und Veröffentlichen ja manchmal nur ein Tag, da ist das Schreiben etwas sehr Unmittelbares, etwas sehr Fokussiertes und sehr Präsentes. Und etwas, was ich eigentlich auch ununterbrochen tu, es gibt keinen Tag, an dem ich nicht schreibe, und es wird sozusagen jedes Mal besser, es gibt ein ständiges In-der-Form-sich-Verbessern.

Die Texte für Die österreichische Oberfläche sind teilweise ja aus Kolumnen entstanden.

Das, was da zwischen diesen beiden Deckeln vorliegt, ist zu ungefähr einem Fünftel schon einmal in der einen oder anderen Form irgendwo gestanden, aber es gibt keinen Buchstaben in dem ganzen Buch, den ich nicht umgedreht hätte. Ich habe das nicht nur hineingehängt, so wie es ist, sondern tatsächlich auch umgeschrieben, entweder inhaltlich oder in der Form bearbeitet. Ich habe die Texte weitergeschrieben oder fortgeschrieben. Die anderen vier Fünftel, die sind ganz neu passiert. Aber es sind zum Teil Gedanken, die schon viele Jahre in mir herumspuken, manchmal ein ausführlicherer Gedanke, und manchmal wie Schneeflocken, die ganz einsam an einem Sommernachmittag plötzlich durch die Gegend wehen, und ich hab keine Ahnung, warum jetzt eine Schneeflocke vorbeikommt, und sie ist auch sofort wieder weg, aber ich erinnere mich daran. Und aus diesen verschiedenen Zugängen besteht dieses Buch. Warum ich dieses Generalthema der österreichischen Oberfläche gewählt habe, das hat sich eigentlich daraus ergeben, dass alle diese Geschichten, Erlebnisse, Erzählungen, Essays, manchmal sind es auch fast journalistische Glossen, im weitesten oder im engsten Sinn mit dem Land zu tun haben, an dem wir alle leiden.

Dieses Leiden war der Ausgangspunkt für das Schreiben?

Ich bin hocherkrankt an Österreich, es ist wirklich tragisch, und es ist chronisch, und ich habe mir das, so wie fast alle Österreicherinnen und Österreicher, nicht ausgesucht. Es ist ja absurd, dass diejenigen, wie Asylwerber, die sich Österreich willentlich aussuchen, weil sie das Land so lieben und unbedingt hier sein möchten, von allen anderen, die sich dieses Land nicht ausgesucht haben, abgelehnt werden, obwohl sie – die Fremden – Österreich richtig gern haben. Und alle anderen sind chronisch daran erkrankt.

Gleichzeitig sind die Österreicher aber extrem selbstbezogen, extrem auf ihr kleines Land und was darin passiert, konzentriert.

Ja, und zwar aus einer Not heraus. Denn wo sollten sie sonst hin? Das, was jetzt Österreich ist, dieses kleine, langgestreckte, irrsinnig zerknitterte, unrunde Ding, besteht eigentlich aus Bundesländern, das sind ja die „Nationen“, aus denen Österreich besteht. Ich glaube auch nicht, dass Österreich Schwierigkeiten mit seiner Identität hat, aber ich weiß, dass diese Identität eine sehr mühsam errichtete ist. Darin gibt es keinen Zweifel.

Steirer haben schon seit hunderten Jahren das Gefühl, dass sie Steirer sind, Niederösterreicher und Oberösterreicher sind ja schon per Definition Österreicher, die sind in der Mitte auseinander geschnitten. Salzburg, das ja früher überhaupt nicht zu Österreich gehörte, ist eine sehr überschaubare Entität. Und Kärnten war einmal wichtiger als Österreich überhaupt. Und dann wird es schon ein bisschen seltsam, schon Tirol ist nur mehr die Hälfte von sich selbst, das Burgenland ist zusammengebaut aus Teilen von Westungarn, Vorarlberg war überhaupt nur kleine Grafschaften im Rheintal und auf der einen Seite vom Arlberg. Und so hat sich, sozusagen aus ganz verschiedenen Richtungen kommend, plötzlich etwas ergeben.

Eines wird immer ausgeklammert: Das einzige, was diesen Ländern gemeinsam ist: Sie haben in der einen oder anderen Form immer den Habsburgern gehört. Das ist jetzt an den Rand gedrängt, als Postkartenidylle oder als historische Nettigkeit, die lieben guten Habsburger, die eigentlich immer alles richtig gemacht haben. Aber die stecken in diesem Österreich so tief drinnen, dass Österreich dieser Geschichte auch nie entkommen wird. Der Bundespräsident, eine sehr würdige und republikanische Erscheinung, ist eigentlich nur der Kaiser ohne Krone, alles andere hat er von den Habsburgern übernommen: er sitzt im selben Zimmer in der Hofburg, und die heißt heute nicht Staatsburg oder Österreichburg. Hofburg heisst sie. Und wenn er Staatsgäste empfängt, der Bundespräsdient, dann sitzt er unter dem Bild der Maria Theresia, dort ist die Zeit stehen geblieben. In ihrem Selbstgefühl haben die Bundespräsidenten noch immer etwas Monarchisches, mit Klestil ist gar ein Straßenbahnersohn Kaiser geworden. Eigentlich wurde dieses Amt auch eingeführt, um das Vakuum nicht entstehen zu lassen, dass es niemanden gibt, der würdevoll in der Hofburg sitzt. Aber kein Zweifel: Die Präsidenten Das sind jetzt Kaiser in republikanischer Verkleidung.

Die Habsburger sind als historisches Analysethema in den letzten Jahren aber wenig präsent?

Ich muss da widersprechen, ich glaube, es gibt zwei voneinander scharf abgegrenzte Betrachtungsschulen. Dass über Habsburger und Österreich nicht geschrieben würde, stelle ich nicht fest, die Bücherregale biegen sich vor Habsburgerliteratur. Über jeden nur denkbaren Aspekt der Habsburgerei gibt es ein dickes Buch. Diese Bücher haben immer einen historischen Fokus, manchmal einen folkloristischen, manchmal einen anekdotischen Zugang, aber nie einen republikanischen. Die Habsburgermonarchie wird darin durch das Vergrößerungsglas der historischen Distanz betrachtet, aber dass die Schatten dieser Vergangenheit ununterbrochen um uns herumspuken, das klammern diese Bücher aus.

Gleichzeitig kämpft die republikanische Literatur gegen einen noch viel größeren Dämon, nämlich gegen die Nazi-Barbarei und gegen das, was davor war, den Bürgerkrieg, den Austrofaschismus, den Ständestaat. Diese Bruchlinien, wenn man so will „der permanente Bürgerkrieg“, hat vielleicht mit Kanonen aufgehört, aber er ist in den Parteienlandschaften noch nicht aufgearbeitet. Der Graben des Bürgerkriegs zwischen dem linken und dem konservativen Lager ist nicht zugeschüttet. Es gibt nur das berühmte Bild des Schulterschluss in der Lagerstraße, in der gemeinsamen Ablehnung der Nazi-Zeit sind sie sich einig, aber auch nur deshalb, weil sie beide ins Nazi-Gefängnis gewandert sind. Aber das Land hat es nicht geleistet, die davor liegenden Konflikte gemeinsam aufzuarbeiten. Und diese Polarität kommt direkt aus der Habsburgermonarchie.

Dieser Auseinandersetzung ist aber wahrscheinlich der Nationalsozialismus sozusagen dazwischen gekommen. Eine Auseinandersetzung damit gibt es ja mittlerweile, das hat die Beschäftigung mit den Habsburgern vielleicht auch an den Rand gedrängt?

Diese Lüge, dass Österreich ein Opfer des Nationalsozialismus war! Natürlich war Österreich ein Opfer, aber nicht alle Österreicher waren Opfer, ganz viele Österreicher waren auch Täter, die es sehr gut verstanden haben, sich in die Opferschar einzureihen. Die allgemeine und umfassende Opferrolle ist eine der Lügen, die in diesem Land herumgeistern.

Unserer Generation, die diese Zeit nicht miterlebt hat, wurde ja in der Schule beigebracht, dass 1945 plötzlich die Uhren alle auf 0 gestellt worden sind. Tatsächlich war es aber keine Stunde 0, sondern das Jahr 1946 ist unmittelbar auf das Jahr 1945 gefolgt. Dass das eine große Zäsur war, ist ja unbestritten, aber eine Stunde 0 ist es nur in einem symbolischen Sinn gewesen: Die Häuser waren die gleichen, auch wenn sie zerbombt waren, die Toten waren die gleichen, und die Erinnerung ist die gleiche gewesen, sie ist nur plötzlich anders erzählt und beschrieben worden. Die Leute haben ihre Uniformen ausgezogen und verbrannt, und plötzlich waren sie keine Nazis mehr, sondern normale Leute mit schlechten Anzügen, die von nichts gewusst haben. In einem gewissen Ausmaß hat sich eine Lügenindustrie etabliert, die zum Teil verständlich ist, weil irgendwann ja sozusagen neu begonnen werden musste.

Aber wenn es keine Geschichte gibt, die man erzählen kann, weil sie so grauslich ist, muss man die Geschichte eben, während sie passiert, neu erfinden. Und da hat Österreich, die zweite Republik, begonnen, grandiose Mythen zu schreiben. Einer dieser Mythen ist der Staatsvertrag und die Staatsvertragsverhandlungen, dieser Mythos ist ja mit einem großen nationalen, österreichischen Heiligenschein angestrahlt, was da alles an großartigen Taten vollbracht wurde! Und die Protagonisten dieser Großartigkeit sind uns, obwohl wir diese Zeit nicht miterlebt haben, ganz präsent: Figl und Raab und wie sie alle heißen, so viele waren das ja gar nicht. Bruno Kreisky, den wir erst aus den Siebzigerjahren in Erinnerung haben, und der ganz aktiv daran beteiligt war, den Staatvertrag einzufädeln, der wurde nicht in diesen Heiligenschein eingewoben. Nur um ein Beispiel einer prominenten Persönlichkeit zu nennen, die aus dieser mythischen Staatswerdung, aus dieser phönixhaften Wiederaufflatterei aus den Ruinen, herausgefallen ist.

Da wurde aktiv ein Bild geschaffen, in dem sehr viel erfunden oder umgedichtet wurde. Es wurde auch sehr viel darüber geschrieben, wie das gemacht wurde. Ich habe nur ein bisschen nachgeforscht und Geschichten aus diesem Drehbuch herausgeholt. Das sind manchmal sehr skurrile Sachen! Eine Skurrilität, die den Österreichern gar nicht bewusst ist, ist, dass das wichtigste Dokument des Staates, der Staatsvertrag, gar nicht in Österreich liegt, sondern im Aktenspeicher des russischen Außenministeriums in Moskau. Er ist erst einmal außerhalb von Russland gewesen, als er im Belvedere unter einer Vitrine ausgestellt wurde. Im Staatsvertrag sind auch für die österreichischen Verhältnisse sehr typische Dinge zu sehen. Zum Beispiel hat Figl mit salatgrüner Tinte unterschrieben, und diese Tinte ist im Laufe der Zeit schon mehrere Male verblasst und von den russischen Restauratoren nachgemalt worden. Die Unterschrift ist also eigentlich gar nicht mehr auf dem Staatsvertrag drauf, weil diese Tinte keine Dokumententinte ist. Das ist so etwas typisch Österreichisches, finde ich: Auf der symbolischen Ebene werden Akte gesetzt, wie mit grüner Tinte zu unterzeichnen, weil das Land viele grüne Bäume hat und viele Äcker. Wenn der Sommer sehr dick ist, dann sind die schön saftig grün, und da geben wir grüne Tinte in unsere Füllfeder, obwohl die nicht hält. Streng genommen steht Figls Unterschrift schon gar nicht mehr im Staatsvertrag. Was auch ein Licht auf die Brauchbarkeit österreichischer Urkunden wirft.

