Der geniale Taktiker Schüssel

Wolfgang-Amaedeus-Schuessel.jpgIn Österreich hält sich hartnäckig das Gerücht vom genialen Strategen Schüssel. Magazine schwärmen von seiner quantencomputerschnellen Auffassungsgabe und seinen raffinierten Tricks bei langstündigen Verhandlungen. Konservative Kommentatoren zeichnen das Bild eines hyperintelligenten, mit allen politischen Wassern gewaschenen Alpha-Tieres, der in Sekundenschnelle zwischen langjähriger Strategie, kurzfristigem Spindrehen und gefinkelten Ablenkungsmanövern tänzelt. Zudem ist Schüssel in den Augen seiner Anbeter ein hochmusischer Zeitgenosse, souverän in der Rede, am Cello gewandt und sicher im Umgang mit dem bitterbösen Karikaturenstift.

Ein jesuitisch gesalbter Tausendsassa, der seinen Macchiavelli, seinen Gracian, seinen Clausewitz aus dem ff.kennt. Dem politischen Gegner, Haschtrafikanten, Sozialromantikern und dem wirtschaftlich unbedarften Proletariat wird zumindest zugestanden, die vielen Talente der Lichtgestalt am ÖVP-Feldherrnhügel wenn schon nicht zu respektieren, so doch zu fürchten.

Die verblüffende Wendung, 2000 als Drittstärkster den Kanzler zu machen und der fulminate Wahlsieg 2002 haben dieses Image vom Goldkanzler mit der eisernen Faust selbst in der Wahrnehmung der vehementesten Gegner verfestigt. Sogar die Donnerstagmarschierer gaben nach Wochen verbittert auf. Ob im Parlament oder auf der Strasse: Gegen Schüssel war kein Kraut gewachsen. Das Bild vom genialen Strategen schien unzerstörbar.

Stimmt es überhaupt?

Im Jahr 2000 wurde zwar regulär gewählt, die Nationalratsperioden waren aber längst aus dem Trittt geraten, weil Schüssel 1995 als frischgekürter Nachfolger von Erhard Busek im Windschatten von günstigen Umfragen einen Knatsch mit Vranitzkys Sozialdemokraten inszenierte. Genial daneben: Leicht dazugewonnen, trotzdem Zweiter geblieben. Bei der Wahl 2000 ging es nun endgültig den Bach runter. Schüssel wurde Dritter hinter dem feixenden Haider. Da hatte Schüssel aber längst Kanzlerblut geleckt.
Der fassungslose Klestil wurde überfahren, der unbedarfte rote Kanzler Klima in harten Verhandlungen gefesselt. Gleichzeitig paktierte Schüssel geheim mit dem gefährlich populären Haider. Über die Geschäftsbedingungen dieses Deals wird die Zeitgeschichte forschen. Jedenfalls blieb Haider in Kärnten und Schüssel kletterte auf den Bundskanzlersessel. In die Ministerien torkelten Witzfiguren.
Der Mythos vom genialen Strategen war geboren. Nächster und einziger Schritt im Strategiepapier Schüssels: Die Hegemonie der Volkspartei für die nächsten 100 Jahre zu sichern. Auf deutsch: ÖVP für immer. Divide et impera.

Divide hiess: Zerschlage Haiders Partei in kleine Teile. Divide hiess: Trenne die Sozialdemokratie von ihren starken Armen. Diskreditiere ihre Wirtschaftskompetenz, vernichte die Gewerkschaft. Impera hiess: Umgib dich mit Deppen und Jasagern, vernichte Deine innerparteilichen Gegner. Kontrolliere das Fernsehen. Kontrolliere die Presse. Basta.

Der erste Schritt des Plans war auf sechs Jahre ausgelegt. Dann sollte nach der Matrix der CSU die ewige Absolute kommen. Ein Sechsjahresplan deswegen, weil Schüssel als Kanzler in die EU-Präsidentschaft gehen musste, um als Europalenker die Ernte einzufahren, sprich: die absolute Mehrheit für die ÖVP.

Dazu musste aber frühzeitig gewählt werden. Darin hatte Schüssel Erfahrung. Ein Richtungs-Streit in der FPÖ kam gerade recht. Ob er billig war, werden die Zeitgeschichteforscher eruieren. Mit dem sympathischen Finanzminister Grasser an Bord fuhr Schüssel 42% ein. Haider war Geschichte, seine Wähler waren zu Schüssel übergelaufen.

Vier Jahre Zeit, die SPÖ zu vernichten. Die Schraube wurde angezogen. Der öffentliche Rundfunk wurde umgefärbt und in die Pflicht genommen, das Nachrichtenwesen auf Hofberichterstattung zurückgefahren. Nach der Folie Bruno Kreiskys wurde Grasser als der bessere Androsch aufgebaut. Fescher, klüger, erfolgreicher, teurer verheiratet. Unwiderstehliche Frisur.
Im Wahljahr sollte es dann passieren. Erst die glanzvolle Inszenierung Schüssels als Europas Chef. Treffen mit den Grossen der Welt. Küsschen mit Merkel, Bussi mit Bush. Dann die Vernichtung des Gegners. Die Bombe, lange vorbereitet und sorgsam im Finanzministerium gehütet, wurde gezündet: Malefikationen der Gewerkschaftsbank, Versagen der Gewerkschaft. Der GAU der Sozialdemokratie.

Alles andere als eine kleine, feine Absolute (©Andreas Khol) schien undenkbar. Für den Fall der Fälle wäre der kleine Mehrheitsbeschaffer BZÖ zur Verfügung gestanden. Oder die Haschtrafikanten von den Grünen. Soweit die Strategie.

Genialer-Stratege-Schuessel.jpgWas ist tatsächlich passiert? Bis auf die gewonnene Wahl 2002 (bei der sich bei genauem Hinschauen nur Stimmen von der FPÖ zur ÖVP verschoben) hat die Volkspartei unter der genialen Strategie von Lichtkanzler Schüssel mindestens 19 Wahlen verloren. Verloren hat die ÖVP unter den Fittichen des genialen Strategen die Landeshauptmänner in zwei Bundesländern (Steiermark und Salzburg). Unerwartet den Bundespräsidenten (Der konservative Strassenbahnersohn Thomas Klestil starb an den Spätfolgen von Kränkungen und einer mysteriösen Viruserkrankung, Ersatzkandidatin Benito Ferrero-Waldner ging tränenreich unter). Verloren gingen trotz abenteuerlicher Wahl- und Kontrollmechanismen der ORF und die Hochschülerschaft.

Und schliesslich versagte das Wahlvolk.

Es wählte Alfred Gusenbauer.

Kein Wunder, dass der geniale Stratege und sein Anbetungsverein nicht mehr weiter wissen.

