metaphysics ::: Gesund

Erschienen in .copy 22 i.e. 03/2005

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Gesundheit wird allgemein definiert als die Abwesenheit von Krankheit. Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert sie als Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens. Auch gutes Wetter dürfte dem Wohlbefinden nicht untunlich sein. So schön sie ist, die Definition der WHO krankt hinter der schönen Fassade. Das Fehlen physischer, psychischer und sozialer Obstakel stellt einen, mit den bescheidenen Mitteln des Diesseits kaum erreichbaren Idealzustand dar. Eher müssen wir davon ausgehen, dass kein Mensch wirklich gesund ist und daher das extrem hehre Ziel der WHO („Gesundheit für alle“) alle Anzeichen einer Illusion haben dürfte.

Für uns Einzelne, von der WHO Besorgte wird das Phänomen „Gesundheit“ erst bei Krankheit oder mit zunehmenden Alter spürbar. Oder richtiger gesagt: Nicht mehr spürbar. Dem Wiederherstellen oder zumindest Annähern des Idealzustand „Gesundheit“ widmet sich seit der Steinzeit (und vermutlich seit Anbeginn der Menschheit) eine ganze Industrie. Heute wird in den hochindustrialisierten Gesellschaften des Westens jeder zehnte Euro für Gesundheit, beziehungsweise für die Massnahmen ausgegeben, die ihr Fehlen nach sich ziehen.

Die Förderung und Erhaltung der Gesundheit erfordert geringe finanzielle Mittel. Teuer und in unserer auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Welt vorherrschend ist dagegen ist die kurative Medizin, der Versuch also, Gesundheit wiederherzustellen. In der Antike war das genau umgekert. Wer es sich leisten konnte, gab Unsummen dafür aus, eben nicht krank zu werden. (Wer es sich nicht leisten konnte, ging zumindest in die Therme.) Ging die Gesundheit trotz ärztlicher Kunst dennoch verloren, war auch ein hochbezahlter Arzt seinen Job los.

Was und wie gesund ist, und wie es sich anfühlt, dürfte den meisten von uns bekannt sein. Woher aber kommt das Wort selbst?

Eine seltsame Koinzidenz findet sich beim Stochern in den etymologischen Wurzeln des Wortes „Gesund“. Es kommt von einem indoeuropäischen „sunto“, „suento“ und bedeutet schlicht „gesund sein“, „rüstig sein“. Ausgerechnet dieses Wort, dessen Bedeutung positiver nicht sein könnte, klingt verdammt ähnlich, wenn nicht gleich wie das Wort „Sünde“, im althochdeutschen noch „sunta“ ausgesprochen.

Wenn zwei Worte gleich klingen, liegt der Verdacht nahe, dass sie ein und dasselbe bezeichnen. Die Frage ist nun, ob einst die Gesundheit sündig war, oder die Sünde gesund. Die Antwort ist so umoralisch wie wahr: Beides. Graben wir bei der „Sünde“ noch tiefer im etymologischen Myzel, als eben noch bei der „Gesundheit“ stossen wir auf das altinidsche „sánt“, das soviel bedeutet wie „wahr“, „gut“, „seiend“. Seiend. Ob wir gut sind, darüber lässt sich streiten, wahr sind wir, je nach philosophischer Betrachtungsrichtung schon eher, „Seiend“ sind wir fast sicher. Über viele Bedeutungsumwege hat sich das Seiende, das Sunde zum Getanen, zur Tat gewandelt. Von der Tat zur strafwürdigen Tat und von der zur Schuld waren es dann nur mehr kleine Schritte in Richtung „sunta“, Sünde, jenem germanischen Rechtsausdruck, den die Kirchensprache zur Übersetzung des lateinischen „pecccatum“ – Vergehen verwenden sollte.

Auf abenteuerliche Weise, wurde also das indoeuropäische Sein, das Gesundsein während der langen Reise Richtung Westen zum Sündigen, ohne dass sich jemand über diese Entführung je grössere Sorgen als die über einen eingerissenen Nagel gemacht haben dürfte.


Offizielle Seite der WHO, der World Health Organisation
Karl Hörmann über die Sünde im „Lexikon der christlichen Moral“
Artikel über Sünde auf „Schwarzes Netz“
Wikipedia-Artikel über Krankheit
Gesundheitsportal Lifeline
Das ultimative Nachschlagewerk Pschyrembel

metaphysics ::: Geborgen

Geschrieben für .copy 21 i.e. 02/2005, Nicht erschienen.

Das Wort „geborgen“ beschreibt das Gefühl, behütet und beschützt zu sein. Es ist das Partizip des Verbums „bergen“. Im Geborgen sein schwingt leise eine Ahnung an die Rettung aus der Katastrophe mit. Vom Berg, von der Burg stammt der Ausdruck „Bürger“. Geborgen in ihrem Staat sollen sich die Staatsbürger eines modernen Gemeinwesens fühlen.