Das Buch besteht ja aus ganz vielen solchen historischen Bohrungen, mit denen sehr vielen historischen Mythen auf den Grund gegangen wird?

Ich will ja nicht alles verraten, was in dem Buch drinsteht, aber zumindest kann ich verraten, weil es so plakativ ist, woher das Rot der SPÖ kommt. Das ist natürlich ein linkes Rot, das in linken Parteien auf der ganzen Welt verwendet wird, und direkt aus der Französischen Revolution und aus den Bewegungen kommt, die sich davor mit dem Gedanken an die Freiheit beschäftigt haben. Als die damals ein Symbol gesucht haben, sind sie auf die phrygische Mütze gekommen, weil da mitgeschwungen ist, dass die Phrygier sich selbst aus der Sklaverei befreit hatten. Die Mütze selbst ist immer rot dargestellt worden, und ich habe dann nachgeforscht, welche Geschichte die Mütze erzählt und warum sie rot ist: Der Ursprung dieser Mütze ist einfach das Leder von Stierhoden, die phrygische Mütze ist eigentlich eine aufgesetzte Stiersacklederhaut, rot angestrichen. Und wenn am 1. Mai Wien und andere sozialdemokratisch regierte Städte in Österreich rot beflaggt sind, dann ist das eigentlich Stiersackmützenrot, obwohl das niemand weiß.

Diese Bohrung ist schon wichtig, aber bei der Bohrung bin ich immer auf neue Oberflächen gestoßen. Oberfläche ist ja, das muss man niemandem erklären, immer das, was zwischen innen und außen ist. Innen ist der Inhalt, beim Punschkrapfen ist das diese braune Masse, die ein bisschen alkoholisiert ist, und die Oberfläche ist dieser rosa Zuckerguss. Wir sind außen und schauen den Punschkrapfen an, und wenn wir den Finger hineinstecken, durch die Oberfläche bohren, kommen wir zwar scheinbar an den Inhalt, aber unser Finger berührt doch auch wieder nur eine neue Oberfläche. Den Inhalt gibt es immer nur in der Phantasie, aber die Oberfläche ist immer das, dem wir begegnen. Es ist unmöglich, den Inhalt außer durch Phantasie oder Projektion oder Nachdenken oder Wunschdenken zu erfassen, weil immer die Oberfläche dazwischen ist. Und jedes Nachbohren fördert neue Oberflächen zu Tage, bis alles zu einer Art Staub geworden ist. Und der Staub ist nur eine wahnsinnig vergrößerte Oberfläche, der nicht einmal mehr in der Phantasie eine Oberfläche hat, weil das Staubkorn ja so klein ist, dass es wahrscheinlich keinen Inhalt mehr hat. Und wenn wir jetzt bei diesem Bild bleiben: Dieser Staub der Geschichte liegt überall ganz dick herum, in vielen Schichten in ganz Österreich.

Ist dieses Oberflächenphänomen etwas genuin Österreichisches?

Ich bin ja eine extrem unösterreichische Landesbewohnerin, weil ich im österreichischen Sinn kaum österreichische Wurzeln habe. Ich habe tschechische, slowenische, schwedische, deutsche und italienische Wurzeln, lauter Wurzeln, die im engsten Sinn nirgendwo in Österreich auffindbar sind, weil ja dieses Land früher ein viel größeres Land war. Mit Österreich haben sie zwar ein Land bezeichnet, in Wirklichkeit war es aber nur ein Etikett für das, was die Habsburger regierten. Die Habsburger haben das Heilige Römische Reich Deutscher Nation von Wien aus regiert. Und Wien ist ja so ein Vielvölkergebilde, ein Drittel der Wiener ist nicht in Wien geboren, und das war eigentlich nie anders. Wien ist ja schon seit Jahrtausenden ein Schmelztopf, ganz lang bevor New York überhaupt zu schmelzen begonnen hat, ist das hier schon perfekt abgelaufen.
Ich glaube schon, dass dieses Oberflächenphänomen ein sehr österreichisches ist. Aus dem Blickwinkel, aus dem ich es betrachte, hat Österreich schon einen sehr starken Fassadencharakter. Ein Beispiel, das nicht im Buch steht: Die österreichischen Häuser sind sehr schmuckvoll, obwohl drunter nur Ziegel sind. In anderen Ländern, zum Beispiel in Holland, ist es kein Problem, Häuser zu bauen, wo man die Ziegel auch sieht, es wäre in Österreich aber ganz streng verboten, ein Haus zu bauen, wo man die Ziegel sieht, außer unfertige Reihenhäuser am Land. Das hat aber, glaube ich, steuerrechtliche Gründe, solange die Fassade nicht drauf ist, ist das Haus nicht fertig, obwohl die Leute wohnen aber schon drin. So gibt es sehr viele Ziegelhäuser, die genau genommen noch gar nicht existieren. Das ist auf einer sehr sachlichen Ebene schon etwas Österreichisches, dieses Über-die-Oberfläche-noch-eine-andere-Oberfläche-legen. So etwas wie das Schnitzel ist zwar nicht in Österreich erfunden worden, aber hier zur Hochblüte gediehen. Ein dünnes Stück Kalbfleisch, das eigentlich ganz gut schmecken würde, so wie es ist, aber nein, man muss noch eine Panier drumherummachen, und die Äpfel in einen Strudel einwickeln, und jeder Wirtshaustisch hat so gern sein kariertes Tischtuch, und früher ist alles mit Tapeten zugepickt worden. Was es in anderen Ländern nicht gibt, ist dieses Selbstverständnis, dass alles dekoriert wird, sogar die Landschaft wird dekoriert, zum Teil künstlich. Außer in schneereichen Wintern, werden ja die Hänge zum Schifahren extra mit Kunstschnee belegt. Das ist ja auch so eine Erfindung, die in Österreich in großer Blüte steht.

Wieviel persönliches Leiden an Österreich steckt in diesen Anekdoten und Betrachtungen?

Ich leide schon sehr darunter! Und ich schau den anderen Patienten dabei zu, wie sie hocherkrankt durch dieses riesige Siechenhaus stolpern. Wie in jedem guten Krankenhaus gibt es ja auch Behandlung. Aber ein gutes Krankenhaus und gute Ärzte schauen immer, weil sie ja davon leben, dass die Patienten nie wirklich geheilt werden. Die Oberärzte und Oberärztinnen des Landes, die die Krankheiten diagnostizieren, sind Teil der Krankheitsgeschichte. Ich will mich da gar nicht freisprechen von der Täterschaft. Indem ich eine Geschichte erzähle, inszeniere ich mich ja auch selber, indem ich eine Anekdote erzähle, mache ich mich selber zum Teil einer literarischen Oberfläche. Die Sprache ist eben auch eine Oberfläche, die Oberfläche der Gedanken, Meinungen, Haltungen, und der Buchstaben, aus denen sich die Wörter zusammensetzen, und der Sätze, die aus den Wörtern kommen. Im Grunde genommen besteht jede Geschichte, die in dem Buch vorkommt, ja nur aus diesem gedruckten Papier, das ist ja auch ein Oberflächenphänomen, die Tiefe des Buches lässt sich nur durch die Untersuchung dieser Oberfläche feststellen.

Das ist jetzt natürlich sehr dahergeschwurbelt, aber dieses Gefühl für den Unterschied zwischen Inhalt und Oberfläche ist uns da schon sehr abhanden gekommen. Weihnachten zum Beispiel ist ein Fest, wo es sehr stark um Verpackung und Oberfläche geht, und um den Reiz, diese Oberflächen erst einmal zu errichten und dann wieder zu enthüllen, und sich durch diese Papierberge und Schleifen und Girlandenwelten durchzukämpfen. Und dann ist eh etwas ganz Banales drin, ein Karton mit einem Bügeleisen, und da ist draußen das Bügeleisen abgebildet, als ob man nicht „Bügeleisen“ draufschreiben könnte. Nein, da ist die Fotografie eines Bügeleisens Fotografie auf der Verpackung abgebildet, weil man sonst nicht glauben würde, dass ein Bügeleisen drin ist. Das ist zwar nichts typisch Österreichisches, aber dies Oberflächenwelt ist permanent da. Und wenn wir fernsehen, oder einen Film sehen, sehen wir nicht die Wirklichkeit, sondern immer nur die Oberfläche von etwas, eine Glasoberfläche oder eine Leinwand. Wir sind schon sehr geübt darin, die Oberfläche für den Inhalt zu halten. Und die Österreicher können das eigentlich noch viel besser.

Ich bin ja halbe Schwedin, und mir ziemlich sicher, dass es keine schwedische Selbsthassliteratur gibt, sehr wohl aber dieses große Genre der österreichischen Selbstgeißelung. Und selbst Figuren wie Thomas Bernhard geißeln ja, indem sie Österreich geißeln, nur sich selber. Er ist nie nach Liechtenstein ausgewandert, oder nach Ungarn, oder an den Comer See, wo es schön ist, und warm, und Palmen stehen. Nein, er hat sich an diesem Österreich festgebissen. Denn selbst wenn wir in Mallorca, oder am Indischen Ozean sitzen, das Österreichische geht ja nicht raus aus uns, das fährt ja immer mit. Inzwischen ist ja sogar Kalifornien schon von einem Österreicher regiert, ob denen ganz klar ist, was sie sich da eingehandelt haben, einen österreichischen Gendarmensohn als König von Kalifornien!?

Die österreichische Literatur ist ja eigentlich eine große Diagnosestation, ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendeine gute Literatur gibt, in der Österreich als Problemfall ausgeklammert wäre. So absurd das klingt, andere beneiden uns auch noch um diese Erkrankungsliteratur. Und die flott dahingeschriebene, und folkloristische Habsburgverklärungs-Literaturmaschine, da gibt es ja auch Entsprechungen in den Krankheiten. Ein manischer Patient hat auch nicht das Gefühl, krank zu sein, er fühlt sich extrem wohl in seiner Manie.

Ist dieses Reiben an Österreich für Sie auch so etwas wie ein künstlerischer Motor?