Andrea Maria Dusl für das Ösi-Blog in der ZEIT. Danke an Matthias Cremer (Schüssel von hinten) und Erwin Wurm (Der Einfall des Einfamilienhauses in den Museumsbunker)

Meine ersten 125 Jahre Telefon!

Andrea Maria Dusl am 27. 10 2006 in der Beilage RONDO des Standard

Telefonieren ist eine Kulturtechnik. Etwas weniger entspannend als Schaumbaden und nur in Härtefällen so anstrengend wie Spitzentanz. Anders als das Fahren schneller Autos und das Programmieren von DVD-Rekordern liegt es uns in den Genen. Telefonieren können wir. Das ist ganz unseres. Die Fähigkeit, ein Gespräch ohne sichtbares Gegenüber zu führen ist zutiefst menschlich. Von Anbeginn an. Seit wir vom Baum gestiegen sind und mit dem Kiesel in der Hand in den Savannenuntergang geschlendert sind.

Am Abend haben wir uns dann um die Feuer gelegt, gegrillte Antilopen gekaut und gequatscht. Stundenlang. Dabei, so vermuten die Forscher, muss sich bei den frühen Menschen die Fähigkeit entwickelt haben, die Gemütslage des Gesprächspartners bis in die feinsten Verästelungen momentaner Stimmungsschwankungen wahrnehmen zu können. Und zwar selbst in stockdunkler Nacht. Seit damals haben wir ein Faible für Late Night Shows, für die kleine Nachtmusik, Lyrik von den Beatles und fürs Telefonieren.
Telefonzelle.jpgMeine erste Begegnung mit dem Telefon fand im Kindergarten statt. Der Apparat, war rot und aus Plastik und er hatte alles was man so brauchte. Hörer, Wählscheibe, Spiralkabel und einen kleinen weissen Knopf. Telefonieren ging so: Du hobst den Hörer ab, drücktest auf den kleinen weissen Knopf und liessest es dreimal läuten. Läuten bedeutete salbungsvoll und ernst: ”Ring, riiiing, riiiihiiing” zu rufen. Meine Telefonpartnerin sass schon bereit. Mit gespieltem Erstaunen hob Sie den Hörer ihrer kleinen Kommunikationsmaschine ab und meldete: “Hallo, hallo, hier Regina Novak, wer ist am Apparat?” “Hallo, ja, hier Andrea Dusl, gut dass Sie abheben, mir ist das Waschmittel ausgegangen, ob sie wohl noch welches haben?” ”Selbstverständlich, kommen Sie doch in den Kaufmannsladen, wir haben gerade neues Omo bekommen.” “Danke”, “Danke”, Klick. Klick. So ging telefonieren.

Tausendmal geübt, tausendfach geprobt. Gut aber Plastik. Daran, auch ans wirkliche Telefon zu gehen, war nicht zu denken. Gabel, Schere, Messer Licht, sind für kleine Kinder nicht. “Und das Telefon schon gar nicht”, trichtere mein Vater uns Kindern ein. Es war ihm ernst, denn Telefonieren war eine teure Angelegenheit. Telefonieren war Elternsache.

Telefonierende Kinder gab es im wirklichen Leben nicht. Wir durften an Plastiktelefonen im Kindergarten herumspielen. Wirklich Telefone hatten ausser der Horrorvorstellung den Vater mit einem unbeabsichtigten Anruf nach Neuseeland in den Schuldenkotter zu stürzen auch noch ein anderes Manko: Sie waren schlicht zu schwer. Für eine Kinderhand wog ein Bakelithörer wie für Bobos eine Prosciuttokeule. Auf den Boden gefallen, pflegten die schweren Hörer zu zerbrechen wie Weihnachtsgebäck. Hochfloorige Teppiche sollte Östereich erst in den 70erjahren kennenlernen.

Als wir schon etwas älter waren und uns durch den dicken Brei amerikanischer Vorabendserien geschaut hatten und mit dem Leben telefonierender Ami-Teenies vertraut waren, waren zwar die Hörer noch immer aus Bakelit aber unsere Arme und Hände vom Füllfederhalten stark wie Tigerpranken. Jetzt konnten wir die haptische Hürde des Telefonierens überspringen. Nicht aber das Telefonschloss. So ein Telefonschloss war traditionell am Wählscheibenloch der Ziffer 4 montiert. Man konnte also Rettung, Feuerwehr anrufen, die Grünröcke und die Vorwahl von Amerika. Mehr war nicht drinnen. Obwohl. Immer wieder riefen Babies bei uns an. Babies? Kleinkinder, Säuglinge, Babies. Nicht oft, aber immer öfter. Sie konnten zwar nicht sprechen, aber sie konnten uns anrufen. Aber wie machten sie das? Und wieso riefen Babies ausgerechnet bei uns zu Hause an?

Meine Brüder und ich dachten tagelang nach und dann nochmal tagelang und dann klingelte es. War unsere Nummer nicht 332 113? Zusammengesetzt aus Einsen, Zweien und Dreien, eine Nummer, die man auch von einem abgesperrten Telefon anrufen konnte. Mehr noch. Eine der wenigen Nummer, die man nur von einem abgesperrten Telefon anrufen konnte.

Und weil das so war, taten das auch tausende herumkrabbelnder Wiener Babies, die an tausenden abgesperrter und in Babykrabelhöhe herumstehenden Wiener Telefonen an der Wählscheibe drehten. Unter abertausenden ungelenker Drehversuche mit Wählscheiben, auf denen nur die Ziffern 1, 2 und 3 Freigang hatten, war so durchschnittlich zweimal am Tag eines der vielen telefonierenden Babies bei uns an der Strippe. “Gaga” sagten sie und “Gugu” und “Föf”. Diese frühen Talente sind jetzt Regalbetreuer, Biologielehrerinnen, U-Bahnfahrer und Stadträtinnen. Möglich aber auch, dass sich aus diesen Babies das Heer der Telefonistinnen und Telefonisten rekrutiert, die anonym in Telefonierkojen sitzend, mit uns über Handytarife, Softwarehusten und die Kirchensteuer sprechen. Vielen von diesen frühkindlichen Telefonierern habe wir also damals das Kommunizieren beigebracht.

Selbst beigebracht haben wir uns das Klacken. Klacken nannten wir die Technik, mit dem Hörer so auf die Gabel unseres, mit dem Telefonschloss versperrten Telefons zu knallen, dass dabei ein Impuls ausgelöst wurde. Einmal Klacken entsprach dem Wählen der 1, zweimal dem der Ziffer 2. Und so ging das weiter bis 0. Null hiess zehnmal klacken. Für diese Abstraktionsleistung brauchten eine Elfjährige, ein Neunjähriger und ein Vierjähriger gemeinsam drei Tage. Danach konnte wir auch vom versperrten elterlichen Apparat in die ganze Welt telefonieren. Der Schwindel ist nie aufgeflogen.