Bei der Beschäftigung mit dem Wort „geborgen“ stossen wir sehr bald auf das „bergen“. „Geborgen“ ist das Partizip, die Vergangenheitsform des Verbums „bergen“. Während das geborgen sein die wohlige Wärme des behütet seins, des beschützt seins verströmt, geht es wild her beim Bergen. Geborgen werden gemeinhin Verunglückte, Verletzte, in See- und Bergnot geratene. Geborgen können wir nur „werden“. Geborgen werden, geborgen sein ist ein passives Geschehen. Bergen ist ein sozialer Vorgang. Geborgen sein das Ergebnis von Solidarität.

Geborgen wird und wurden aber nicht nur in Not geratene Menschen, sondern durchaus auch Unbelebtes, ganz und gar nicht Verunglücktes. Erz nämlich. Kostbares, magisches Material, das geschmolzen wurde und geschmiedet, getrieben und gebogen. Bevor es am Amboss zu Schwertern, Schneiden und Scharen geschmiedet, zu Pfannen, Töpfen und Kannen getrieben und zu Münzen und Knöpfen geschlagen wurde, musste das Erz, das Irdene, das Archaische, aus der Erde geholt werden. Geborgen eben. Herausgegraben, Herausgebrochen. Aus dem Berg, in dem es schlief, wurde das Erz mit Feuer geweckt. Die ersten Schmiede müssen das Schmelzen von Erz für Höllenzauber gehalten haben.

Das kann der Grund sein, warum die indoeuropäischen Wurzeln der Worte Berg und Feuer enge Verwandte sind. Noch im Alt-Griechischen ähneln einander pyrgos (Burg) und pyr (Feuer). Mons pyrenaeus hiess in der Antike nicht nur das Gebirge, das Iberien von Gallien trennt, mons pyrenaeus hiess auch jener Pass über den heute der Transit halb Europas läuft. Ist es Zufall, dass der mons pyrenaeus – der Feuer haltende Berg – heute Brenner heisst? Oder heisst der Brenner Brennner, weil er ein Signalberg war, über den das erste Internet Europas lief, jenes engmaschige Netz von Feuerstationen, über die Rauch- und Lichtmeldungen durch die keltischen Reiche geschickt wurden? Es gibt gute Gründe, in den mittelalterlichen Burgen die Reste jener Signaltürme zu sehen, in denen einst das Nachrichten-Feuer geborgen wurde.

Das Feuer brannte also weiter in der mittelalterlichen Burg, der Festung, in der die nach ihr benannten Bürger Zuflucht vor Feinden fanden. Um die Burgen wuchsen Kaufmannssiedlungen und Handwerksbuden zu Städte heran. Um die Städte wurden Mauern gebaut. Ihre Bewohner nannten sich ebenfalls Bürger. Geborgene. Die französische Revolution emanzipierte diese Geborgenen. Das Bürgertum, die Bourgeoisie empörte sich gegen den Adel. Die Faubourgs, die Vorburgen, von der Stadt durch den Wall, den Boulevard getrennt, vereinigten sich mit der Bourg. Bürgerin und Bürger war nun jeder, von der Magd bis zum ehemaligen König. ein Jahrhuindert später errichteten die Bürger wieder einen Feuerturm, den ultimativen Signalturm. Den Eiffelturm, errichtet aus – Eisen.

Feuer war also kein Privileg der Burg mehr. Die Weitergabe von Information nicht mehr an den Burgturm gebunden. Das Lehen, das Leihen von Grundbesitz, jenes komplizierte System mit dem Kaiser und König den Adel – die Herrschaftsschicht an sich gebunden hatte, existierte nicht mehr. Ein anderer, nicht weniger komplexer Mechanismus von Abhängigkeit war längst an seine Stelle getreten. Das Prinzip des Borgens, des Vermietens von Geld. Erfunden in den ersten Bürgerstaaten, den florentinischen und oberitalienischen Stadt-Republiken.

Ob der Kapitalismus, das bürgerliche Machtgebirge des Borgens und Verborgens mit dem archaischem Gefühl des Geborgenseins vereinbar ist, ist eine Frage, an der sich schon ein gewisser Karl Marx folgenreich entflammt hatte.


Offizielle Seite der Österreichischen Bergrettung
Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) ist zuständig für den Such- und Rettungsdienst im Seenotfall.
Wikipedia-Artikel über Bergbau
Über keltische Signalanlagen
Karl Marx / Friedrich Engels – „Das Kapital“ und andere Studien zur Ökonomie Online
http://www.mlwerke.de/me/me_zuoek.htm

metaphysics ::: Unterwegs

Erschienen in .copy 20 i.e. 01/2005

Unterwegssein gilt in der kollektiven Wahrnehmung als Ausnahme. Dabei ist Mobilität die Regel, das Bleiben an einem Ort die Ausnahme. Wenn wir Paläontologen und Populationsgenetikern glauben, ist die Menschheit in Gestalt des modernen Homo sapiens vor etwa 100.000 Jahren in Ostafrika entstanden und hat sich in unzähligen Wanderbewegungen über Kontinente, Inseln und Archipele ausgebreitet.