Ich würde schon gern ohne das auskommen, diese Sehnsucht gibt es schon. Wenn es wieder großen Anlass zur Sorge gibt um dieses Land, dann frage ich meine Mutter, Warum hast du hierher kommen müssen? – Dann sagt sie, Ich habe nicht gewusst, dass es so schlimm ist. Aber es war so schön, und mir haben die Berge so gut gefallen, und alle haben immer erzählt wie toll Österreich ist. -Und dann sag ich: Und mein Vater, der hat dich nicht gewarnt? – Ja, irgendwie hab ich gespürt, irgendwas ist da. – Mein Vater war ein ganz typischer Schmelztiegelösterreicher, einmal ist er nach Schweden geflüchtet für fünf Jahre, und dann hat er wieder zurück müssen, aus Sehnsuchtsgründen.

Ich glaube auch, dass Schwarzenegger irgendwann wiederkommt, sobald das Alter dann ordentlich in seine dann schlaffen Wadeln hineinbeißt. Wenn er die Sonne nicht mehr aushält, dann kommt er sicher wieder. Dort wo er her ist, ist es ja sehr unkalifornisch, dafür aber sehr österreichisch. Sie kommen dann doch alle wieder. Vielleicht ist es ein Magnetismus. Joe Zawinul ist auch wiedergekommen. Besser kann es einem doch gar nicht gehen als Exilösterreicher: weltberühmt zu sein als Jazz-Pianist, dort, wo er sein wollte, wieso hat der unbedingt wieder herkommen müssen? Weil es ihn erwischt hat. Das Österreich. Er hätte genauso gut in Kalifornien sein letztes Stündlein verbringen können, wo die Sonne scheint und wo er ja gelebt hat. Aber ausgerechnet der ein Jazzgigant wie Zawinul muss, wie die Elefanten auf den Elefantenfriedhof, wieder hierher kommen. Und der war, obwohl er ein Weltbürger war, ein echter Wiener, Wienerischer hab ich übrigens noch nie jemand sprechen gehört.

Es gibt auch Österreicher, die sich Österreich willentlich auswählen, so hat George Tabori erzählt, dass er nirgendwo so glücklich gewesen wäre, wie in Österreich. Auch Peymann war nirgendwo so glücklich wie in dem Land, in dem sie ihn als die größte Kulturschande der Welt bezeichnet haben, so eine Leidenschaft hat er nirgendwo bekommen wie diesen Hass der Österreicher auf den Piefke. Das hat ihm so wahnsinnig viel gegeben, dass ich behaupte, es sei schon wieder sehr österreichisch, diese Liebe, gehasst zu werden. Du erkennst die Liebe daran, dass du gehasst wirst.

Der einzige, der mir einfällt, der das Land hochbetagt geflohen ist, war Bruno Kreisky, der hat ja das Alter auf seiner Finca in Mallorca ausgesessen.

Sie analysieren in dem Buch zwar viele österreichische Phänomene, Mythen usw., es wird aber niemals belehrend, es ist kein Standpunkt wirklich ausformuliert.

Weil ich das Pädagogische zutiefst ablehne. Ich hab manchmal Schule geschwänzt, um zu Hause die Bücher zu lesen, die in der Schule vorgetragen worden sind. Das haben mir die Lehrer natürlich nicht geglaubt. Selbstredend bin ich auch oft im Kaffeehaus gesessen, dort haben sich der Religionslehrer und die Physiklehrerin heimlich getroffen, die dann später geheiratet haben. Weder sie, die techtelnden Lehrer, noch wir, die Schülerinnen und Schüler haben einender je verraten. Deshalb kommt das auch im Buch vor, weil ich das sehr österreichisch finde, das heimlich im Kaffehaus sitzen ist ja keine aktive Lüge, sondern eine passive Lüge. Und etwas nicht zu erzählen ist ja eigentlich schon ein literarischer Akt. Und noch keine Lüge im katholischen Sinn, das Verschweigen ist noch nicht die Unwahrheit. Und Diese Gedankengänge sind ja insgesamt sehr österreichisch, mir ist es darum gegangen, diese Denkarten zu sezieren. Einer der Kniffe, warum das Buch nicht belehrend ist, ist, dass ich mich als Opfer wie als Täterin in diesem österreichischen Oberflächenzirkus darstelle. Ich will niemanden belehren, höchstens aufmerksam machen auf etwas, was mir eingefallen ist oder ich entdeckt habe. Das hat etwas sehr Kindliches und dadurch auch wenig Professorales. Ich bin ja sehr neugierig und stelle mir Fragen wie diese:. Warum ist ein kleines Land ein Reich und was ist das überhaupt: ein „Öster“? Dem muss ich nachgehen. Was mich auch nachdenkrasend macht: Wenn die Dinge Bezeichnungen haben, die mir nichts sagen. Was ist eine „Donau“? Oder was ist ein „Inn“. Ich verstehe Worte wie Lichtenfels, Lerchenfeld, Wasserburg. Aber was ist ein „Ybbs“ mit Y und zwei b, irgendetwas stimmt da nicht, das muss ja Gründe haben, das etwas Ybbs heißt oder Steyr. Und es hat Gründe, die muss ich dann ausgraben. Die Dinge haben oft die unglaublichsten Hintergründe, obwohl sie uns ununterbrochen begegnen, und die meisten Hintergründe werden nie öffentlich hinterfragt. Geschweige denn beantwortet.

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Andrea Maria Dusl <http://www.residenzverlag.at/?m=20&o=2&char=D&id_author=400>
Die österreichische Oberfläche
Residenz Verlag
Mit 34 Elektroholzschnitten der Autorin
240 Seiten, Klappenbroschur
EUR 19,90 / sFr 33,80
ISBN: 9783701714865
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Showtime ::: Sie waren nicht da.

AMD-Standard-Chat.jpg

Wie angekündigt das Gedankenprotokoll meines Besuchs im Standard Chat.

Für das Kürzel „(…) „möge man sich eine Frage denken. Aus rechtlichen Gründen, derer Erörterung die Leichtfüssigkeit dieses Blogs erheblich behindern würde, muss ich die Erinnerung an meinen Besuch des Standard Chats vom 14.11.2007 ohne die Fragen der Standard-User (wie die teilweise annonymen Poster dort heissen) anstrengen. Meine Antworten indes kann ich fast wortwörtlich memorieren. Noch ist die Erinnerung rechtsfreier Raum. Nun denn bzw. oisdaun, wie man in Wien sagt.

AMD: Liebe Chatterinnen und Chatter – sorry das ich zu spät bin, dafür bin ich jetzt wirklich da. Ich bin noch ganz außer Atem.
(…)
Der Eindruck täuscht.
(…)
Ich bin selbst nur so wahnsinnig neugierig. Die Recherchewut ist nur ein Nebenprodukt. Außerdem recherchieren im Falter alle, als wären sie nicht ganz bei Trost.
(…)
Zur zweiten Frage: Solange ich Fragen bekomme, die Leser beantwortet wissen möchten, scheint meine Kolumne zumindest nicht ganz sinnlos zu sein. Die meisten Fragesteller beginnen Ihr Mail mit der Einleitung „bei Google wurde ich nicht fündig“.
(…)
Wieviele Stunden meine Arbeitswoche hat? Zu viele!
(…)
Ob am Freitag in Steyr Schnee liegen wird.
(…)
Weil ich am Freitag in Steyr aus meinem Buch lese und mein Wagen keine Winterreifen hat.
(…)
Meine Wohnung ist voll guter alter Bücher. Das Internet ist stellenweise recht zuverlässig. Mit der Zeit habe ich gelernt, Informationen und ihre Glaubwürdigkeit recht gut einschätzen zu können.
(…)
Ein „Diätmenü“ habe ich in einenhalb Jahrzehnten Salzgries weder gegessen noch bestellt. Sie scheinen darüber mehr zu wissen. Also was ist ein Diätmenü, raus mit der Sprache!
(…)
„Ein ungefülltes Nichts ohne Beilage auf keinem Teller“ ? Das kommt mir bekannt vor. Eine Kreation von Perr Heter, dem legendären Salzgrieskellner.
(…)
Bo ist bourgeois und das andere bo ist bohemien. Ein Fachausdruck eines amerikanischen Kolumnisten, der damit Leute wie uns begriffstechnisch festnageln wollte.
(…)
Ich habe keine Winterreifen, weil mein Geldscheisser in Reparatur ist.
(…)
Absolut. Ich habe Versuche zu diesem Thema schon angestellt. Mit Hilfe eines Lochs in der Eiskastentüre. Ergebnis: Das Licht geht nicht immer aus. Warum ich das erforscht habe? Weil ich lang Zeit lauwarme Butter im Eiskasten hatte, neben richtig kühlen Dingen. Die Butter stand immer neben dem Licht. Weil das nicht ausging, hat es die Butter schön warm gehalten. 3 Monate habe ich an diesem Rätsel gekiefelt: Warum die Butter im Eiskasten wärmer wird, statt kühler. Weil sie neben dem Licht stand, dessen Unterbrecher von Butterresten verstopft war.
(…)
Knillehult ist der Bauernhof von meinem Bruder und mir. Ein schwedischer Ausdruck.
(…)
Die Vorlagen für meine Zeichnungen kommen aus den abenteuerlichsten Quellen. Meine Zeichnungen sind aus dutzenden abenteuerlicher Schnitzel zusammengesetzt. Da gibt es keine Regel, außer eine: Es muss alles so aussehen, wie ich es mir ausgedacht habe, bevor ich auf Schnitzelsuche gegangen bin. Ein Fluch!
(…)
Wieso ich auf dem Bild zum Chat mit Digitalkamera zu sehen bin? Weil ich immer zurück schieße.
(…)
Kann ich nicht beantworten. Eigentlich ist jede neue Frage super.
(…)
Gegenfrage zur Gesamtschulprognose: Wird es in 10 Jahren Willi Molterer, Wolfgang Schüssel und Gio Hahn geben?
(…)
Dusl ist Masl ist Schwein ist Glück? Was für mich Pech ist? (Außer mit Sommerreifen hängen zu bleiben?
(…)
Bessere Witze bitte!
(…)
Ja. Ich arbeite gerade an der Vorbereitung meines nächsten Filmes. Ein Thriller, in dem es um die Entführung eines ICE-Speisewagens geht. Ulrich Seidl wird ihn produzieren.
(…)
Stimmt, vor Jahren habe ich mal ironisch gemeint, jemand solle Gusenbauer „Pfeffer in den Arsch“ streuen. Da war er noch nicht Kanzler. Jetzt ist ers. Obs am Pfeffer liegt und wer gestreut hat? Gusi hat ganz von selbst Fahrt aufgenommen.
(…)
Wer den ICE entführt? Anna, eine durchgeknallte Physiklehrerin.
(…)
Ausdenkerin. Oft lüge ich und sage soetwas wie: „Ich bin in der LHLB tätig“.
(…)
Lügen- und Halblügen-Branche.
(…)
Sie hoffen zu Recht. Das Catering im ICE-Bord-Restaurant ist reichhaltig, aber die Stimmung ist bombig.
(…)
Semtex.
(…)
Ich sagte „reichhaltig“, nicht „ordentlich“.
(…)
Fußball-Europameister? Deutschland.
(…)
„Was ist Österreich?“ kann nicht beantwortet werden. Eher schon „Wo ist Österreich?“.
(…)
Der Ösi-Blog der Zeit. Hmm. Sie waren also der Leser!
(…)
Hier das Argument: Aus Seite 111 wird das Rätsel enthüllt, warum der Standard auf standardfarbigen Papier gedruckt wird.
(…)
Herr Sporrer wohnt doch Usbekistan! Wir sehen uns nicht so oft. Oder war es Tadschikistan?
(…)
Ich blogge nur, weil das Internet ein gutes Archiv ist. Mittlerweile wirft das Blog soviel Kohle ab, dass mein Matrose und ich prima davon leben können. Synergien interessieren mich nicht.
(…)
Ob ich das Bild auf die homepage stelle? Klaro. Hier:
(…)
Was hat Eitelkeit mit Distanz zu tun?
(…)
Ob ich immer noch Queen-Fan bin wie damals Im Wasa-Gymnasium? Yep und nicht-yep. Obwohl: Diese alten Sachen von damals sind eigentlich ganz gut gealtert.
(…)
Am Karlsplatz. Da ist Österreich.
(…)
Schwierig zu sagen. Bei Ikea gibt es manchmal richtig gute Küchensachen.