Öffentliches Telefonieren, auch das wollen wir hier nicht verschweigen, hatte für Kinder immer den Beigeschmack schwerer geruchlicher Demütigung. Öffentliche Telefonzellen rochen ausnahmslos nach Herrentoilette. In strengen Wintern ging es. Aber wer will in strengen Wintern in Herrentoiletten telefonieren?

Eine solche Telefonzelle – ältere waren aus Holz und fahlgelb gestrichen, jüngere aus Metall und schwarz – betrat man nie ohne Telefonschilling. Den Telefonschilling warf man in einen bleiernen Schlitz und wählte. Hob jemand ab, drückte man einen weissen Knopf. Ein Zeiger setzte sich in Bewegung. Der Zeiger ratterte in einem gebogenen Fenster von links nach rechts wie die Tachonadel unseres gemächlich beschleundigeden Familienvolvos. Bei Tempo 140 war der Schilling zu Ende. Gespräch hatten immer etwas hastiges, von der Tachonadel getriebenes. Wer telefonkommunikatorisch auf sich hielt, hatte eine Nadel oder einen dünnen Stahlnagel bei sich. Kaum ein Telefon, das nicht mit einem illegalen, Loch im linken Eck des gläsernen Anzeigefensters versehen war. Zu Beginn des Gesprächs steckte man den Nagel durchs Löchlein und hielt damit den Zeiger auf. Telefonieren ging jetzt stundenlang. Theoretisch. Praktisch stand schon nach zwei Minuten eine Warteschlange vor dem Häuschen. Böses Schauen, Klopfen, Murren und schon war der nächste dran.

All meine frühen romantischen Termine, all die spannenden Rendezvous, Kaffeehausbesuche, Sturmfreibudenparties und Schulstageleien habe ich in diesen nach Bohnerwachs und Sandlerpisse stinkenden Telefonhütten organisiert. Mit klammen Fingern Telefonnummern auf Wände gekritzelt und mir gedacht, es müsste jemand, irgendjemand Telefone erfinden, wie man sie auf der Enterprise verwendet. Diese kleinen Dinger mit den kleinen Antennen, die man in die Tasche steckt und wo man mit ein paar Tastendrücken jeden, aber auch jeden jederzeit und überall anrufen kann. Auf seinem und ihrem kleinen Taschentelefon. So was müssste man erfinden, dachte ich mir. 1971 in der Telefonzelle neben dem Votivkino. Als es gerade klopfte und jemand schrie: ”Zah au, du bist ned alaa.”

Schauermolke in Bobopol

Gestern, auf einer Party im düsteren Teil von Boboville (im Wiener Stadtteil Josefstadt, im Häuserblock zwischen den ehemaligen Hauptquartieren von KGB und CIA). Der Filmregisseur mit der holprigen Biographie und dem schönen Haar hat Geburtstag und kocht. Zwei Dutzend Artischocken, einen riesigen Topf Tintenfisch. Der Hausherr, ein Verlagsleiter, der in seiner Blutjugend Sekretär von Bruno Kreisky war, urlaubt auf Bali. Sturmfreie Bude in den Bobo-Salons.

Ein Prinz ist da, verarmt und kunstsinnig, mit einem tausendjährigen Namen der mit “Hohen” beginnt und mit “Lohe” endet. Ein philosophierender Pater mit einer Brille, wie sie ausser ihm nur der Zirkusdirektor Bernhard Paul trägt, eine Zahnärztin, ein Theologe, ein Französischlehrer, ein Bildersammler. Mein bester Freund, der den Laden hier schmeisst, ist Maler. Vor zehn Jahren hat er die fahle Gründerzeitwohnung in einen Trompe-l’œil-Palast verwandelt, gegen den Neuschwanstein wie ein Bauhausappartement wirkt. Seine ehemalige Mitstudentin, eine Restauratorin mit Hang zu schrillen Retrokostümen, noch eine Malerin, die das Schlichte liebt und mit einem privatisierenden Philosophen liiert ist.

Die Artischocken sind heiss und saftig. Statt Limonenbutter gibt es Olivenöl aus der Toskana. Von einem befreundeten Gutsbesitzer, der nebenbei Millionär ist und sich von Mozartpartitiuren ernährt. Die Tischgespräche oszillieren zwischen Erörterungen über die Kraft des barocken Gesimseprofils, falschen Rembrandts und der Entwurfstechnik von Coop Himmelblau (Kartonreste und Haarföhn). Der Eintopf ist schmackhaft, der Octopode zäh. Der Französischlehrer trägt feinstes englisches Tuch, hat blendende Manieren und sprudelt Anekdoten aus Oberösterreich über den Tisch. Der schwule Chemiker ist laut und melancholisch. Der Architekt redet über seinen Fetisch: Das elegante Automobil. Die Seitenblickemoderatorin ist leise und glücklich, dass das hier privat ist.

Zu Mitternacht wird Schauermolke entkorkt und Sektflöten nass gemacht. Geburtstag hat etwas von Sylvester. Es ist dunkel und zu warm für die Zeit. Die Menschen hier kenne ich seit Jahrzehnten und doch habe ich sie in den letzten sechs Jahren kaum gesehen. Plötzlich sind sie wieder da, wie die Überlebenden einer Flut. Die Seitenblickemoderatorin fragt mich leise und mit einem feurigen Blitzen in den Augen: “Und wie hast Du die dunkelschwarze Zeit überlebt?”

Für das Ösi-Blog in der ZEIT.

Volkskanzler vs. “Wer wenn nicht Er”

Gusi-Wolfi.jpgAn Alfred Gusenbauer, dem König von Ybbs und Gewinner der Wahl wird sich der Altbundeskanzler in den anstehenden Koalitionsverhandlungen noch die Zähne ausbeissen. Gusi, wie ihn sogar seine Lebensgefährtin nennt, ist in einer win-win-Situation. Als gewiefter Schnapser ist er dem gfeanzten Schüssel verhandlungstechnisch ebenbürtig. Aus Koalitionsverhandlungen wird er besser aussteigen, als sein Vorgänger Viktor Klima, Schüssels letzter ernstzunehmender Verhandlungspartner. Und der war kein Kartenspieler, sondern Kammbläser.

Nun zum zweiten win. Schüssel hat mit der Option auf eine Koalition mit den Haiderparteien nur scheinbar gute Karten. Wiederholt er seinen Trick von 2000 und verhandelt ernsthaft mit den rechten Rabauken, zerreisst es die ÖVP. Die Messer der Aspiranten auf den ÖVP-Chef-Sessel sind schon gewetzt.

