In Österreich hält sich hartnäckig das Gerücht vom genialen Strategen Schüssel. Magazine schwärmen von seiner quantencomputerschnellen Auffassungsgabe und seinen raffinierten Tricks bei langstündigen Verhandlungen. Konservative Kommentatoren zeichnen das Bild eines hyperintelligenten, mit allen politischen Wassern gewaschenen Alpha-Tieres, der in Sekundenschnelle zwischen langjähriger Strategie, kurzfristigem Spindrehen und gefinkelten Ablenkungsmanövern tänzelt. Zudem ist Schüssel in den Augen seiner Anbeter ein hochmusischer Zeitgenosse, souverän in der Rede, am Cello gewandt und sicher im Umgang mit dem bitterbösen Karikaturenstift.
Ein jesuitisch gesalbter Tausendsassa, der seinen Macchiavelli, seinen Gracian, seinen Clausewitz aus dem ff.kennt. Dem politischen Gegner, Haschtrafikanten, Sozialromantikern und dem wirtschaftlich unbedarften Proletariat wird zumindest zugestanden, die vielen Talente der Lichtgestalt am ÖVP-Feldherrnhügel wenn schon nicht zu respektieren, so doch zu fürchten.
Die verblüffende Wendung, 2000 als Drittstärkster den Kanzler zu machen und der fulminate Wahlsieg 2002 haben dieses Image vom Goldkanzler mit der eisernen Faust selbst in der Wahrnehmung der vehementesten Gegner verfestigt. Sogar die Donnerstagmarschierer gaben nach Wochen verbittert auf. Ob im Parlament oder auf der Strasse: Gegen Schüssel war kein Kraut gewachsen. Das Bild vom genialen Strategen schien unzerstörbar.
Stimmt es überhaupt?
Im Jahr 2000 wurde zwar regulär gewählt, die Nationalratsperioden waren aber längst aus dem Trittt geraten, weil Schüssel 1995 als frischgekürter Nachfolger von Erhard Busek im Windschatten von günstigen Umfragen einen Knatsch mit Vranitzkys Sozialdemokraten inszenierte. Genial daneben: Leicht dazugewonnen, trotzdem Zweiter geblieben. Bei der Wahl 2000 ging es nun endgültig den Bach runter. Schüssel wurde Dritter hinter dem feixenden Haider. Da hatte Schüssel aber längst Kanzlerblut geleckt.
Der fassungslose Klestil wurde überfahren, der unbedarfte rote Kanzler Klima in harten Verhandlungen gefesselt. Gleichzeitig paktierte Schüssel geheim mit dem gefährlich populären Haider. Über die Geschäftsbedingungen dieses Deals wird die Zeitgeschichte forschen. Jedenfalls blieb Haider in Kärnten und Schüssel kletterte auf den Bundskanzlersessel. In die Ministerien torkelten Witzfiguren.
Der Mythos vom genialen Strategen war geboren. Nächster und einziger Schritt im Strategiepapier Schüssels: Die Hegemonie der Volkspartei für die nächsten 100 Jahre zu sichern. Auf deutsch: ÖVP für immer. Divide et impera.
Divide hiess: Zerschlage Haiders Partei in kleine Teile. Divide hiess: Trenne die Sozialdemokratie von ihren starken Armen. Diskreditiere ihre Wirtschaftskompetenz, vernichte die Gewerkschaft. Impera hiess: Umgib dich mit Deppen und Jasagern, vernichte Deine innerparteilichen Gegner. Kontrolliere das Fernsehen. Kontrolliere die Presse. Basta.
Der erste Schritt des Plans war auf sechs Jahre ausgelegt. Dann sollte nach der Matrix der CSU die ewige Absolute kommen. Ein Sechsjahresplan deswegen, weil Schüssel als Kanzler in die EU-Präsidentschaft gehen musste, um als Europalenker die Ernte einzufahren, sprich: die absolute Mehrheit für die ÖVP.
Dazu musste aber frühzeitig gewählt werden. Darin hatte Schüssel Erfahrung. Ein Richtungs-Streit in der FPÖ kam gerade recht. Ob er billig war, werden die Zeitgeschichteforscher eruieren. Mit dem sympathischen Finanzminister Grasser an Bord fuhr Schüssel 42% ein. Haider war Geschichte, seine Wähler waren zu Schüssel übergelaufen.
Vier Jahre Zeit, die SPÖ zu vernichten. Die Schraube wurde angezogen. Der öffentliche Rundfunk wurde umgefärbt und in die Pflicht genommen, das Nachrichtenwesen auf Hofberichterstattung zurückgefahren. Nach der Folie Bruno Kreiskys wurde Grasser als der bessere Androsch aufgebaut. Fescher, klüger, erfolgreicher, teurer verheiratet. Unwiderstehliche Frisur.
Im Wahljahr sollte es dann passieren. Erst die glanzvolle Inszenierung Schüssels als Europas Chef. Treffen mit den Grossen der Welt. Küsschen mit Merkel, Bussi mit Bush. Dann die Vernichtung des Gegners. Die Bombe, lange vorbereitet und sorgsam im Finanzministerium gehütet, wurde gezündet: Malefikationen der Gewerkschaftsbank, Versagen der Gewerkschaft. Der GAU der Sozialdemokratie.
Alles andere als eine kleine, feine Absolute (©Andreas Khol) schien undenkbar. Für den Fall der Fälle wäre der kleine Mehrheitsbeschaffer BZÖ zur Verfügung gestanden. Oder die Haschtrafikanten von den Grünen. Soweit die Strategie.
Was ist tatsächlich passiert? Bis auf die gewonnene Wahl 2002 (bei der sich bei genauem Hinschauen nur Stimmen von der FPÖ zur ÖVP verschoben) hat die Volkspartei unter der genialen Strategie von Lichtkanzler Schüssel mindestens 19 Wahlen verloren. Verloren hat die ÖVP unter den Fittichen des genialen Strategen die Landeshauptmänner in zwei Bundesländern (Steiermark und Salzburg). Unerwartet den Bundespräsidenten (Der konservative Strassenbahnersohn Thomas Klestil starb an den Spätfolgen von Kränkungen und einer mysteriösen Viruserkrankung, Ersatzkandidatin Benito Ferrero-Waldner ging tränenreich unter). Verloren gingen trotz abenteuerlicher Wahl- und Kontrollmechanismen der ORF und die Hochschülerschaft.
Und schliesslich versagte das Wahlvolk.
Es wählte Alfred Gusenbauer.
Kein Wunder, dass der geniale Stratege und sein Anbetungsverein nicht mehr weiter wissen.
Andrea Maria Dusl für das Ösi-Blog in der ZEIT. Danke an Matthias Cremer (Schüssel von hinten) und Erwin Wurm (Der Einfall des Einfamilienhauses in den Museumsbunker)