Dann waren wir am Ende. Die Moderatorin bedankte sich bei mir fürs Kommen und bei den UserInnen fürs Mitmachen mit einem einfach gerufenen: „Bis bald!“ Auch ich rief. „Vielen Dank!“ rief ich, „der lieben Moderatorin, der lieben Übersetzerin und Euch Unbekannten!“
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Ganz zu Ende war die Chausse damit nicht. Denn „ganz zu Ende“ gibt es in einem öffentlichen Ventilsystem wie dem Online-Standard nicht. „Ganz zu Ende“ hiesse, die Poster und die sprachliche Wucht ihrer anonymen Erörterungen zu unterschätzen. Es ging also weiter:

Standard-Poster „leib yggdrasilovic“ fand um 19:40 zu diesen harten Minuskeln:
„o gott ! lauter speichelleckerische fragen, als hätte man die chatter im vorhinein nach ihrer weltanschauung zernsuriert. warum stellt niemand dieser frau kritische fragen, etwa, warum sie sich gerne als comandantina bezeichnet wie die kubanischen revolutionäre, die ein totalitäres regime mit gefängnissen installiert haben, in denen dissidenten, aber auch bekennende homosexuelle mißhandelt werden ? insgesamt: ein widerlich angepaßter, politisch überkorrekter chat von links mit links.“

Das liess Standard-Poster „Brillantin brutal“ zwei Minuten später nicht unbeantwortet:

„Abgesehen davon scheine ich der einzige zu sein, der ihre Karrikaturen einfallslos und schlecht umgesetzt findet. Das ist aber Geschmackssache.“
Eine Nacht lang dachte „Degeneration Bumerang“ nach, bevor er Poster „leib yggdrasilovic“ um halbacht Uhr morgens Beton gab: „Erst den Chat verpennen und dann nörgeln, das haben wir gern! Hätten Sie halt ein paar erleuchtende Welteschensamen herabregnen lassen auf die linke Kuschelbobobagage, aber nein, Sie waren nicht da.“

Leise, schreiend, vertrottelt und genial

An einer Akademie muss nichts vermittelt, sondern der Austausch von Ideen in jede Richtung ermöglicht werden, erklärt Andrea Maria Dusl, Filmregisseurin, Cartoonistin und Kolumnistin für die Stadtzeitung „Falter“, im Gespräch mit Anne Katrin Feßler.

Originalfassung des Emailinterviews über mein Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Wien, das am 22.6.2006 im Standard erschien. Das Bild von mir war mal Falter-Cover und ist von Heribert Corn vor der Gartenfassade des Café Rüdigerhof geknipst worden

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Anne Katrin Feßler: Rückblickend auf ihre Ausbildungszeit an der Akademie: Worin bestand die Ausbildung?

AMD: Vier Jahre Bühnenbildstudium. Das waren eine Menge Vorlesungen. Bühnentechnik und Lichtmachen, technisches Zeichnen, Kostümkunde, was weiss ich, was noch alles, Dramaturgie, Kunstgeschichte, ein dicker Katalog an Lehrfächern.
Aber für mich war die Akademie morgens Frühstücken mit Lois Egg, dem Meisterschulleiter, einem feinen, eleganten und weltoffenem Herrn. Er trug feinste italienische und englische Anzüge und konnte unfassbar gut zeichnen. Wen er mochte, den lehrte er, die Welt zu sehen. Nach einem Jahr war ich seine Assistentin und arbeitete am Theater. Am richtigen Theater! Ich baute Modelle, leitete Bauproben, sass mich müde in Proben. An der Akademie entwickelten wir Ideen für Eigenes. Von meinen Kolleginnen und Kollegen Stefan Riedl, Ulf Stengl und Raja Reichmann habe ich Zeichnen und Malen gelernt, von Josef Mikl in vier Jahren täglichen Aktzeichnens das Schauen, in der Bibliothek die Bewunderung für alte Bücher. Dazwischen sassen wir mit den narrischen Malern beim Smutny, tranken Budweiser und assen Gulasch.

Was ist Ihnen gut in Erinnerung geblieben?

Der Geruch des Leinöls aus den Malerklassen. Das Haus am Schillerplatz und sein stiller Zauber. Die vielen, vielen Feste. Das aussergewöhnliche dieses „Studiums“. Lois Eggs Turm. Das Zimmer, in dem Professor Griepenkerl den jungen Adolf Hitler abgelehnt hat. Dort habe ich mir mit einem Stanleymesser fast die Zeigefingerspitze abgeschnitten. Es hat Hölle geblutet.

Vermisst habe ich Sloterdijk. Für Sloterdijks gesprochene Sprache kann ich mich begeistern. Den hätte ich gerne während des Studiums kennengelernt. Den hätte ich zum Smutny geschleppt.

Was soll Ihrer Meinung nach den StudentInnen an der Akademie vermittelt werden?

Vermittelt soll gar nichts werden, ich halte diesen ganzen neoliberalen Vermittlungsquatsch nicht mehr aus. Die Akademie soll den Austausch von Ideen zwischen Professoren und Studenten, Studenten und Studenten und Professoren untereinander ermöglichen. Das ist das Wesen einer Akademie. Seit den griechischen Akademien ist das so. Kunst kann nicht gelernt werden, sondern nur gesucht und gefunden. Die meisten Künstler kommen schon als Künstler auf die Welt, das kann nicht gelehrt werden. Nur ermöglicht. Oder verunmöglicht, wie unter dem Krixikraxizeichner Wolfgang Schüssel, der den Künstlern aus persönlicher Perfidie das soziale Messer angesetzt hat.

Was hat Ihnen persönlich die Ausbildung gebracht?

Alles. Ich habe gelernt, mich zu entschulen, mich selbst zu entdecken.

In künstlerischer Hinsicht oder hinsichtlich der Positionierung am Kunstmarkt ?

Den „Kunstmarkt“ halte ich für eine Perversion. Der Kunstmarkt hat mit Markt zu tun, nicht mit Kunst. So wie eine Schlafzimmerausstellung nichts mit Liebemachen zu tun hat.

Was fehlt in der Ausbildung? Was sollte anders gemacht werden?

Wie das jetzt ist, weiss ich nicht, 1981 fand ich die Akademie sehr gut. Sie war alles: Verstaubt und modern, leise und schreiend, vertrottelt und genial.

Von wann bis wann haben Sie an der Akademie studiert und in welcher Klasse/Professor?

1981 bis 1985. In der Meisterschule für Bühnenbild bei Lois Egg. Diplomiert habe ich mit zwölf riesigen Illustrationen eines fantastischen Bühnenbilds für Goethes Faust. Das war ein Quantensprung für mich. Der Zwängler Wonder, der in meinem Diplomjahr Lois Egg beerbt hatte, hat meinen Faust nicht begriffen, Arnulf Rainer und Josef Mikl schon. Damals gab es noch Diplombegehungen des Kollegiums. Das Kollegium und nicht der zuständige Professor hat die Diplome und den Magistertitel verliehen. Ich glaube, heute ist das alles wie bei den Juristen. Das läuft heute vielleicht sogar vollautomatisch.

Alles ist Input…

Andrea Maria Dusl über social skills wie Erfindungsreichtum und Hartnäckigkeit sowie das Switchen zwischen einzelnen Kunstsprachen. Interview von SABINE PERTHOLD.

Sie haben an der Akademie der bildenden Künste die Meisterklasse für Bühnengestaltung absolviert. Seit etlichen Jahren beliefern Sie die Stadtzeitung FALTER mit gesellschaftskritischen Kolumnen und das Magazin FORMAT mit Zeichnungen und Karikaturen. Wer waren Ihre Lehrer und wie vollzog sich die Abwendung vom groß dimensionierten Bühnenbild hin zur Vorliebe für schrullig-satirische Petitessen?

Mein Lehrer an der Akademie war Lois Egg, ein Gentleman und Künstler wie ich später wenige kennengelernt habe, mit Ausnahme von Michael Haneke vielleicht. Lois Egg hat uns vor allem beigebracht, an uns selbst zu glauben. Im zweiten Jahr an der Akademie war ich dann schon seine Assistentin. Zeichnen habe ich von meinem Vater und meinem Onkel gelernt, beide waren Architekten. Zum Falter bin ich eigentlich zufällig gekommen, die haben einfach angerufen und Illustrationen für einen philosophischen Essay gebraucht. Das war lange, nachdem ich begonnen habe, Filme zu machen. Vom Bühnenbild habe ich mich nach sieben Jahren am Theater eigentlich deshalb entfernt, weil mir das Regieführen, die Arbeit mit Schauspielern und Text viel mehr zugesagt hat. Das war während der Produktion von MEIN KAMPF von George Tabori am Akademietheater. Wenn man so will, war also auch Tabori ein Lehrer von mir. Und Thomas Bernhard. Ohne dass er das wusste. Und während einer sehr sehr langen Zeit bin ich täglich ein paar mal im Kino gesessen, im Filmmuseum, um die Filmgeschichte in mich aufzunehmen, in den anderen Kinos, um das zu sehen, was gerade Mainstream war oder in zerkratzten Kopien für Verrückte wie mich gezeigt wurde.

„Blue Moon, you saw me standing alone
Without a dream in my heart,
Without a love of my own…”

…heißt es in dem berühmten Lied von Julie London, das titelgebend war für Ihren preisgekrönten Erstlingsfilm BLUE MOON, einem modernen Märchen über die Liebe zwischen Ost und West. 12 Jahre haben Sie an diesem Projekt gearbeitet, das ursprünglich in mehreren Folgen á zwei Minuten mit dem Titel „In 80 Tagen um die Welt“ geplant war. Welche Faktoren haben Sie über eine so lange Zeit an die Realisierung des Projektes glauben lassen?