Auch wenn es dazu käme, die Koalition aus dezimiertem Kanzler und den beiden Ausländerfeinden wäre stabil wie ein Kartenhaus. Abblendlichtgestalten wie Grasser hat Schüssel diesmal keine. Eine Neuwahl nach Zerbrechen einer rechts-rechtsrechten Koalition aus Knallchargen und Volksdeppen würde die ÖVP marginalisieren. Das wissen die Länderfürsten der Volkspartei. Das ahnt die Entourage.
Aus Neuwahlen nach diesem Szenario würde Gusenbauer, der sich jetzt schon geschickt als Volkskanzler gibt, gestärkt hervorgehen. Auch die Grünen würden profitieren. Das BZÖ würde den Einzug nicht mehr schaffen.

Schüssel ist am Arsch, wie die Deutschen sagen würden. Und das ist gut so.

Für das Ösi-Blog in der ZEIT.

Boboine geht wählen

Wahl-im-Turnsaal.jpgWien, Leopoldstadt, Leopoldsgasse, Volksschule der Stadt Wien, gegenüber dem Geburtshaus von Otto Bauer. Sozialdemokratischer kann man als Boboine nicht wählen gehen. Mein Wahllokal befindet sich seit Menschengedenken, seit den Zeiten meiner Urgrossmutter, im hintersten Eck der Volksschule, es geht vorbei an Schülerscherenschnitten, Metallspinden und Klassenzimmertüren zu den freundlichen, aber hypernervösen Wahlzimmerzuweisern, einem kleinen Schnurrbärtigen und einer blondgefärbten Dame, beide in ihren 50ties. Hypernervös sind sie, weil sie Kettenraucher sind und hier im Schulgebäude nicht rauchen dürfen.

Die für meine Stimmabgabe zuständigen Wahlbeisitzer und Urnenwächter, Ausweisprüfer, Adressenkontrollore und Wahlzettelausfolger sitzen im Turnsaal an zwei langen Tischen, bei Obst, Mineralwasser, Kuchen und Kaffee. Der Turnsaal riecht nach österreichischen Kinderfüssen. Man sollte die Direktoren von Nike, Adidas und Puma hier mal zwei Tage internieren.
Meine Wahlzelle ist aus Pappkarton, an einem Gummiband hängt ein Kugelschreiber. Rechts an die Pappwand ist ein riesiges Poster getackert, mit den Listen der Vorzugsstimmenberechtigten (oder wie auch immer das im Amtsjargon heissen mag). Unelegant: Erster und oberster der Liste 1, ÖVP, ein gewisser Dr. Wolfgang Schüssel. Beruf: Bundeskanzler. Beruf? Kann man als Ex-Bundeskanzler zum Arbeitsmarkservice gehen und um Stellenvermittlung ansuchen? Oder wird man dann umgeschult? Kann das mal wer klären?

Der Wahlzettel ist gefaltet. Durch diese Faltung entsteht bei einfachen Geistern der Eindruck, dass das “BZÖ, Liste Westentaler, wir san wir”, als erstes gereiht ist. Erst beim vollständigen Entfalten verrutscht die Haiderpartei wieder auf die hinteren Plätze.

Wieder draussen bei den nikotinsüchtigen Zimmerzuweisern. Eine Dame aus der Unteren Augartenstrasse hat ihre Informationskarte nicht dabei. Sie hatte sie erst gar nicht bekommen. Niemand aus der Unteren Augartenstrasse hat Informationskarten bekommen, weiss der Wahlzimmerzuweiser. “De hom de ÖVP-Postler weggaghaut. Seid de priavtisiert san, san de voi angschütt”, weiss eine andere Dame.
Für das Ösi-Blog in der ZEIT.

Der Mann mit den roten Schuhen

Schuessel.waehlen.jpgDer Hugo-Wiener-Platz liegt gegenüber von meinem französischen Atelierfenster. Zwei riesige Platanen stehen da vor den Sonnensegeln der polnischen Pizzeria, die den Sommer nicht überlebt hat, weil bei Regen niemand unter Sonnensegeln sitzen will. In der früh starten die Bobos ihre Minis und Saabs und Smarts und fahren in ihre kleine Galerie in der Schleifmühlgasse, ins Funkhaus in der Argentinierstrasse, in das vegane Naschmarktlokal. Dann wacht der Sandler auf, der an geraden Tagen auf der Bank unter der linken Platane schläft, an ungeraden auf der Bank unter der rechten Platane.

Vormittags, nicht vor zehn fährt der Musik-Kabarettist Muckenstrunz auf seinem Kinderklappfahrrad quer über das Pflaster. Zu mittag kommen die türkischen Schulkinder, dann die Frau mit den drei kläffenden Hunden, und abends, wenn nur mehr die aufgebohrten Mopeds durchs Viertel glühen, kommen die Nigerianer, um in der Wertkartentelefonzelle vor dem H.C-Strache-Plakat nach Hause zu telefonieren. Ein beschaulicher Platz, der Hugo-Wiener-Platz gegenüber von meinem französischen Atelierfenster.

Heute war es anders. Nicht viel anders, aber anders. Ein silbermétalliséefarbener Querfeldein-BMW parkte sich ein, grosse rotweissrote Kleber mit dem Slogan “Schüssel.wählen” knallten von den Türen. Ein Mann mit wirrer Frisur entstieg dem Sport-Utility-Vehikel. Der Mann in der bürgerlichen Jeanshose und dem hellblauen Golfplatzhemd sah aus wie der Meinungsforscher Bretschneider und wie wenn sich Bretschneider gerade von seinem weissen ZZ-Top-Bart getrennt hätte. Der Bretschneider-ohne-Bart telefonierte. Der rechte seiner knallroten Wildlederturnschuhe trat in das Hundstrümmel der Dreihundefrau, der Sandler unter der linken Platane setzte seine Zipfelmütze gerade und dann trug der milde Septemberwind einen Handy-Telefonat-Satz des Bretschneider-ohne-Bart-Mannes durch mein halboffenes französisches Atelierfenster:

“Es wird doch knapp. Oaschknapp.”

Für das Ösi-Blog in der ZEIT

Kopfball ::: Vom Zauber der Farben

FA-Kopfball-Andrea.jpgDie Fussball-Weltmeisterschaft hat mich voll im Griff. Kein Spiel versäumt, das Panini-Album vollgeklebt – komplett bis ins letzte saudiarabische Fenster. Nicht mal Lehmann fehlt. Lehmann, der deutsche Goalie, der erst nach Drucklegung des Panini-Albums nominiert wurde und für dessen Bildchen ein Sonderdruck aus den Panini-Klebepressen gezogen werden musste!

Mein Engagement für die Religion auf dem Rasen hat weniger fussballmagische als dienstliche Gründe. Ich muss das Tor der Woche nacherzählen. Eine gefährliche Sache, denn mein ballestrisches Wissen hat sich seit 1974, der ersten WM an die ich mich erinnere, nur unwesentlich verbessert. Ich verstehe gerademal die Enstehung von Eckbällen und dass Strafraumfouls und Elfer eine geheimnisvolle Beziehung miteinander haben. Schon die einfachsten Abseitse verstehe ich nicht.