Sogar außerhalb der Erde leben heute Menschen: Die Astronauten der internationalen Raumstation ISS sind im wahrsten Sinn des Wortes ständig unterwegs. Weil die ersten Menschen Jäger und Sammler waren und die Idee fester Siedlungen erst mit der Erfindung der Landwirtschaft vor rund 12.000 Jahren entstand, gehört das Umherziehen zu unseren ältesten Talenten. Die europäischen Nationalstaaten sind das Ergebnis jahrtausendelanger Migration europäischer (und nichteuropäischer) Populationen. Sogar in scheinbar „alteingesessenen“ Gegenden wie den Alpen haben sich Reste dieses Nomadentums erhalten. Die Almkultur, der Wechsel von Sommerweiden und Winterstall, ist ein Echo wandernder Hirtengesellschaften und hat mit den Nomaden Zentralasiens, nordeuropäischen Saamen oder den aus dem indischen Punjab stammenden Roma und Sinti mehr gemein, als manchem Heimatforscher lieb sein dürfte.

Selbst im Mittelalter war das Wandern eher die Regel als die Ausnahme. Christliche Pilger zog es nach Santiago, Rom und Jerusalem (später kamen die Kreuzritter dazu), Moslems auf die Hadsch nach Mekka und Medina. Die ersten Kaufleute waren fahrende Händler, die von Dorf zu Dorf zogen, auch Kaiser und Könige hatten keine feste Bleibe, sondern waren mit ihrem Hofstaat dauernd zwischen Pfalzen, Klöstern (sie hatten die Pflicht zur „Königsgastung“) und Städten unterwegs. Die Walz, das weite Reisen der Handwerksgesellen über Hunderte Kilometer von Meister zu Meister gibt es noch heute. Und den Zirkus sowieso.

Ein trauriges Kapitel menschlicher Reisetätigkeit sind Kolonisation und Kriegszüge. Krieg galt schon den Griechen der Antike als „Vater aller Dinge“, womöglich ist er auch der Großvater aller Reisen. Nachhall der martialischen, durchaus maskulinen Mobilität sind nicht nur Tod und Elend, sondern auch ein kulturelles und genetisches Amalgam: die Kriegskinder.

Die moderne Gesellschaft hat das Unterwegssein neben der Kommunikation zum Hauptthema gemacht: Urlaub, das ritualisierte Nomadisieren, wird auch in anderen Kontinenten absolviert. Das tägliche Pendeln von der Schlafstadt ins Büro oder die Fabrik gehört heute ebenso zum europäischen Alltag wie das Umherziehen von Politikern, Fernfahrern, Kongressteilnehmern, Vertretern und Handelsreisenden.

Das mobilere Geschlecht ist trotz männlichem Hang zum Gaspedal übrigens das weibliche: Migrationsforscher haben nachgewiesen, dass Frauen durchschnittlich weiter von ihrem Geburtsort entfernt leben als Männer.


Think-Tank über Migration
Wikipedia-Link über die Saamen
Webjournal über Kultur und Geschichte der Romani
Wiki-Link über Roma und Sinti

metaphysics ::: Glück

Erschienen in .copy 19 i.e. 05/2004

Glücksgefühle entstehen im Zusammenspiel von Gehirn und Hormonen. Molekularbiologen haben entschlüsselt, auf welche Weise etwa Sex, Sport und Schokolade Glücksgefühle auslösen. Selbst den „Sitz des menschlichen Glücks“ haben sie lokalisiert: in der mandelkerngroßen Hirnregion Amygdala des limbischen Systems. Hier findet sich besonders häufig der Botenstoff Oxytozin, ein Nerveneiweiß, das in der Evolution erst mit der Entwicklung der Säugetiere auftritt. Beim Sex etwa bildet die Hypophyse verstärkt Oxytozin. Manche Forscher machen es für das intensive Glücksempfinden beim Orgasmus verantwortlich. Psychophysiologen zählen Glücksgefühle den primären oder unwillkürlichen Emotionen Freude, Trauer, Furcht, Wut, Überraschung und Ekel zu.

Diese angeborenen Muster sind in allen Kulturen bekannt. Etwa tausend chemische Botenstoffe steuern diese menschlichen Gefühlsregungen. Als Glücksboten gelten vor allem die Neurotransmitter Serotonin und Dopamin. Zusammen mit Adrenalin und Noradrenalin heben sie die Stimmung. Neben diesen Molekülen spielen wohl auch Endorphine eine Rolle beim Empfinden von Freude und Glück. Abgeleitet von der Bezeichnung „endogenes morphiumähnliches Molekül“, handelt es sich dabei um körpereigene, also endogene Morphine, die an die gleichen Bindungsstellen andocken wie die als Schmerzmittel und euphorisierende Suchtmittel bekannten Opiate.