Meine sechs Kurzfilme AROUND THE WORLD IN EIGHTY DAYS waren eine unmittelbare Antwort auf die Weigerung der Färderungen, sich mit meinen Stoffen auseinanderzusetzen. Zu dieser Zeit kämpfte Ulrich Seidl gerade darum, seinen Film GOOD NEWS überhaupt ins Kino zu bringen. Wir hatten damals viel Kontakt und die Hartnäckigkeit, mit der Ulrich gegen den Strom schwamm, hat mich sehr bestärkt. Ich habe ein Konzept entwickelt, Kurzfilme zu finanzieren, zu drehen und im Werbeblock der Kinos unterzubringen. Diese 35mm-Zweiminüter habe ich selbst produziert und mit meinem damaligen Freund, dem Kameramann Peter Zeitlinger realisiert. Unsere virtuelle Firma hieß „Pokorny und Prohaska“. Ohne Firma durfte man beim Monopol-Kopierwerk „Listo“ nämlich keine Kopien ziehen lassen. Teile des Materials hat mir Michael Synek geschenkt und die Figur des Pichler hat Rainer Egger mit mir auf zahlreichen Recherchereisen in den Osten entwickelt. Die „Achtzig Tage“ habe ich auf der DVD von BLUE MOON als Bonus untergebracht, weil sie die genetischen Eltern von BLUE MOON sind. Aus der Idee dieser Kurzfilmserie habe ich dann das Drehbuch für BLUE MOON entwickelt. Die erste Version war Anfang der 90er-Jahre fertig, es hat aber schließlich bis 1998 gedauert, bis der Stoff bei Erich Lackners Produktionsfirma Lotus-Film gelandet ist. In dieser langen Zeit waren es Rainer Egger, Michael Synek und Michael Glawogger, die immer wieder an das Projekt geglaubt haben. (Von mir mal abgesehen!) Die Arbeit am Drehbuch selbst hat nicht länger gedauert, als bei anderen Stoffen. Eher im Gegenteil. Ich bin sehr schnell im Schreiben. Die harte Nuss war, um mit Achternbusch zu sprechen, die Chance zu nutzen, die ich nicht hatte.

Sie sind Multifunktionärin: Neben Schriftstellerin, Kolumnistin (Ihre Bonmots als Comandantina Dusilova unter www.geocities.com/Pentagon/4404/ werden von Havanna bis Moskau zum Frühstück gereicht) und Drehbuchautorin sind Sie auch „Sophistin“; Ihr virtuelles Hangout kann man unter www.digitalien.org/sofa genießen. Woher beziehen Sie den Input für Ihre Geschichten und treffenden Satiren?

Ich bin eigentlich keine Multifunktionärin, weil alles gleichzeitig in mir abläuft. Die Bilder, die Geschichten und die Dialoge. Film ist also das Normale, und das andere die Spezialdisziplinen, in denen ich Teile dessen ablade, was sich ununterbrochen anhäuft. Für den Input brauche ich mich nicht sorgen. Alles ist Input. Eher geht es darum, das Naheliegende, das Banale aus seinem Zusammenhang zu nehmen und wie eine seltene Pflanze zu untersuchen.

Welche Auswirkungen hat die eindeutige Entscheidung für den Beruf der Künstlerin auf Ihr Lebenskonzept, hinsichtlich Arbeitszeit, Verdienstmäglichkeiten und Einklang mit Privatsphäre?

Ich habe kein Lebenskonzept. Eher hat das Leben mich. Ich habe keine Berufsentscheidung getroffen, jedenfalls nicht wissentlich und kenne keinen Unterschied zwischen privat und äffentlich. Das verschmilzt mir immer zu einem Ganzen. Die einzigen Disziplin, die ich mir inzwischen zugelegt habe, ist hin und wieder nein zu sagen, an Tagen, an denen die Kalenderblätter rot sind, nicht an Geld zu denken und dann zu schlafen, wenn ich müde bin. Manchmal läse ich Probleme im Schlaf. Dazu sind Träume nämlich da.

Wie sehen Sie sich als Frau im Kontext des aktuellen ästerreichischen Kunstgeschehens eingebunden, was Auftragslage und Nachfrage betrifft?

Frauen haben es schwer, erstens überhaupt und zweitens in Österreich. Frauen haben es aber andererseits auch wieder leichter, weil sie mehrdimensional denken, horizontale Netzwerke aufbauen statt vertikaler Aufstiegshilfen und das Geld nicht in Autos und Männerspielsachen investieren müssen. Dass das international akklamierte ästerreichische Filmwunder zum großen Teil von Frauen realisiert wird, ist doch fantastisch!

Sie bedienen in den bereits angesprochenen Medien unterschiedliche Bildsprachen mit unterschiedlicher Methodik. Welches ästhetische Konzept verfolgen Sie beim Switchen quer durch die Gattungen und Genres? Welche Aspekte interessieren Sie so sehr, dass sie Sie in Ihrer Arbeit hervorheben und bewusst machen wollen?

Jedes Genre hat seine Gesetze und Grenzen. Ich versuche herauszufinden, was diese Gesetze sind und wo die Grenzen verlaufen. Daraus ergibt sich die Form. Sobald ich das für mich herausgefunden haben, habe ich innerhalb dieser Grenzen alle Freiheiten, eingeschlossen die, die Grenzen auch zu sprengen. Ich bin zweisprachig aufgewachsen, meine Mutter ist Schwedin. Das Denken in zwei Sprachen macht das Switchen zwischen Sprachen, und etwas anderes sind künstlerische Genres ja nicht, mäglicherweise einfacher. Keine Ahnung, das müsste man neurologisch erforschen. Das einzige was ich nicht kann, ist zu sprechen, während ich ein Instrument spiele. Vermutlich, weil bei mir Sprache und Musik im selben Gehirnareal ablaufen. Andere können das.

Sie sagten einmal: Film ist vermutlich die anstrengendste Selbstverwirklichung, die die Menschheit hervorgebracht hat. Wie sieht es mit Ihren filmischen Zukunftsplänen aus?

Ich denke, ich kännte gesagt haben, Film sei möglicherweise die anstrengendste, ganz sicher aber die teuerste Selbstverwirklichung. Ich schreibe gerade das Drehbuch zu meinem nächsten Spielfilm CHANNEL 8 wird sehr spannend werden. Da geht es um die Frage, was passiert, wenn das Leben eines Menschen im Traum eines anderen auftaucht, wenn Traum und Wirklichkeit ineinander laufen. Der Film spielt in Paris und Sankt Petersburg und handelt von einem Fernsehkorrespondenten und einer Malerin, deren Gedankenradios auf der selben Frequenz senden. CRAZY DAY, die Geschichte des Tages, an dem die Amerikaner in Bagdad einmarschierten, musste ich verschieben, weil Recherche in Bagdad momentan lebensgefährlich wäre. Vom Drehen ganz abgesehen. Und dann habe ich noch ein paar andere Stoffe in der Pipeline.


Dr. Sabine Perthold /GF Drehbuchforum Wien, Wien im Mai 2004. Aus den Interviews mit den österreichischen Filmemacherinnen Barbara Albert, Hilde Berger, Andrea Maria Dusl, Barbara Gräftner, Jessica Hausner, Kitty Kino, Käthe Kratz, Gabriele Mathes, Ulrike Schweiger und Amaryllis Sommerer für den Kulturbericht 2003 der Stadt Wien.

Blue Moon. „Man macht es einfach“

Nach zwölf Jahren Vorbereitung kommt „Blue Moon“, der erste Spielfilm von „Falter“-Mitarbeiterin Andrea Maria Dusl, ins Kino. Ein Gespräch über eine Parallelwelt namens Osten, über österreichische und ukrainische Josef Haders, über die Farbe Rot und die Heimeligkeit von Beton. WOLFGANG KRALICEK und KLAUS NÜCHTERN

Originaltext aus Falter 42/02 vom 16.10.2002

cover02_42.jpgDas Spielfilmdebüt von Andrea Maria Dusl beginnt auf hohem Niveau: Eine Frau geht eine lange, steile Stiege hinab – es handelt sich um die wohl berühmteste Stiege der Filmgeschichte. Hier, in der ukrainischen Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer, wurde Sergej Eisensteins Stummfilmklassiker „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925) gedreht. Wie die Frau auf die Stiege gekommen ist, erfährt das Publikum erst neunzig Minuten später – dazwischen liegt „Blue Moon“, ein Roadmovie, das vom Stadtrand Wiens über Bratislava und Kiev bis nach Odessa führt.
Nach einer missglückten kriminellen Transaktion flieht Johnny Pichler (Josef Hader) gemeinsam mit dem Callgirl Shirley (Viktoria Malektorovych) in Richtung Osten. Er verliert die mysteriöse Fremde wieder, fährt ihr nach – und findet im ukrainischen Lviv (dem ehemaligen Lemberg) ihre nicht minder geheimnisvolle Schwester Jana, eine Taxifahrerin. Erst nach zahlreichen Hindernissen und Umwegen endet die Reise, auf der Pichler zwischendurch von dem im wilden Osten gestrandeten Geschäftsmann Ignaz (gespielt vom deutschen Komödienregisseur Detlev Buck) begleitet wird, schließlich am Fuße der Stiege, im Hafen von Odessa.

Mit ihren 41 Jahren ist Andrea Maria Dusl als Filmemacherin eine Spätstarterin. Die Wienerin studierte Bühnenbild an der Akademie am Schillerplatz (Meisterklasse Erich Wonder) und Medizin (abgebrochen) und ist Falter-Lesern seit 1993 als Zeichnerin, Autorin und Kolumnistin („Fragen Sie Frau Andrea“) ein Begriff. Das Spielfilmprojekt hat Dusl seit ungefähr zwölf Jahren im Kopf – die Idee kam ihr knapp nach dem Fall der Berliner Mauer. Uraufgeführt wurde „Blue Moon“ im vergangenen August beim Internationalen Festival von Locarno; es gab zwar keinen Preis, aber gute Presse, Einladungen zu anderen Festivals – und erfolgreiche Verkaufsgespräche: Bereits Ende Oktober startet „Blue Moon“ in den deutschen Kinos; die Schweiz, Holland und Italien folgen nächstes Jahr.

FALTER: Ich habe dir vor über zehn Jahren einmal Geld gegeben und damit einen Kader eines noch nicht existierenden Films von dir gekauft. Kann ich den Kader jetzt haben? Ist „Blue Moon“ endlich der Film, den ich co-finanziert habe?

ANDREA MARIA DUSL: Nein, du hast das Vorläuferprojekt unterstützt: „In achtzig Tagen um die Welt“. Der Plan war, achtzig zweiminütige Kurzspielfilme zu machen, sie mit privaten Sponsoren zu finanzieren und ins Kino zu bringen. Ich habe aber nur die ersten sechs Tage geschafft.

Geht „Blue Moon“ auf dieses Projekt zurück?

In Ansätzen, weil das Thema der Reise in den Osten schon vorhanden war. Allerdings haben sich in den zwölf Jahren, die mittlerweile vergangen sind, die Schauplätze so radikal gewandelt, dass ich das immer wieder umschreiben musste.

Wobei der Film ja keinen dokumentarischen Charakter hat, sondern eher einem Märchen gleicht. In Wirklichkeit wäre Johnny Pichler vermutlich knapp nach der Grenze erschossen worden.