Ganz und gar Analphabetin bin beim Entziffern taktischer Feinheiten, der Inszenierung von Räumen und anderem fussballchemischen Zinnober. Auch ein Spiel kann ich etwa so gut lesen, wie Wayne Rooney den Klappentext eines Supermanheftes. Aber ich verstehe was von Eleganz und guten Farben. Vom Brasilianer Kaka zum Beispiel. Von dem verstehe ich was. Bilderbuchhaft sein Oszillieren zwischen prinzenhaften Bubencharme und virilem Parsifalismus. Auch El Niño, das Kind, wie Spanien seine stürmende Unfallfrisur Fernando Torres nennt: Aus dem Olymp ausgebüchst, keine Frage!

Abgesehen von den schöneren Gesichtern hat die lateinische Fussballwelt auch das bessere Auge für Farben. Das Lapislazuli der brasilanischen Hosen! Auch für Atheistinnen ein Gottesbeweis. Herrlich dazu das bananenblattgrüngesäumte Kanarigelb der Hemden von Ronaldinhos Pillendrehern. Traurig, wenn Brazil mal in Auswärtsdressen antreten muss, in weissen Flak und dottergelben T-Shirts. Traurig. Von den Europäern haben gerademal die azurblauen Italiener und die Oranjes begriffen, das Farbe emotionelle Gewalt ausüben kann. Schiedsrichter hingegen mögen gefälligst wieder zum inquisitorischen Uniformschwarz früherer Zeiten finden, sonst setzt es Gelb-rot!

Für die Kopfball-Kolumne in Falter 26/2006;
detto die Kopfballautodusilation.

Ode ans Handy

Mein erstes Handy, ein Ziegel von der Grösse eines Wecken Schwarzbrots. Es zirpte und hupte und auf seinem froschlaichgrünen Display konnte ich die unvorstellbare Menge von zehn Nummern abspeichern. Ein wehmütiger Bericht aus der Zukunft der Vergangenheit von Andrea Maria Dusl.

Erschienen in der Standard-Beilage Rondo vom 23.6.2006.

Holla-holla.jpgSchuld ist Captain Kirk. Der untersetzte Kapitän des Sternenkreuzers Enterprise hat mich angefixt.

Captain James Kirk liebte Ausflüge. Wie ich. Wenn den Captain die Ausflugslust juckte, stellte er sich in die Teilchendusche und liess sich auf den Planeten, den Mond, das vergammelte Klingonenschiff beamen. Und nie hatte er mehr bei sich, als einen kabellosen Phaser-Föhn und sein Handy.

Einen Föhn hatte ich schon. Das andere Ding wollte ich auch haben. Es war so gross wie ein Trszesnevskibrötchen, hatte eine Klappe wie das Notizbuch von Inspector Columbo und mehr Tasten als die Gegensprechanlage im Ringturm. So ein Ding wollte ich haben. Ein… ein… Mist, das Ding hatte keinen Namen.

Handy-Kindersarg.jpgHannes Androsch war da schon weiter. Hannes Androsch war in den siebziger Jahren sowas wie der Mister Spock eines gewissen Captain Kreisky, er hatte eine Dienstlimousine und ein mobiles Telefon. Ein Telefon, das nicht an Kabeln aus der Wand hing, das nicht von der spärlichen Erreichbarkeit einer Vierteltelefonnummer desavouiert wurde, ein Telefon aus der Zukunft, ein Autotelefon. Es hatte die Grösse eines Kindersargs und war nur mit dickem Mercedes drumrum erhältlich.
Also doch das von Captain Kirk.

Die Jahre liefen ins Land, Captain Kirk wurde feister, Hannes Androsch telefonierte weiter über den Kindersarg und bekam Probleme mit den Klingonen aus dem Profil, aus Kreisky wurde Sinowatz, aus Sinowatz ein Bankdirektor, aber das kleine klappbare Brötchen gab es noch immer nicht.

Auf den Strassen gab es gläserne Häuschen, in denen man telefonierte. Man warf eine Münze ein, die sich Telefonschilling nannte, und wenn eine Verbindung zustande kam, drückte man einen kleinen schmierigen Knopf.Den langen eckigen blauen Button hier unten klicken! Sonst müssen wir das Gespräch beenden.

Das war mobiles Telefonieren. Gläserne Häuschen, Telefonschilling, schwarzer Knopf, Hallo ich brauche ein Taxi in die… Türe auf, …Ecke dings… äh moment… äh… klick. tuut, tuut. Telefonschilling aus. Kein Taxi in die Pampa. Mobiles Telefonieren.

Handy-Knochen.jpgUnd dann irgendwann ging alles ganz schnell. Im staatlichen Rundfunk sprachen sie über das Einrichten eines Funknetzes für mobiles Telefonieren. Geräte, die sich in dieses Netz einwählen würden, gäbe es bald zu kaufen. Zu kaufen! Und von diesem Funknetz, wie sie sagten, würde man auch ins normale Netz telefonieren können. Ins normale Netz!

Mein erstes Handy war ein grau und es war aus Plastik und was die Grösse betrifft – Captain Kirks Trszesnevskibrötchen war es nicht gerade, es war, na sagen wir mal, ein Wecken Schwarzbrot. Der Wecken hatte eine ausziehbare Antenne und einen kleinen Bildsschirm. Das gefiel mir schon besser. Einen kleinen Bildschirm hatten die Kommuniktoren auf der Enterprise auch. Der Bildschirm hiess Display und hatte die Farbe giftgrünen Frosschlurchs. In der Bedienungsanleitung fanden sich Begriffe aus der Zukunft: Speicherplatz, Menüpunkt, Kurzwahlnummer, Ladezustand, SIM-Karten-Steckplatz. SIM-Karten-Steckplatz. Ein wunderschönes Wort. Captain Dusl, Ma’m wir haben Probleme mit dem SIM-Karten-Steckplatz. Schalten Sie um auf Teilchen-Kommunikation, Scottie. Und beamen sie mich rauf.

Handy-Ziegel.jpgMein Handy. Mein Handy? Wie hiesss das Ding überhaupt? Manche nannten den dunklen Wecken “Funktelefon”. Andere wollten wissen, es hiesse Mobiltelefon. Und die Schöpfer von Worten wie Event und Marketing brachten “Handy” in Umlauf. Ein fataler Sprachirrtum, wie man spätestens nach einer Amerikareise wusste.