1996 veröffentlichten die US-amerikanischen Psychologen David Lykken und Auke Tellegen von der Universität Minnesota ihre Forschungsergebnisse über den genetisch festgelegten, individuellen „Set-Point of Happiness“. Er ist von Mensch zu Mensch verschieden. Auf einer bislang ergebnislosen Suche nach einem Gen fürs Glücklichsein ist der US-Wissenschaftler Dean Hamer. Topkandidat von Hamer, der schon das „Gottes-Gen“, die neurobiologischen Voraussetzungen für religiöse Gefühle, beschrieben hat: das Gen, das für die Konstruktion der Bindungsstelle auf den Hirnnerven zuständig ist, die den Glücksboten Dopamin aufnehmen. Sprachwissenschaftler leiten „Glück“ vom Verb „gelingen“ ab. Glück und das sprachlich verwandte englische „luck“ bezeichnen ursprünglich das Gelungene, das leicht Erreichte oder den günstigen Ausgang eines Ereignisses. So kommt der Ausdruck „Glück“ ins Glücksspiel.


Die Forschungsarbeit von Lykken und Tellegen über den „Set-Point of Happiness“ als PDF
Website
des Glücksgenforschers Dean Hamer
The Luck Project

metaphysics ::: Arbeit

Erschienen in .copy 18 i.e. 04/2004

Im Film „Megacities“ erzählt der österreichische Regisseur Michael Glawogger vom Leben in den Slums der Riesenstädte. In seinem neuen Film geht er auf die Suche nach den letzten echten Arbeitern: Drei Männer mit schwarzen, verschwitzten Gesichtern, Grubenlampen auf den Helmen, schieben sich irgendwo in der östlichen Ukraine in einen horizontalen Felsspalt, der gerade einmal so hoch ist, wie ihre Schultern breit sind. Mit ruhigen, gezielten Schlägen hauen sie tiefschwarze Steinkohle aus dem lebensgefährlich engen Flöz. An einem schmutzigen Sandstrand in einer anderen Ecke des Globus klettern Vermummte mit dicken Schutzbrillen das haushohe Wrack eines rostigen Öltankers hoch. Mit primitiven Schweißbrennern zerschneiden sie die armdicken Stahlplatten des riesenhaften Schiffsleibes vom Oberdeck bis zum Kiel und zerlegen den Tanker in Stücke von der Größe ganzer Häuserblocks. Kaum ist eines dieser gigantischen Rippenstücke ins flache Wasser gestürzt, wird es von einem anderen Team bestiegen, das es in kleinere und diese in noch kleinere Stücke zerschneidet, bis am Ende tischplattengroße, scharfkantige Eisenstücke, von nackten Händen getragen, auf riesige Stapel gelegt werden.

Die beiden Szenen sind exemplarisch für Michael Glawoggers gewaltigen Film „Workingman’s Death“. Körperliche Schwerstarbeit ist praktisch unsichtbar geworden in unserer globalisierten Welt der Maschinen, Fabriken und Konzerne. Und mit der körperlichen Schwerstarbeit scheinen auch Arbeiter und Arbeiterinnen – zu Zeiten des Kommunismus noch zu Helden stilisiert – verschwunden zu sein. Heute werden Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mehr mit falschen Hymnen bejubelt – sondern überhaupt nicht mehr. Ist der Arbeiter tot, sein Ruhm verblasst, ersetzt durch die billige Kraft der Maschine? Es gibt ihn noch, den Arbeiter – oft jedoch illegal und unterbezahlt, von keiner Gewerkschaft vertreten, von keinem Arbeitsgesetz beschützt. Weil es noch immer Regionen gibt, in denen Menschen schwere Arbeit billiger erledigen als Maschinen: Menschen, die in einem Vulkanschlot auf Java Schwefel brechen, in Nigeria Rinder zerlegen, in Pakistan Schiffe zerschneiden oder in aufgelassenen sowjetischen Steinkohleflözen nach Heizgut für den Winter schürfen. Michael Glawogger hat für seinen Film die letzten Arbeiter aufgespürt. Das dokumentarische Epos wird nächstes Jahr ins Kino kommen, Eindrücke von den Dreharbeiten gibt es auf der Homepage des Films.


Offizielle Website des Films Workingman’s Death
Grateful Dead’s Album „Workingman’s Dead“

Rudi Carrell – Gags am laufenden Band

Humor. Holland ist nicht allein für Tulpen und Eisschnellläufer berüchtigt, sondern auch für Rudi Carrell, den größten nicht-deutschsprechenden Showmaster des deutschen Sprachraums.

Andrea Maria Dusl, 18.4.1999, für Profil.

Der schlaksige Junge von Nebenan mit der butterweichen Tolle vor der Stirn war der perfekte Liebling aller Muttis und Omis. Zum Abküssen perfekt auch sein loses Mundwerk. Rudi Carrell, 1934 als Rudolf Wijbrand Kesselaar in der holländischen Kleinstadt Alkmaar in eine Komikerfamilie geboren, tingelte nahezu ein Jahrzehnt als Zauberkünstler, Bauchredner und Modesprecher durch die Niederlande, bis ihn 1959 ein Fernsehauftritt mit eigenen Ideen über Nacht berühmt machte.