Nein, gar nicht. Ich kann euch versichern, dass alle Geschichten, die in den Film eingeflossen sind, so oder so ähnlich tatsächlich passiert sind!

Was fasziniert dich denn am Osten?

Dass er eine Parallelwelt war. Wir sind ja in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass hinter dem Eisernen Vorhang der so genannte Russe nur darauf wartet, uns in den Weltkommunismus einzugemeinden, was auch längst schon geschehen wäre, wenn es die Amerikaner und das Gleichgewicht des Schreckens nicht gegeben hätte. Aber diese Propaganda habe ich nie geglaubt. Schon als Kind nicht. Man hat immer nur Militär und Paraden gesehen, und ich habe mir gedacht: Da muss es doch auch Menschen geben. Außerdem kommt meine Familie ja ursprünglich aus Tschechien, und die Familiengeschichten waren genau das Gegenteil von böse. Diese Wurzeln wollte ich wieder finden.

Wann bist du denn zum ersten Mal in den Osten gereist?

Mit vier Jahren. Und die Ästhetik der Moderne, die dort viel stärker präsent war, hat einen so starken Eindruck hinterlassen, dass ich mich an Orten wie dem Stadionbad immer sehr wohl gefühlt habe. Alles, was aus Beton ist, hat für mich immer etwas sehr Heimeliges gehabt. Das dürfte aus dieser Zeit stammen. Als ich dann später, zu Beginn meines Studiums, nach Prag gefahren bin, war das auch eine Begegnung mit der Wirklichkeit: Es war schlimm zu sehen, dass der Kommunismus die Menschen nicht nur unfrei gemacht, sondern einfach gebrochen hat.

Aber „Blue Moon“ spielt ja in der Gegenwart. Was hat dich daran interessiert?

Diese Mischwelt aus dem, was der Kommunismus aus der Vergangenheit herausgeschnitzt hat, und dem, was an Neuem aus dem Westen importiert wird.

Wobei der Westen ja eigentlich nicht vorkommt: Man sieht keinen McDonald’s und kein einziges Coca-Cola-Schild.

Das sieht man im normalen Straßenbild auch kaum. Die Abwesenheit von Coca-Cola-Schildern hat aber einen anderen Grund: Aus ästhetischem Kalkül haben wir auf Rot und Gelb verzichtet.

Rot ist doch das Kleid des Püppchens in der Flasche, die Johnny und Jana im Motel finden.

Genau. Und damit das eine größere Wertigkeit bekommt, habe ich alle anderen Rots aus dem Film verbannt.

Gibts nicht einmal rote Ampeln?

Ich glaube, ich habe sogar die roten Ampeln verhindert. Es gibt aber natürlich rote Fahnen.

Und Gelb?

Gelb ist das Taxi von Jana. Und das muss als Signal natürlich auch unverbraucht bleiben.

Wie waren die Drehbedingungen?

Sehr charmant.

War es so, wie man sich das vorstellt – dass man ständig Leute schmieren muss und dauernd mit Mafiosi zu tun hat?

Ganz anders. Das Vorurteil besagt, dass alles voller Mafiosi ist, dass Urteil jedoch lautet, dass alles mit Geschäftsmännern voll ist.

Westlichen?

Östlichen. Die westlichen Geschäftsmänner sind den östlichen untertan.

Und welche davon haben nun die Dreharbeiten ermöglicht?

Es ist so, dass man im Wesentlichen einen großzügigen Vertrag mit einer Sicherheitsfirma abschließt und damit alles paletti ist. Mit irgendeiner Mafia hat man nicht den geringsten Kontakt.

Wer weiß, wem die Sicherheitsfirma gehört?!

Unsere hieß „Titan“. Die Leute hatten sehr hübsche, schwarze Uniformen und blank geputzte, frisch geölte Kalaschnikovs und haben uns extrem gut betreut.

Und du konntest dann überall drehen?

Fast. Ich wollte unbedingt in Dnjepropetrowsk drehen, der Stahlmetropole der Ukraine, in der zweieinhalb Millionen Menschen leben. Die Security-Firma hat allerdings gesagt, dass wir überall sonst, nur nicht in Dnjepropetrowsk drehen können. Dort könnten sie für unsere Sicherheit nicht mehr garantieren, weil die Security-Firma von Dnjepropetrowsk mit den Sicherheitsfirmen der Rest-Ukraine nicht zusammenarbeitet.

Aber in dem Film steigen Johnny und Ignaz ja in Dnjepropetrowsk aus dem Bus?

Sie steigen nicht wirklich in Dnjepropetrowsk aus, die Szene ist in Kiew gedreht. Aber wären sie in Dnjepropetrowsk ausgestiegen, hättest du den Unterschied nicht gemerkt.

Du hast zwölf Jahre an dem Projekt gearbeitet – was hat denn so lange gedauert?

Es hat ja niemand auf dieses Thema gewartet oder gesagt: „Frau Dusl, machen Sie doch endlich einen Film mit uns!“ Wenn ich vor zehn Jahren jemand gefunden hätte, der das auch produzieren wollte, wäre es natürlich wesentlich schneller gegangen.

Du hast ein Bühnenbilddiplom, zeichnest, hast begonnen, Medizin zu studieren … Warst du „eigentlich“ schon immer Filmemacherin?

Ja, genau. Im Ernst. Meinen ersten Film habe ich mit zwölf gemacht – eine Super-8-Dokumentation einer Londonreise mit meiner Mutter. Alle anderen Unternehmungen waren eigentlich Erfüllungsgehilfen meiner Sehnsucht nach dem Kino.

Deine legendären Panoramazeichnungen für das „FORVM“ …

… waren im weitesten Sinne Cinemascopefilme.

Wie soll man sich deine Sehnsucht nach dem Kino vorstellen? Bist du eine Cineastin?

Es hat eine Zeit gegeben, in der bin ich zweimal täglich ins Kino gegangen.

Der Film beginnt ja auch mit einem großen Zitat. Eine Hommage?

Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ wurde genau auf dieser Stiege in Odessa gedreht – allerdings wurden die Stufen in der Zwischenzeit ausgewechselt; bei Eisenstein sind sie sehr abgewetzt. Ich wollte mit dieser Treppe aber kein Zitat bringen, sondern den Ort mit ganz normalen Bildern neu besetzen.

Wie hat denn das Casting funktioniert? Wie wichtig war es, dass Josef Hader und Detlev Buck marktgängige und populäre Namen sind?

Ich war in erster Linie der Geschichte verpflichtet, aber natürlich wird es in Hinblick auf die Finanzierung einfacher, wenn da klingende Namen dabei sind.

Mit anderen Worten: Es wäre komplizierter gewesen, die Hauptrolle nicht mit Hader zu besetzen als einen Star wie Hader für ein Regiedebüt zu kriegen?

Genau. Und nachdem ich in der österreichischen Kinowirklichkeit damals nicht gerade als Star gehandelt wurde, mussten das andere übernehmen.

Hattest du keine Angst, dass sich ein arrivierter Regisseur wie Detlev Buck bei deinem Regiedebüt einmischen wird?

Nein, denn eine Qualität von Regisseuren ist es ja, zu wissen, was sie tun. Und genau das hat der Detlev gewusst: dass er hier eben als Schauspieler engagiert ist. Wenn er gesagt hat, dass er etwas anders machen würde, dann in dem Sinne, dass die einen halt Kaffee und die anderen eben Tee trinken.

Was wurden eigentlich aus den beiden schwulen Dentisten aus Bochum, die von Tex Rubinowitz und Thomas Kussin dargestellt werden hätten sollen?

Die sind im weitesten Sinne der Stringenz der Handlung zum Opfer gefallen. Ursprünglich hätten sich die in einem ungarischen Dampfbad an Johnny Pichler heften und ihn für die Suche nach der Tochter von Marcello Mastroianni missbrauchen sollen, von der sie behauptet hätten, dass sie jetzt Opernsängerin in Dnjepropetrowsk sei.

Jetzt verstehen wir, dass du das lieber nicht verwendet hast. Überhaupt sind wir sehr erleichtert, dass „Blue Moon“ kein Kabarettfilm geworden ist.

Ich weiß wirklich nicht, was das ist! Ich kenne viele Kabarettisten und bin mit manchen befreundet, war aber mein Leben lang nur zwei Mal im Kabarett – einmal mit Wolfgang Kralicek bei Alfred Dorfer und ein anderes Mal mit Willi Resetarits in einem Programm von dessen Bruder Lukas. Ich habe auch den Josef Hader nur in Filmen im Fernsehen gesehen und nicht als Kabarettisten.

Wie macht man eigentlich einen Film, wenn man noch nie einen Film gemacht hat?

Die kurze Antwort lautet: Man macht es einfach. Die lange Antwort lautet: Es geht eh fast von selbst. Filmemachen ist keine solitäre Angelegenheit, und das Team macht das ja nicht zum ersten Mal. Ich habe zwar keine Ausbildung im akademischen Sinne, habe aber sehr viel in minderen Positionen beim Film gearbeitet – habe an der Ausstattung mitgearbeitet, Regieassistenz gemacht, am Drehbuch mitgeschrieben, beim Schnitt assistiert …

Was waren das für Filme?

Am Anfang Filme der Filmakademie, weswegen ich sehr viele Protagonistinnen des österreichischen Filmwunders auch persönlich kenne. Und als ich am Akademietheater bei George Taboris „Mein Kampf“ Bühnenbildassistentin war, habe ich sämtliche Zeit dazu genutzt, Tabori und Ignaz Kirchner über alle Parameter des Schreibens, Inszenierens und Spielens auszufragen. Das hat mir sehr viel gebracht.

Dass Josef Hader der einzige österreichische Darsteller ist, fällt eigentlich angenehm auf. Wie hast du denn die ukrainischen Schauspieler gefunden?

Das sind die Haders und Julia Stembergers der Ukraine und Slowakei! Es gibt keine Nebenrolle, die nicht mit Topleuten besetzt ist. Der Polizist im Gefängnis ist einer der wichtigsten ukrainischen Schauspieler, der LKW-Fahrer ist ein gefeierter Serienheld, und Viktoria Malektorovych ist der absolute Star: Sie musste während der Dreharbeiten ständig Autogramme geben. Auf der Stiege von Odessa waren siebzig Maturaklassen unterwegs – es ist lokaler Brauch, dass die Maturanten ihre Ausgewählte der Klasse da hochtragen müssen. Da war es selbst der Security unmöglich, die Stiege zu räumen. Also habe ich einen simplen, bösen Trick angewandt und mit Megaphonen verkünden lassen, dass jeder, der in dem Film im Bild sein möchte, zehn Dollar zahlen muss: Die Stiege war sofort leer!

Erstlingswerke sind meistens autobiografisch. Was steckt von dir in Johnny Pichler?

Gar nichts. Dieser Johnny Pichler ist wie ein Bruder für mich, den ich dabei beobachte, wie er seine Geschichte erlebt. Ich weiß von dem selbst gar nicht viel. Ich weiß aber sehr viel von der Jana, die ist mir viel näher. Von allen Figuren bin ich dort am meisten drinnen. Der Johnny ist zwar die Hauptfigur, aber sie ist für die Geschichte mindestens genau so wichtig.