Mein erstes Handy. Franz Vranitzky sass am Ballhausplatz, Wolfgang Schüssel trug noch grosse Brillen und bunte Mascherln und ich steppte die erste Nummer in mein erstes Handy. In grossen dunkelgrünen Computerziffern fädelte ich die Telefonnummer meiner Eltern auf den grüngelb beleuchteten Telefonbildschrim.

Aufgeregt zitternd bohrte sich mein Zeigefinger in die grüne Gummitaste mit dem Symbol eines schwebenden Hörers. Mit elektronischem Zirpen wählte sich der Wecken ins “Netz”, den unsichtbaren Handy-Äther, der wie eine löchrige dünne Wolke auf der Stadt lag.
Mein erstes mobiles Telefonat. “Hallo?” “Krächzkrächz!” “…Ja hallo?” “Krächzkrächzkrächz.” “Es bin ich. Ich bin es.” “Krächzkrächz.” “Zirzpirp.”

Bald hatten andere auch solch ein Handy. Schweizer nannten es Natel, und die Leute, die sich einen Ast lachten, wenn sie das Wort “Handy” für Telefon hörten, nannten die Gurken “mobiles” und “cellphones”.

Es wurde Zeit für das nächste neue Phänomen. Den Handywechsel. Davon wusste man zwar nichts auf der Enterprise, aber die wussten auch nichts von Marketingoffensiven und von Peer Group Pressure. Möglich, dass hinter meinem Handywechselwunsch auch die Klingonen steckten, jedenfalls brauchte ich jetzt dringend ein neues Handy. Dringend.

Mein zweites Handy sah aus wie ein Kurzwellen-Weltempfänger, den man mit einem Taschenrechner gekreuzt hatte. Die Klingonen hatte die Sängerin Madonna in einen Werbespot gebeamt und sie mit diesem ultraschicken Brötchen gefilmt. Fatal. Das Madonna-Handy musste ich haben.

Es war die Zeit der grossen Koalition. Die soziale Schere war noch nicht aufgegangen, wir hatten Geld wie Heu, das Madonna-Phone kostete soviel wie ein kleiner Sportwagen und die Bedienungsanleitung war so dick wie das Telefonbuch von Graz. 100 Nummern konnte man speichern. Der Akku hielt 7 Stunden. Und war in der verstörend kurzen Zeit von 24 Stunden frisch geladen. Ein Wunder der Technik! Mit dem Daumen drehte man am Rad und spulte sich durchs Freundemenü. Handyphonieren war Freizeit. Amtliches besprach man von einem Telefon.

Handy-Madonna.jpgDas Madonnaphone war so schick, weil es den Madonnabügel hatte. Der Bügel erinnerte an die Wangenmikros, ohne die Popstars in den 90ern keine wirklichen Popstars waren. Den Madonnabügel schnalzte man mit dem Daumen raus. Dann gingen die Lichter an. Das war schon was! Das hätte Captain Kirk gefallen.

Was wurde ich bewundert mit dem Madonnaphone! Wie modern hupte es, wenn mich wer am “Handy anrief”, wie man damals sagen musste, um hochmodern zu wirken. Das Madonnaphone lag stets dekorativ am Loungetable, am Abhängetresen, auf der angesagten Bar. Bis das Bier des Klingonen umfiel und mein erstes Handy ertrank.

Nie wieder sollte ich mir einen Nachfolger zulegen, der den Wert eines gepflegten Mittagessens überstieg.

Das hätten sogar der dicke Captain und sein langohriger Freund verstanden.


Zur Zukunft der Hanydphonie geht’s hier! Zumindest momentan.

metaphysics ::: Digitale Macht

Erschienen in .copy 26/2006

Mighty-Man-Cerne-Abbas.jpgDas Wort ist hart wie Stahl, flüchtig wie Nebel. Macht. Es riecht nach Lederfauteuils hinter dicken Polstertüren, nach Managerschweiss unter Armanituch, nach der süssen Würzigkeit echter Cohibas und dem Nussfurnier teurer Limousinen. Sein Klang oszilliert zwischen dem Seufzen einer unterschreibenden Mont-Blanc und dem animalischen Brüllen eines startenden Firmenjets. Macht kann vererbt sein, erkämpft, verteilt oder konzentriert. Sie kann Bürde sein und Droge. Jeder kennt sie. Viele fürchten sie, die meisten hätten sie gerne, und allen ist klar: Macht kommt vom Machen.

Falsch.

Macht kommt von Mögen. Zumindest sprachgeschichtlich. Vom Mögen, dem Möchten, etwas zu tun, ja etwas überhaupt tun zu können. Eine zerbrechliche Angelegenheit, wie wir sehen. Macht ist dem Können und dem Wollen näher als dem Machen, dem Tun. Das deutsche Wort „Macht“ – Vermögen, Herrschaft, Gewalt, Kraft, Stärke – kommt vom althochdeutschen „maht“, das neben den genannten Inhalten auch das Genital des Mannes beschreibt. Das Gemächt, wie man früher sagte. Das Gemächt, dessen Vermögen nur dann sichtbar wird, wenn „Mann kann“.

Macht nichts, wenn das im Englischen ganz anders ist. Macht heisst jenseits der Kreidefelsen von Dover nämlich force, power, might, sway. Pech. Auch might und power kommt vom Können. Letzteres kommt wie vieles jenseits des Ärmelkanals aus dem Altfranzösischen, vom poeir, po(v)oir. Pouvoir ist neben puissance noch heute ein französisches Wort für Macht. Alles zusammen entstammt dem lateinischen potere, fähig sein, können. Potere, von dem unser Wort Potenz kommt, jener, erst von Viagra in Misskredit gebrachte Begriff für die Spannkraft des Mannes.

Wie wir es drehen und wenden, Macht hat mit Männern und den genitalen Aspekten ihrer Virilität mehr zu tun, als es eine aufgeklärte und gleichberechtigte westliche Industrie-Gesellschaft vermuten liesse.

Kommt die Macht vielleicht aus einer anderen Ecke? Kommt Macht vielleicht von Magie? Vom Magier, vom Zaubermanager und rituellen Beschwörer? Der kommt nämlich über das lateinische magus und das griechischen mágos aus dem Persischen und bezeichnet ein Mitglied der medischen Priesterkaste, in der Folge aber auch den Traumdeuter, den Zauberer und Betrüger. Zugrunde liegt ein altpersisches magus, magusch, das den Namen der iranisch-medische Priesterkaste aus dem Stamm der Mager, oder Magier bezeichnet, die bei Herodot und Strabon als zoroastrische Sternkundige, Ärzte, Priester und Gelehrte gelten.

Obwohl es nahe läge: Magus hat nichts mit magis (lateinisch „mehr“) zu tun, aus dem über magister (der, der „Mehr“ ist) unser Meister, der englische Master werden sollte. Mächtige Magier sollen die Heiligen Drei Könige gewesen sein, genauer, „Magoi apo anatolôn“, Magier aus dem Osten, wie es beim Evangelisten Matthäus heisst. Aus Magiern wurden schnell Könige, denn mächtig, so die mittelalerlichen Exegeten, konnten wohl nur Könige sein.