Die monatliche Rudi-Carrell-Show lief mehr als 35 mal über holländische Bildschirme, bis Carrell – mit einer silbernen Rose von Montreux  in der Tasche – auch das deutsche Fernsehen auf sein Talent zur Samstagabend-Familienunterhaltung aufmerksam machte. Der mehlweiße Jüngling mit dem schon früh ulcusfaltigen Knittergesicht machte aus seinem knödelnden Kauderwelsch eine liebenswert  unnachahmliche Tugend und stilisierte sich  pfiffigen Shows zum Liebling der geteilten Nation. Bundesrepublikanische Einschaltquoten jenseits der 60% verwiesen Kollegen wie Hans Rosenthal (Dalli Dalli) und Wim Thoelke (Der große Preis) auf die Plätze. Als deutsche Unterhaltungs-Kolonie war Österreich, wie damals bei großen Quotenknüllern selbstverständlich, ausstrahlungstechnisch gleichgeschaltet.

1974 trat an die Stelle der Rudi-Carrell-Show das Familien-Quiz „Am Laufenden Band“, eine deutsche Version des ursprünglich ebenfalls holländischen „Een van de acht.“ Die Product-Placement-Comedy tarnte sich als spannendes Merkspiel. Auch jenseits der innerdeutschen Grenze hatte die Show, bei der vom Toaster bis zur kompletten Golfausrüstung alles gewonnen werden konnte, was ins deutsche Eigenheim passte,  geradezu paradisisches Format.

In den frühen Achtziger Jahren feierte Carrell neue Erfolge mit  „Rudis Tagesshow“, einer mit Gags und Sketchen angereicherten Persiflage auf die Nachrichtensendung „Tagesschau“, die trotz schlechter Sendezeit erstaunliche Reichweite erzielte.

Aber hier strauchelte der mittlerweile ergraute Junge aus Flandern, der sich einst die Sporen in der halbhohen Schule des billigen, weil unpolitischen Gags verdient hatte, an niemand geringerem als Khomeini. Carrell hatte in einer halblustigen Film-Montage den Eindruck erweckt, der Ajatollah werde von Anhängern mit Damenunterwäsche beschenkt.  Der iranische Staats- und Kirchenführer war empört und monierte offiziell die Entschuldigung der Bonner Regierung. Die politischen Wogen gingen hoch: Der Kulturreferent der deutschen Botschaft in Teheran wurde ausgewiesen und das Goethe-Institut geschlossen. Carrell mußte sich beim iranischen Volk entschuldigen, „möglicherweise religiöse Gefühle“ verletzt zu haben.

Die Karriere des Showmasters wollte sich nach diesem Knick – etwas später verscherzte es sich Rudi auch noch mit Bundeskanzler Kohl – nicht so recht erholen. Die „Oma-Opa-Mama-Papaguckmal-Show“, „Rudis  Tiershow“, sowie eine Reprise der  „Rudi-Carrell-Show“ litten alle unter Publikumsschwund. Der privat zwischen ruppigem Machismo und misanthropem Poltern oszillierende Rudi verlegte seine Agenden, ähnlich seiner Landsfrau Linda De Mol, vom publikumswirksamen Show-Mastern  ins finanziell noch erfolgreichere Show-Manegment. Die Moderation der  Blind-Date-Show „Herzblatt“ übergab er einem Kollegen mit ähnlichem Ausländerbonus: Reinhard Fendrich.

Rudi Kesselaar, der „Jong van Nebenaan“ ist zweifelos der bekannteste, aber beileibe nicht einzige Unterhaltungsexport aus dem Land der Grachten und Kanäle. Auch der legendäre Moderator des „Goldenen Schusses“, Lou van Burg war eingedeutschter Beuteholländer. Der leichten Muse fühlt sich auch der 95jährige Filmstern und Operettentenor Johannes „Jopie„ Heesters heute noch verpflichtet. Schlicht als Clown sieht sich dagegen Performance-Artist Hermann van Veen. Sein sülziges Kleingekünstel tarnt sich als „politisch bewußtes  Hinterfragen von Mißständen“ und gerät dabei zum kabarettistischen Selbstläufer: Just die Hermann-Veen-Parodie „Pflaumenbaum“ zählt zu den größten Lacherfolgen seines deutschen Kollegen [Helge Schneider].

Mit allerseichtestem, wenngleich finanziell höchst einträglichem Schmus erklomm ein gewisser Pierre Kartner in den 70er Jahren sogar die europäischen Hitparaden: Unter seinem Künstlernamen Vader Abraham  und dem „Lied der Schlümpfe“ ist der Holländer noch immer ein Begriff. Sein Song „Wenn die Slipeinlage nur gut sitzt“ dagegen unterschritt im wahrsten Sinne des Wortes die Gürtellinie und geriet zu Recht  in Vergessenheit.