Er ist der Fahrer, der durch den Film fährt, die Kamera.

Er hat viele Funktionen, das hat es auch für den Josef so spannend gemacht, diese Rolle, die so minimalistisch angelegt ist, mit seinem Feuer zu entzünden. Es hat mich manchmal geschreckt, wie sehr er mit dieser Rolle verwachsen ist, die ich mir ausgedacht hab!

Was ist dein nächstes Projekt?

Es wird CHANNEL 8 heißen und sich im weitesten Sinne mit Wahrnehmung und in engerem Sinne mit der Geschichte zweier Menschen beschäftigen: ein Fernsehjournalist und eine junge Malerin, die in St. Petersburg und Paris leben und auf eine atemberaubend unglaubliche Art miteinander verbunden sind.

Dauert das jetzt wieder zwölf Jahre?

Nein, das geht schneller. Die Startbedingungen der kleinen Andrea haben sich jetzt ja ein bisschen verbessert.

Wie viel verdient man eigentlich als Filmregisseurin?

Es ist kein Geheimnis: Film ist gut bezahlt und findet selten statt. Also, es gibt Berufe, in denen man sich blöder verdienen kann.

Bleibst du dem „Falter“ erhalten?

Da fährt die Eisenbahn darüber.


Bei der Viennale läuft „Blue Moon“ am 26.10., 11 Uhr, im Metro und am 28.10., 20.30 Uhr, im Gartenbau. Kinostart ist am 8.11.2002

La Luna azul austriaca en Roma

Blue Moon Poster.jpgSerá Blue Moon que inaugure la muestra “Nuevo Cine de Austria”, en Roma del 14 al 17 de octubre. Primer película de la directora vienesa que mezcla de road-movie y comedia romántica por Valeria Chiari.

 

14 octubre 2002

Cineuropa.org


Será la luna azul de Andrea Maria Dusl la que inaugure la muestra cinematográfica “Nuevo Cine de Austria”, en Roma del 14 al 17 de octubre, en la que se presentarán once películas producidas en Austria, ocho de ellas todavía inéditas en Italia.

Primer largometraje de la directora vienesa, Blue moon, se presentó a concurso en el Festival de Locarno de este año, donde obtuvo el mismo éxito que en su país. Mezcla de road-movie y comedia romántica, la película de Dusl combina géneros y varios países por los que el protagonista viaja para seguir los pasos de una mujer que se ha dado a la fuga. Un viaje que empieza en Austria y termina en Odessa, pasando por Eslovaquia.

Inspirada en las numerosas exploraciones que ha hecho la directora en los países del Este tras la caída del muro de Berlín, la película se había concebido originalmente como una serie de cortometrajes, de fotografías breves de esa parte del mundo, abierta después de muchos años de dolorosa clausura. “Fue una experiencia maravillosa explorar un mundo tan distinto y cercano a la vez, profundamente desconocido todavía”, cuenta Dusl, en Roma para presentar su película y promover su distribución en Italia. Blue moon ha terminado por ser un relato acabado que, a través de las acciones de sus personajes, revela las reflexiones de la directora.

Una historia romántica pero también una investigación y un descubrimiento

“Pensaba en una Odisea, en el descubrimiento de un continente y de las relaciones de interdependencia entre el Este y el Oeste. Blue moon puede analizarse en distintos planos, y la historia de amor entre Jana y Johnny es una metáfora de las profundas relaciones entre el Este y el Oeste. Es una historia sobre el deseo y el temor, el valor y la debilidad, lo establecido y el cambio”.

¿Es una historia verdadera?

“No solamente una; hay muchas historias que he recogido durante mis numerosos viajes al Este y que luego he fundido en una sola al escribir el guión. Por ejemplo, la historia del protagonista, obligado por un grupo de maleantes a dar todo su dinero para comprar un ladrillo, en lugar de robarle abiertamente, es verdadera”.

Terminar la película le ha llevado casi doce años…

“Sí, porque al principio había pensado en hacer una serie de cortos que se proyectarían por separado en las salas antes de las películas. Hice seis cortos, de dos minutos cada uno. El proyecto se iba a llamar La vuelta al mundo en ocho días. Mi idea era relatar ocho historias, pero mientras las hacía me di cuenta de que debía cambiar el enfoque que tenía previsto al principio. Y así, poco a poco nació Blue moon, aunque tardé otro tanto en encontrar un productor que tuviera el valor de apoyarla”.

Un road-movie por la Europa del Este no debe de ser precisamente un paseo. ¿Qué problemas tuvo en el rodaje?

“Rodar ya es de por sí tan difícil como nadar en el lodo. A menudo, la realidad de las cosas es distinta de las ideas que una tiene. Dirigir una película es probablemente la forma de realización personal más compleja que se haya inventado. E indudablemente es la más costosa. Teniendo esto en mente, y con la intención de hacer todo más fácil, rodé en secuencia todas las escenas para que los actores pudieran adquirir mayor espontaneidad. Por lo demás, es como un circo; siempre el mismo espectáculo pero nunca en el mismo lugar. Y al final, el espectáculo acaba por ser también siempre distinto”.

Interview with Andrea Maria Dusl

October 14, 2002

An Austrian Moon in Rome

Rome will host the “New Austrian Cinema” review from 14 to 17 October under Andrea Maria Dusl’s Blue moon when 11 Austrian films, eight of which have never been seen before in Italy, will be screened.

Blue Moon is the Viennese director’s first feature film, and it received the same warm reception at this year’s Locarno Festival that it did at home. Falling somewhere between a road movie and a romantic comedy, Dusl’s film mixes genres and the countries visited by the protagonist as he travels from Austria to Odessa in the Ukraine via Slovacchia.

Dusl’s frequent travels through former Eastern Bloc countries (after the Fall of the Berlin Wall) inspired this story. Initially she thought it would be a series of short films, snapshots of a part of the world that has returned to the light after long years of lacerating closure. “It was very positive and enthusiastic for me to explore a world that is so close but so very different. A world that we still know very little about,” said Dusl at today’s presentation of this film in Rome. That is how Blue Moon became a complete story that reflects its director’s point of view through the protagonist’s actions.

This film is both a romantic story and a search and discovery.

„I was thinking about an Odyssey to discover a continent and also about the condition of mutual dependence that exists between the East and the West. Blue Moon can be interpreted on various levels and the love story between Jana and Johnny is a metaphor for the profoudn relations between East and West. This is a story of fear and desire, courage and weakness, status quo and change.“

Is it a true story?

„Not just one, but many true stories that I collected during my numerous foreign trips to Eastern Europe. I mixed them up into a single story during one extenuating writing session. For example, the story of the protagonist being forced by a gang of lowlifes to give them all his money to buy a brick instead of stealing it, really happened.“

It took you almost twelve years to make this film…

„Because I first thought that this would be a series of short films. They were to have been screened in theatres prior to the main film. I made 6 2-minute films and the project was to have been called Around the world in eight days. I wanted to tell eight stories, but as time went by I realised that I had to take a different approach to my earlier plans. That is how Blue Moon came to be made. It took me as much time again to find a producer with the guts to board the project.“

A road movie that crosses Eastern Europe cannot have been easy. What problems did you come across during the production process?

„Making a film is in itself as difficult as swimming through wet cement. Reality is often so very different from the initial idea. Directing a film is probably the most personal form and most complicated form of creativity ever invented by man. And certainly the most expensive.

Having said that, I tried to make it easier on myself by shooting all the scenes sequentially. That enabled the actors to be more spontaneous. As far as everything else is concerned, I can only compare the process to a circus: the same show repeated over and over again but never in the same place. In the end, each show is different from the last.“

Valeria Chiari

Interview avec Andrea Maria Dusl

14 Octobre 2002

Une Lune autrichienne à Rome

C’est la lune bleue d’Andrea Maria Dusl qui ouvre la manifestation cinématographique «Nouveau Cinéma Autriche» à Rome du 14 au 17 octobre, au cours de laquelle seront présentée 11 films produits en Autriche dont huit encore inédits en Italie.

Premier long-métrage de la réalisatrice viennoise, Blue Moon a été présenté en compétition à Locarno cette année en remportant le même succès obtenu en Autriche. Entre le road-movie et la comédie romantique, le film de la Dusl mélange les genres et le paysage que le protagoniste traverse, pour suivre une femme qui s’échappe en cherchant de la retrouver. Un voyage qui débute en Autriche et se termine à Odessa, en Ukraine tout en passant par la Slovaquie.

Inspiré des nombreuses explorations de la cinéaste dans les Pays de l’Est après la chute du mur de Berlin et du rideau de fer, le film était à l’origine conçu comme une série de courts, de brèves photos de cette partie du monde revenu à la lumière après des années de fermeture déchirante. «Une expérience enthousiasmante qu’explorer un monde aussi différent et toutefois si proche et encore profondément méconnu» a révélé Andrea Maria Dusl, à Rome pour accompagner son film et le promouvoir auprès des distributeurs italiens. Blue Moon est devenue une histoire et à travers les actions des personnages, elle dévoile les réflexions personnelles de la réalisatrice.

Une histoire romantique mais aussi une recherche et une découverte de soi?

„Je pensais à un Odyssée, à la redécouverte d’un continent et des rapports d’interdépendance entre l’Est et l’Ouest. Blue Moon peut être compris sur différent niveaux et l’histoire d’amour entre Jana et Johnny est une métaphore des relations profondes entre Ouest et Est. C’est une histoire sur le désir et la peur, le courage et la faiblesse, le status quo et le changement.“

S’agit-il d’une histoire vraie?

„Non seulement ; il y en a plusieurs d’histoires vraies que j’ai recueilli au cours de mes nombreux voyages à l’Est en les réunissant après en une seule au moment de l’écriture. Par exemple l’histoire du protagoniste obligé par un groupe de voyous à donner tout son argent pour acheter une brique, au lieu de la voler, est vraie.“

erminer le film vous a coûté presque 12 ans…

„Oui, parce qu’au début j’avais pensé réaliser une série de courts qui auraient été projetés comme des clips avant le film. J’en ai réalisés six de deux minutes chacun. Le projet se serait appelé Tour du monde en huit jours. L’idée était de raconter huit histoires, mais en cours de route je me suis rendue compte que je devais avoir une autre approche par rapport à celle que j’avais prévu au départ. Et tout doucement Blue Moon a pris forme. J’ai eu besoin de beaucoup de temps aussi pour trouver un producteur assez courageux pour le soutenir.“

Un road-movie à travers l’Europe de l’Est n’a probablement pas été une promenade : quels genre de problèmes avez-vous rencontré sur le tournage?

„Tourner est en soi difficile comme nager dans la boue. La réalité des choses est souvent différente des idées de départ. Diriger un film est probablement la forme de réalisation personnelle plus complexe que l’homme ai jamais inventée. Et sans doute la plus chère.