Die deutsche Sprache kennt den Magier vor allem als Zauberer. Seine Bezeichnung hat er von einem Wort, das bei den Germanen noch taubra, taufra geklungen hat und das Schreiben einer magischen – einer mächtigen – Formel bezeichnete. Das Wort kommt vom teafor, dem Rötelstein, der gerieben jenes Rot ergab, mit der die Zauberer die in Stein geritzten Runen ihrer Zauber-Sprüche einfärbten.

Die Mächtigen von heute dürfen wir weniger in den Politikern als in der Kaste der Wirtschaftsmagier, der Manager, CEOs, Aufsichtsräte und Firmenbosse sehen. Sie zaubern an Kursen und Quartalsberichten herum, hexen Firmenmerger herbei und murmeln in stock exchange
parlance, der den ökonomisch Unkundigen wie schwarzmagisches Abrakadabra vorkommen muss.
Für meine Kolumne „metaphysics“ in .copy vom Juni/2006

metaphysics ::: Digitale Medien

Erschienen in .copy 25/März/2005

TI30-Book.jpgAls ich ins Gymnasium ging, in den Siebziger Jahren, in Wien, war alles noch anders. Analog. Auch wenn das damals niemand so nannte. Alles war analog. Radios hatten eine Röhre, Musik kam von zerkratzen schwarzen Scheiben und mathematische Berechnungen fanden auf einem seltsamen Gerät statt, das sich Rechenschieber nannte. Elektronengehirne, gross wie Einfamilienhäuser, waren zwar schon aus den Science-Fiction-Büchern ausgebüchst und hatten Amerikaner gerade erfolgreich zum Mond und wieder zurück gebracht, aber was ein Computer sein sollte, wusste damals noch niemand. Computergenies beschäftigten sich im Spätnachkriegs-Österreich nicht mit extraterrestrischen Expeditionen, sondern ausschließlich mit „EDV“, elektronischer Datenverarbeitung.

Um uns Schülerinnen und Schülern eine Vorstellung von dieser wundersamen Errungenschaft namens „EDV“ zu geben, brachte unser Mathematikprofessor eines Tages einen Streifen fahlgelben Plastiks mit, den er uns stolz als „Lochkarte“ präsentierte. „Das ist EDV, Schülerinnen und Schüler! Diese kleinen Löcher da. Diese kleinen Löcher, sie sind reine Information! Diese kleinen Löcher. Reine Information. Digitale Information.“ Wow! Information. Digital. Wow!

Aber wie ging das: „Digitale Information“?

Daß „ein“ gestanztes Loch den Wert „Eins“ repräsentierte, leuchtete mir noch halbwegs ein, aber daß „kein“ gestanztes Loch den Wert „Null“ darstellen sollte, blieb mir unerklärlich. Wie konnte etwas dargestellt werden, indem es nicht dargestellt wurde? Es war rätselhaft, aber es war digital. Und es hatte mit unserem Finger zu tun. Man konnte digitale Information mit einem Finger – lateinisch „digis“ – darstellen. Finger hoch: Eins. Finger runter: Null. Digital.

Auch was ein Medium ist, wussten wir. Ein Medium ist die Mitte. Die Mittte zwischen zwei Dingen, ein Träger von Jemandem oder von etwas, ein Mittler. „Medium“ hatte damals einen obskuren Unterton. Finger rauf, Finger runter – geschenkt. Aber Medium klang nach Geisterbeschwörung, nach halbgegrilltem Steak, nach Tabasco für Waschlappen. Das sollte so bleiben. Medium war halbgar und obskur. Kein guter Start für einen Begriff, in dem Fernsehen und Zeitungen Platz haben sollten, und auch noch Filme und Musik, Telefone und Computer und was die Weltraumindustrie noch an Zukünftigen in ihren Schubladen verstecken mochte.

Aus dem obskur-okulten Fingerzeigen und dem ungläubigen Staunen über elektronische Gehirne, die eine grössere Sardinenbüchse bis zum Mond steuern konnten, wurde bald handfester Alltag. Der erste digitale Freund, den wir hatten, hiess TI-30 und war ein goldbraun glänzender Taschenrechner von Texas Instruments, der – niemand nahm es wunder – aus dem Mondfahrerstaat Texas kam. Silicon Valley war da noch eine Pampa.

Kaum war das digitale Rechnen Teil unseres analogen Denkens, kaum war 12:30 dasselbe wie halbeins, schaffte Phillips die Schallplatte ab und ersetzte sie durch Karajans CD. Kaum zu glauben: Auch Jimi Hendrix, gerade noch auf einer zerkratzten Vinyl gehört, fidelte glasklar, ein wenig zu klar von der silbernen Scheibe. Voodoo Chile, Red House, Hey Joe: Alles in Eins und Null. Und so sollte es weiter gehen.

Ein Gerät nach dem anderen wurde digital. Die Telefontastatur, der Anrufbeantworter, das Autoradio, das Videoband, die Heimorgel. Alles eins oder Null, alles Zeigen oder nicht Zeigen, alles Medium. In der Mitte. Zwischen uns und wem anderen.

Und dann kam Apple und Microsoft, Quark-X-Press und Photoshop, die DVD, die Digitalkamera, die elektronische Motoreinspritzung, Lara Croft und Myst, Satelliten-Receiver und der Klingelton, CNN, das Internet und der Download. Die Volldigitalisierung der Welt.

Digitales Medium. Was war das schnell noch mal? Ach ja. Irgendwas in der Mitte, kurz nach der Mondlandung. Ein Zeigefinger und halbgare Gespräche mit Geistern.

metaphysics ::: Die Person

Erschienen in .copy 24 i.e. 05/Dezember/2005

Fantomas.jpg
Skandinavische Familiennamen enden oft auf die Silbe -son: Anderson, Svenson, Larson, Person. Das stammt aus einer Zeit, als die germanisch-patriarchalische Nomenklatur ein Individuum vor allem als Abkömmling seines Vaters verstand, und Familiennamen, wie wir sie heute kennen, unbekannt waren. Zur Unterscheidung der Söhne (sons) eines Vaters untereinander dienten Spitznamen wie Rotbart, Blauzahn, Hinkebein und neben klassischen germanischen Vornamen sehr oft biblische Namen wie Anders (Andreas), Jakob und Per (Peter). (Mädchen wurden selbstverständlich auch nach ihren Vätern benannt, statt son endeten ihre Namen allerdings auf dotter/dottir (Tochter). Beim Blättern im Telefonbuch von Stockholm wäre es also nicht ungewöhnlich, auf jemanden mit dem Namen Anders Person zu stossen.