Was können Holländer besser, was macht sie so beliebt? „Es ist vor allem ihr Akzent“, meint Jörg Metes, früher Chefredakteur des Satrirepostille Titanic und als ehemaliger Gagschreiber von Thomas Gottschalk mit den Usancen des deutschen Fernsehens bestens vertraut, „egal, was Holländer sagen, es klingt einfach witzig.“

Oder, wie der notorische Gagsucher Carrell das Geheimnis seines Erfolgs selbstanalytisch auf den Punkt brachte: „Warum ich in Deutschland lebe? Du kannst nicht auf Mallorca wohnen, aus dem Fenster gucken, eine Palme sehen, den Strand, das Meer und an etwas Witziges denken. In Afrika gibt es keinen einzigen Komiker. In England gibt es die meisten, weil es dort immer nebelig ist und stürmt. Die besten Ideen habe ich, wenn ich zu Hause am Fenster sitze und es regnet.“

Holländischer Komiker sein ist ein Scheißberuf. Es gibt nichts Schlimmeres, als vor einem leeren Blatt Papier zu sitzen und etwas schreiben zu müssen, worüber Millionen von Deutschen lachen sollen. Rudi Carrell.

Im Showbusiness ist Klugheit nicht immer von Vorteil. Rudi Carrell.

Mit 17 mußte ich mich entscheiden: Müllabfuhr oder Showmaster. Rudi Carrell.

Ein holländischer Fußballer rächt sich an der deutschen Presse, indem er abhaut, ein holländischer Showmaster, indem er bleibt. Rudi Carrell.

Nach jeder Show bin ich in einer Stimmung, daß jede Frau, die sich mir bis auf zehn Meter nähert, automatisch schwanger wird. Rudi Carrell.

EDV

Als ich noch klein war und in die Mittelschule namens Gymnasium ging, hießen Computer zwar schon heimlich Komputer, beschäftigten sich aber ausschließlich mit „EDV“. Damit wir uns ein Bild machen konnten, wie so eine „EDV“ in etwa aussah, brachte unser Mathematikprofessor einen Streifen fahlgelben Plastiks mit, den er uns stolz als „Lochkarte“ präsentierte.

„Das ist EDV, meine Damen und Herren! Diese kleinen Löcher, da, das ist Information! Diese kleinen Löcher.“ Daß „ein“ gestanztes Loch den Wert „Eins“ repräsentierte, leuchtete mir noch halbwegs ein, aber daß „kein“ gestanztes Loch den Wert „Null“ darstellen sollte, blieb mir unerklärlich. Wie konnte etwas dargestellt werden, indem es nicht dargestellt wurde? Rätselhaft, aber so war EDV. Der Streifen enthielt übrigens „unauslöschliche Daten! Diese Lochkarte werden wir noch in 50 Jahren lesen können. Sogar in 100, ja in 1000!“ Ich bezweifelte die Prognosen des Matheprofs zwar schon damals, ließ mich aber offiziell zu der Haltung hinreißen, EDV verbessere sich zwar sprunghaft, aber Lochkarten als Trägermedium von Information werde es immer geben. „So eine Lochkarte ist billig und universell lesbar. So eine Lochkarte kann in Helsinki gelesen werden und in Singapur. Nur die Sowjetunion …, die überholt uns nie!“

Für Falter 5/99 vom 3.2.1999 Seite 63.

35 Partagas Superfinos

ILLUSTRATION · DREI ZEICHNER
Wie eine Zeichnung entsteht
ANDREA DUSL
Falter, 4. Juni 1997, 20-Jahre-Beilage pag. 90. Zum Fest „20 JAHRE FALTER“ am 5. , 6. und 7. Juni in der Tribüne Krieau .

Ein strahlender Montagmorgen: Die Zeiger meiner sowjetischen U-Boot-Kommandantinnen-Uhr stehen auf elf Uhr zwölf und ein gut geübtes Ritual nimmt seinen Anfang. Der würzige Geruch einer vollen Kanne frischgebrühten „Alvorada“-Kaffees und ein bekanntes Rascheln wecken mich aus süssen Träumen: Mein Kammerdiener Jacques öffnet zwei Packungen meiner Lieblingszigaretten „Partagas Superfinos, Serie B, No.2″ und legt die Morgenblätter „Der Standard“, „FAZ“, „profil“, „NZZ“, und „Washington Post“ zur Lektüre bereit. Während ich unter drei vorbereiteten Schneidereien – meist „Armani“, „Lang“ oder „Schneidermeister Dick aus Gföhl“ – wähle, füllt Jacques mein „Zippo“ mit frischem Kerosin. Die Morgenmusik besteht stets aus bekannten Klängen: „Low Down“ von J.J.Cale bei bedecktem Himmel, „Crosstown Traffic“ von Jimi Hendrix bei Schneefall oder Hagel, die „Hymne der Sowjetunion“ bei strahlendem Sonnenschein wie heute.

Zur Einstimmung auf den Arbeitstag rauche ich zwei „Partagas Superfinos“, wobei mich Jacques vergebens auf die Gefahren der Nikotinsucht hinweist. Das erste Häferl Kaffee begleitet mich durch die Lektüre der Montagmorgen-Publikationen, das zweite nehme ich während des Studiums einer von Falter-Schlußredakteurin Michaela „Babsi“ Streimelweger verfassten Depesche zu mir. In knappen Worten informiert sie mich darin über Titel und Autor des zu illustrierenden Textes. Jacques stellt eine telephonische Verbindung in die Falter-Redaktion her, weil aus den vorliegenden Millimetervorgaben nicht eindeutig hervorgeht, ob ich zum Anfertigen einer hoch- oder querformatigen Zeichnung eingeladen werde.