Ceci dit dans l’espoir de rendre les choses plus faciles j’ai réalisé en séquence toutes les scènes du film pour que les acteurs puissent acquérir plus de spontanéité. Pour le reste tout ressemble à un cirque : toujours le même spectacle mais jamais dans le même endroit. Mais à la fin chaque spectacle finit par être toujours différent.“

Valeria Chiari

Intervista con Andrea Maria Dusl

14 Ottobre 2002

Una Luna austriaca a Roma

E’ la luna blu di Andrea Maria Dusl a inaugurare la rassegna cinematografica “Nuovo Cinema Austria”, a Roma dal 14 al 17 ottobre, nel corso della quale verranno presentate 11 pellicole austriache, di cui otto ancora inedite in Italia.

Primo lungometraggio della regista viennese, Blue moon è stato presentato in competizione al Festival di Locarno di quest’anno riscuotendo lo stesso successo ottenuto in patria. Tra road movie e commedia romantica, il film della Dusl mescola i generi e anche i paesi che il protagonista attraversa per seguire una donna in fuga tentando poi di rintracciarla. Un viaggio che inizia in Austria e si conclude a Odessa, in Ucraina, passando per la Slovacchia.

Ispirato dalle numerose esplorazioni della regista nei paesi dell’Est dopo la caduta del muro di Berlino e della cortina di ferro, il film era originariamente concepito come una serie di corti, brevi fotografie di quella parte di mondo ritornato alla luce dopo anni di lacerante chiusura. “E’ stata un’esperienza entusiasmante esplorare un mondo così diverso e sebbene tanto vicino, ancora profondamente sconosciuto” ha rivelato la Dusl, a Roma per accompagnare il suo film ed eventualmente promuoverlo alla distribuzione italiana. Blue Moon è così diventato un racconto compiuto che, attraverso le azioni dei personaggi, rivela le personali riflessioni della regista.

Una storia romantica ma anche ricerca e scoperta di sé.

“Pensavo a una Odissea, alla riscoperta di un continente e dei rapporti di interdipendenza tra Est e Ovest. Blue moon può essere inteso su vari livelli e la storia d’amore tra Jana e Johnny è una metafora delle relazioni profonde tra Ovest ed Est. E’ una storia sul desiderio e la paura, sul coraggio e la debolezza, lo status quo e il cambiamento”.

Si tratta di una storia vera?

“Non una sola; ce ne sono moltissime di storie vere che ho raccolto nel corso dei miei numerosi viaggi all’Est mescolandole poi in una sola in corso di scrittura. E‘ vera, per esempio, la storia del protagonista obbligato da un gruppo di balordi a dare tutti i suoi soldi per comprare un mattone, anziché derubarlo apertamente”.

Portare a termine il film le ha preso quasi 12 anni…

“Si, perché inizialmente avevo pensato di realizzare una serie di corti, che sarebbero stati proiettati come spot prima del film in sala. Ne ho realizzati 6 di due minuti ciascuno. L’intero progetto si sarebbe chiamato Giro del mondo in otto giorni. L’idea era quella di raccontare 8 storie, ma in corso d’opera mi sono resa conto che dovevo assumere un approccio diverso da quello previsto in principio. E così piano piano è nato Blue Moon, per il quale ho impiegato altrettanto tempo per trovare un produttore abbastanza coraggioso da portarlo avanti”.

Un road-movie attraverso l’Europa dell’Est non deve essere stata proprio una passeggiata: quali problemi ha incontrato durante le riprese?

“Girare è di per sé difficile come nuotare nel fango. La realtà delle cose è spesso diversa dalle idee di partenza. Dirigere un film è probabilmente la forma di realizzazione personale più complessa che l’uomo abbia mai inventato. E indubbiamente la più costosa.

Premesso questo, nel tentativo di rendere le cose più facili ho girato in sequenza tutte le scene in modo che gli attori potessero acquistare maggior spontaneità. Per il resto assomiglia ad un circo: sempre lo stesso spettacolo ma mai nello stesso posto. Ma alla fine anche lo spettacolo finisce per essere sempre diverso”.

Valeria Chiari

Entrevista con Andrea Maria Dusl

14 octubre 2002

La Luna azul austriaca en Roma

Será la luna azul de Andrea Maria Dusl la que inaugure la muestra cinematográfica “Nuevo Cine de Austria”, en Roma del 14 al 17 de octubre, en la que se presentarán once películas producidas en Austria, ocho de ellas todavía inéditas en Italia.

Primer largometraje de la directora vienesa, Blue moon, se presentó a concurso en el Festival de Locarno de este año, donde obtuvo el mismo éxito que en su país. Mezcla de road-movie y comedia romántica, la película de Dusl combina géneros y varios países por los que el protagonista viaja para seguir los pasos de una mujer que se ha dado a la fuga. Un viaje que empieza en Austria y termina en Odessa, pasando por Eslovaquia.

Inspirada en las numerosas exploraciones que ha hecho la directora en los países del Este tras la caída del muro de Berlín, la película se había concebido originalmente como una serie de cortometrajes, de fotografías breves de esa parte del mundo, abierta después de muchos años de dolorosa clausura. “Fue una experiencia maravillosa explorar un mundo tan distinto y cercano a la vez, profundamente desconocido todavía”, cuenta Dusl, en Roma para presentar su película y promover su distribución en Italia. Blue moon ha terminado por ser un relato acabado que, a través de las acciones de sus personajes, revela las reflexiones de la directora.

Una historia romántica pero también una investigación y un descubrimiento

“Pensaba en una Odisea, en el descubrimiento de un continente y de las relaciones de interdependencia entre el Este y el Oeste. Blue moon puede analizarse en distintos planos, y la historia de amor entre Jana y Johnny es una metáfora de las profundas relaciones entre el Este y el Oeste. Es una historia sobre el deseo y el temor, el valor y la debilidad, lo establecido y el cambio”.

¿Es una historia verdadera?

“No solamente una; hay muchas historias que he recogido durante mis numerosos viajes al Este y que luego he fundido en una sola al escribir el guión. Por ejemplo, la historia del protagonista, obligado por un grupo de maleantes a dar todo su dinero para comprar un ladrillo, en lugar de robarle abiertamente, es verdadera”.

Terminar la película le ha llevado casi doce años…

“Sí, porque al principio había pensado en hacer una serie de cortos que se proyectarían por separado en las salas antes de las películas. Hice seis cortos, de dos minutos cada uno. El proyecto se iba a llamar La vuelta al mundo en ocho días. Mi idea era relatar ocho historias, pero mientras las hacía me di cuenta de que debía cambiar el enfoque que tenía previsto al principio. Y así, poco a poco nació Blue moon, aunque tardé otro tanto en encontrar un productor que tuviera el valor de apoyarla”.

Un road-movie por la Europa del Este no debe de ser precisamente un paseo. ¿Qué problemas tuvo en el rodaje?

“Rodar ya es de por sí tan difícil como nadar en el lodo. A menudo, la realidad de las cosas es distinta de las ideas que una tiene. Dirigir una película es probablemente la forma de realización personal más compleja que se haya inventado. E indudablemente es la más costosa. Teniendo esto en mente, y con la intención de hacer todo más fácil, rodé en secuencia todas las escenas para que los actores pudieran adquirir mayor espontaneidad. Por lo demás, es como un circo; siempre el mismo espectáculo pero nunca en el mismo lugar. Y al final, el espectáculo acaba por ser también siempre distinto”.

Valeria Chiari

Blue Moon Interview Skip

Osterweiterung
Erschienen im September 2002 in der Kinozeitschrift SKIP


Ein österreichisches Road-Movie, das in eine ungewohnte Richtung geht. PETER KROBATH und KLAUS HÜBNER erfuhren von Andrea Maria Dusl, warum ihre Prärie im Wilden Osten liegt.

Andrea Fahnenzimmer.jpgSKIP: Wir haben in Blue Moon eine berühmte Location ausgemacht…

Andrea Maria Dusl: Ja, das ist die Stiege im Hafen von Odessa, auf der Sergeij Eisenstein die legendären Szenen für Panzerkreuzer Potemkin drehte. Diese Stiege hat nicht nur filmhistorisch, sondern vor allem auch politisch eine enorme Bedeutung – sie ist ein Symbol des Kommunismus. In Blue Moon wollte ich der Frage nachgehen, was von diesem sogenannten „Reich des Bösen“ heute überhaupt noch übrig ist. So war klar, dass ich auf Eisensteins Stiege nicht verzichten kann.

Bei Eisenstein wirkt die Stiege aber weit imposanter als bei dir…

Eisenstein hat das eben so monumental inszeniert. Ich wollte das nicht. Mir war wichtig zu zeigen, wie diese Stiege heute verwendet wird. Das man auf ihren Stufen sitzen und die Schiffe im Hafen beobachten oder einfach nur rauf und runter gehen kann. Bei mir hat diese Stiege eine andere Bedeutung als bei Eisenstein. Bei ihm war sie ein Symbol für den Ausbruch der Revolution, bei mir ist sie ein Symbol für den Ausbruch von Normalität – wobei die Normalität eine westliche Normalität ist. Denn natürlich hat es in diesen Ländern auch schon vorher eine Normalität gegeben, allerdings war die noch nicht von den Segnungen des Kapitalismus vergiftet.

Blue Moon ist ein Road-Movie, das von der Slowakei bis in den ukrainischen Schwarzmeer-Hafen Odessa führt. Wie ist diese Idee entstanden?

1989, während des Falls des Eisernen Vorhangs, bin ich gleich am ersten Tag, wo das möglich war, in Richtung Osten aufgebrochen. Ich wollte mir das alles anschauen. Plötzlich wurde man als Touristin nicht mehr vom Staat bewacht. Man konnte den Osten entdecken – in all seiner Hässlichkeit und all seiner Schönheit. Ich war begeistert von der Andersartigkeit dieser Welt, das wollte ich unbedingt einfangen und so vielen Menschen wie möglich zeigen. Und die beste Möglichkeit dazu war diesen Film zu drehen.

Zeigen deine Bilder die Realität des Ostens oder ist das doch schon künstlich aufbereitete Kommunismus-Nostalgie?

Natürlich kann ein Film immer nur eine Verdichtung der Realität sein. Aber im wesentlichen schaut es dort wirklich so aus – auch wenn wir unsere Motive sorgfältig ausgesucht haben, um die spezielle Stimmung dieser Länder auf den Punkt zu bringen. Das ist alles Realität, die im Moment dabei ist, zu Geschichte zu werden. Diese Welt stirbt gerade. Solche Bilder wird es nicht mehr lange geben. Irgendwie sind das alles Momentaufnahmen eines todgeweihten Patienten.

Wieso hast du dem Johnny Pichler, der von Josef Hader gespielt wird, so wenig persönlichen Hintergrund gegeben? Wir sehen zwar, wo er hinfährt, aber wo er herkommt, wissen wir nicht.

Ich wollte den Helden meiner Geschichte völlig entwurzeln. Die Geschichte hat das einfach verlangt. Er ist da – und das genügt. Johnny Pichler ist wie ein Cowboy. Da fragt auch keiner, wo war der vorher, was hat der getan, bevor er in die Prärie gekommen ist!
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