Anders Person.

Andersperson.

Was eine Person ist, selbst wenn sie, wie in unserem schwedischen Beispiel, einen – für deutsche Ohren – surrealistischen Namen trägt, wissen wir alle, sind wir ungeachtet unserer ganz individuellen Persönlichkeiten doch alle welche. Personen nämlich.

Woher aber kommt der seltsame Ausdruck? Warum sind wir Personen? Doch nicht, weil wir alle statt von Adam von einem Person, dem Sohn eines Per abstammen?

Tatsächlich ist die Herkunft des Wortes Person nicht vollständig geklärt. Es existieren zwei verschiedene etymologische Theorien. Fest steht, dass unser Begriff im 13. Jahrhundert als persôn, persône aus lat. persona ins Deutsche übernommen wurde. Der Ursprung des lateinischen Begriffes ist jedoch umstritten. Manche Sprachwissenschafter halten den Begriff für eine Entlehnung aus dem griechischem prosôpon, „Maske, Rolle, Mensch“. Einer anderen (und von den meisten Etymologen heute für wahrscheinlicher gehaltenen) Theorie zufolge stammt es jedoch aus dem etruskischen phersu, “Maske”.

Hinter dem Begriff „Person“ steht seit der Antike das tiefenpsychologische Bild, dass Menschen in den meisten Situationen nicht sie selbst sind, sondern sich wie Schauspieler verhalten, die ihre Rolle mehr oder weniger gut spielen. Hört man genau auf das was jemand sagt, also das was seine Maske durchtönt (im laeinischen lässt sich Maske nämlich vom Verb per’son’are = durch’tön’en ableiten), erhält man einen tieferen Einblick in die wirkliche „Person“. Im antiken Theater wurden die Charaktere eines Stücks von Schauspielern mit unterschiedlichen Masken verkörpert. Tragische wie komische Masken hatten einen trichterförmigen Mund, durch den die Stimme “personierte”, im wahrsten Sinne des Wortes durchtönte.

Jede Person wird also von einer hinter der Maske verborgenen Andersperson “personifiziert”.
Noch verwirrender wird die Idee des Persönlichen in totalitären Strukturen. Aus George Orwells Roman 1984 kennen wir den “Neusprech”-Terminus der “Unperson”. Die Unperson bezeichnet jemand, der nicht nur vom Staat getötet, sondern gänzlich ausgelöscht wurde. Orwellsche Unpersonen sind aus Büchern und Archiven gelöscht, es existieren weder Fotos noch Daten. Die Unperson soll, ganz im Einklang mit den Prinzipien des “Doppeldenk” sogar von Freunden und Familienmitgliedern vergessen werden. Realwelt-Unpersonen gab es in der ehemaligen Sowjetunion. Der kommunistische Politiker Leon Trotzki ist das wohl berühmteste Beispiel. Um ihn zu depersonifizieren, wurden der in Ungnade Gefallene nicht nur ermordet und totgeschwiegen, sondern auch aus allen offiziellen Fotos wegretuschiert.

metaphysics ::: Arm

Erschienen in .copy 23 i.e. 04/2005

FA-Arm.jpgArm ist ein hochkomplexes Wort. Das gilt für den Arm, jenen Körperteil, der unser wichtigstes Werkzeug, die Hand trägt gleichermassen wie für “arm” das Gegenteil von “reich”.

Der Arm, jener vielgelenkige Körperteil, der an unseren Schultern ansetzt, ist entwicklungsgeschichtlich ein Cousin unserer Beine und war zur Zeit unserer frühen Vorfahren, der Fische, noch eine schlichte Flosse.

Das Bauprinzip dieser fächerförmigen Ruderwerkzeuge hat sich über all die Jahrmillionen erhalten. Ein einzelner Knorpel- oder Knochenstummel verzweigt sich an einer beweglichen Verdickung in einen Doppelarm, dieser, an der nächsten Verdickung in drei, die wiederum in vier, bis am Ende des Flossenfächers meist fünf Strahlen, unsere heutigen Finger sitzen. Aus den Verdickungen an den Verzweigungen der Strahlen werden im Laufe der Evolution der Flossen zu Gliedmassen Gelenke werden.

Erst das mechanische Prinzip der Überkreuzung von Elle und Speiche (analoges gilt für die hinteren Gliedmassen) hat den frühen amphibischen Landbewohner eine Bewegung an Land ermöglicht. Mit starren Gliedmassen ohne Aufspaltung in doppelknochige Unterarme und -beine und in vielstrahlige Finger hätten unseren Vorfahren den Landgang nicht auf die Reihe bekommen. Kein Landgang, keine Evolution der Landwirbeltiere, keine Entwicklung von Säugetieren.

Kein Arm, kein Landgang, kein Arm, keine Menschheit.

Die Gliedmasse, die unsere Hände hervorbringt, kommt von einer indoeuropäischen Verbalwurzel “are”, soviel wie “fügen” und bedeutet Gelenk oder Körperteil mit Gelenk. Der Arm (lat. humerus) hat aber auch martialische Bedeutung. Aus der gleichen Wurzel wie Arm kommt das lateinische arma, die Waffe. Eine Menge Arme kann eine Menge arma tragen und eine Armee bilden. Mit einer gut organisierten Armee lassen sich – männliche Kriegslust vorausgesetzt – Eroberungsfeldzüge organisieren, die – männliches Logistiktalent vorausgesetzt – in einem Reich münden. Einem Imperium – einem “Anschaff-Reich”. Einem – im wahrsten Sinne des Wortes – weit über jeden Arm reichenden Machtgebilde.

Und da wären wir über den kleinen martialischen Ausflug mit dem Reich schon bei arm. Das Gegenteil von reich sein ist nämlich das arm sein.

Arm, das Gegenteil von reich, von mächtig, kommt aus jener sprachlichen Wurzel aus der auch die Worte “Erbe” und “Arbeit” kommen. Arm zu sein und der Zwang zu arbeiten scheinen im Verständnis unserer Ahnen zusammengehört zu haben. Und dass sich dieser Zustand der arbeitsamen Armut von Generation zu Generation “vererbte”.

Arm und reich scheinen also nicht nur Gegensätze zu sein, sondern einander auf vielfach Weise zu bedingen. Kein Reich ohne Armee. Keine Armee ohne Arme, keine Arme ohne Armut, keine Armut ohne Reichtum, kein Reichtum ohne Reich. Die Kette dieser Assoziationen liesse sich noch vielfältig anders knüpfen. Und alles nur, weil die Natur jenen amphibischen Quastenflossern, die als erste ihre feuchten Fischleiber mit gelenkigen Paddeln an Land stemmten einen kleinen Vorteil gegenüber Kollegen gewährte, deren Flossen zu kurz waren, um als frühe Arme und Beine Verwendung zu finden.