Die dritte Tasse Kaffee und mittlerweile fünfte „Partaga Superfino“ widme ich dem Lesen des beigelegten Textes. Einige stilistische und mehrere inhaltliche Inkongruenzen ignoriere ich aus Mangel an Zeit. Jacques hat inzwischen die Formatfrage geklärt und legt den Transparentblock „Diamant Extra Spezial, Nr. 105 glatt, 90/95 Gramm pro Quadratmeter, DIN A3″, den Minenblei „Faber Castell TK-Fine 9717, Stärke 0,7″ zwei Tuschestifte „Staedtler marsmagno 2° in den Stärken 0,35 und 0,18 sowie eine, auf Atomdicke zugeschärfte Rasierklinge bereit. Die Arbeit kann beginnen.

Jede von uns kann zeichnen, das meine ich ganz ernst und ohne polemischen Unterton. Wie nervenzerüttend und von Termindruck, aufgepeitscht das Zeichnen einer Falter-Zeichnung sein kann, weiß außer Rudi [Klein] und Tex [Rubinowitz] allerdings niemand. Sie selbst würden es nie zugeben. Das Zeichnen einer Falter-Zeichnung ist tausendmal anstrengender als das Verfassen eines Falter-Artikels. Ich weiß das, weil ich beides ausprobiert habe. Nichts ist so furchtbar Herz-Kreislauf-belastend, wie das Zeichnen einer Falter-Zeichnung. Einer Falter-Zeichnung sieht man nämlich sofort an, ob sie genial ist oder ein Superschas, einen Falter-Artikel muß man zumindest vorher durchlesen.

Aus einem einzigen Grund konsumiere ich die gefährlich vielen Zigaretten und die enormen Mengen an Kaffee: Jacques, der einzige mögliche Zeuge meiner Qualen soll im Glauben bleiben, meine Aufgerührtheit käme von den aufgenommenen Stimulantia. Jacques, ein Vorbild an Verschwiegenheit zieht sich daher aus Contenance in den Südtrakt meines weitläufigen Appartements zurück, um mir ja nicht das Gefühl zu geben, Mitwisser der zeichnerischen Unruhe zu werden. Der schwierigste Part im Zeichnen einer Falter-Zeichnung ist das Ausdenken der Falter-Zeichnung: Eine gedankliche Leistung, ähnlich der von Gari Kasparov im Kampf gegen Deep Blue. Aus zweieinhalb Milliarden Illustrations-Möglichkeiten muß ich die Beste auswählen. Meine Großhirnrinde leistet jetzt Schwerarbeit. Im Aschenbecher „Eins“, einem blauen Produkt, das ich einst im Stadionbad mitgehen habe lassen, liegen jetzt schon 17 Kippen, im Aschenbecher „Zwei“, einem schwedischen Designerstück, fünf ausgedämpfte und zwei brennende „Partagas Superfinos“.

Ich läute nach Jacques, es ist unser vereinbartes Zeichen, daß die Kaffeekanne Ieergetrunken ist. Mein treuer Diener bringt mir flugs frisches Coffeein und der fade Teil des Morgens kann beginnen. So anstrengend nämlich das Ausdenken einer Falter-Zeichnung ist, so einfach und bizarr unkompliziert, ja geradezu watscheneinfach ist das Zeichnen einer Falter-Zeichnung. Ich muß das ausgedachte Bild nur vom Kopf aufs Blatt projizieren und nachzeichnen. Ich male also ein Kastl in der Größe des gewünschten Formats in die Mitte vom Transparentblock und beginne links unten mit dem Anbringen von Strichlein um Strichlein, Linie um Linie, Zacke um Zacke, Kringel um Kringel. In affenartigem Tempo wandert meine „Zeichenhand“ nach rechts oben, während die „Blockhaltehand“ eigenartige Bewegung durchführt, über die ich keine willentliche Kontrolle habe, weil sie aus einem mir unbekannten Teil des Stammhirns kommt, im Einklang mit der „Zeichenhand“ jedoch fantastisch gerade, höchst leinwand verbogene oder was sonst noch an notwendigen Linien aufs Papier zaubert.

Nach zehn bis elf Minuten ist der ganze Spuk vorbei. Jacques bringt mir ein Frottee-Handtuch und eine neue Packung „Partagas Superfinos“. Die fertige Falter-Zeichnung muß jetzt nur mehr mit grauen Filzstiftpinseln der Marke „Соріс sketch, Cool Gray No. 3 bis No. 7″ getönt werden. Das geschieht auf der Rückseite der halb-transparenten Seite, erstens verwischen sich dabei nicht die komplizierten Tuschestrukturen und zweitens erzeugt es jenes einzigartig seidige Chiaroscuro, für das ich nicht umsonst wahnsinnig viel Kohle aufs Konto gebunkert bekomme. Das graue Gepinsel ist nach vier Minuten beendet. Mit einem Paar Scissoren schnipple ich noch verräterische Nebenzeichnungen, meist Buchstabenkombinationen, die im Wort AUTO gerne vorkommen, weg und klebe das fertige Werk auf ein billiges, aber strahlend weißes Tuschblatt.

Jacques bringt mir meine auf Hochglanz polierten Schuhe, steckt die Falter-Zeichnung in eine schwarze Mappe mit rotem Gummizug, diese in meinen Rucksack, hilft mir beim Schultern desselben und begleitet mich in den Hof. Dort wartet mein Mountain-Bike mit, von Jacques frisch aufgepumpten Reifen, kontrollierten Bremszügen und vorgewärmtem „Rennsattel schmal“. Weder einem Boten noch der Post, und auch Jacques nicht, würde ich die wertvolle Fracht anvertrauen. Ich bringe meine Falter-Zeichnung selbst im stärksten Regen persönlich vorbei. Außerdem würde ich es mir nie nehmen lassen, im Falter jenen Eindruck von Lonely-rider-is-bringing-the-hottest-news zu erzeugen, für den auch mein Freund und Nudlaug Heribert Corn – der mit der knatternden BSA – zu Recht berühmt ist. Im Falter erwartet mich Empfangs-Chef Josef Egger mit einem freundlichen „El Hamdullilah, Königin Dusula!“ und Michaela „Babsi“ Streimelweger mit einem, nur uns beiden vertrauten „Seawas, Triksi“.

Türme

Die hervorragenden 10

Andrea Dusl, Essay, Ikarus 1989, pagg. 119ff.

Der Turm als Instrument, Gottes Nähe zu spüren, mußte nicht erst erfunden werden. Schon seit Urzeiten baut die Menschheit zu Kult- und Aussichtszwecken erregt Phallisches. Andrea Dusl hat für IKARUS die zehn wichtigsten Türme beschrieben und gezeichnet.

ALS DIE BABYLONIER damit begannen, aus Lehmziegeln und Erdpech ihren Turm zu errichten, haben sie – so Moses in der Genesis – noch eine gemeinsame Sprache. Aber Gott beschloß, die Himmelsstürmer, die sich an das Unerreichbare heranwagten, wieder auf die Erde zu holen. „Er verwirrte ihre Sprache, sodaß keiner mehr die des anderen verstand.“

Die einer gemeinsamen Zunge Beraubten zerstreute er von dort über die ganze Erde. Ihren Turmbau stellte er ein. Daß der Turmbau vor allem mit dem lieben Gott zu tun hat, beweisen die Kirchtürme des Abendlandes genauso wie die Mina- rette der Mohammedaner oder die über Knochenfragmenten des Buddha aufgetürmten Stupas.

Das Empire Building: Ecke Fifth Ave./34th Street; 60.000t Stahl, 10 km Wasserleitung, 5.630 km Telefonkabel, 72 Fahrstühle, 381 m hoch, mit Antennenturm 448,7 m

Die Frage, ob denn Türme und Menhire, die phallischen Obelisken und Siegessäulen nicht bloß Männlichkeitssymbole eines Kulturgrenzen sprengenden Weltpatriarchats seien, muß nicht gestellt werden: Natürlich sind sie es. Türme werden zwar nicht nur unbedingt für, aber ausnahmslos von Männern errichtet. Welcher Sohn Adams den ersten Turm gebaut hat, läßt sich nicht feststellen. Aber: Der Turm als Instrument, Gottes Nähe zu spüren, mußte nicht extra erfunden werden. Schon seit Urzeiten haben die Menschen olympische Höhen zu Kultzwecken bestiegen oder aus der Ferne verehrt. Wo es keine Berge gab, wurden welche gebaut. Wenngleich die Pyramiden der Ägypter und die Zikkurate der Sumerer nicht gerade dem entsprechen, was wir mit dem Wort „Turm“ bezeichnen würden, müssen sie als solche verstanden werden.

Die etymologischen Wurzeln des deutschen „Turm“ (spätalthochdeutsch: „torn“) führen über den Umweg des französischen „tour“, dem die Angelsachsen ihr „tower“ verdanken, zum lateinischen „turris“. Aber auch die Römer haben das Wort nur von den Griechen entlehnt.

Ihr „tursis“, das eine befestigte Stadt, aber auch ein von Mauern umgebenes Haus bezeichnete, schlägt eine sprachliche Brücke zu den nicht indogermanischen, aber Burgen und Städte bauenden Etruskern, dem Volk der Türme.

Den Tursi, Tursci, E-Truski, wei die Vorfahren der Toskaner, Tuscaner von den den Turmbau nicht betreibenden Griechen und Latinern genannt wurden, verdankt auch das „Tyr“rhenische, Thyrsenische Meer seinen Namen.

Die Turmstädte der Toskana, von deren früherem Aussehen uns San Gimignano noch ein eindrucksvolles Bild gibt, stehen also in einem Gebiet uralter Turmbautradition.

„Pyrgos“, das eigentliche griechische Wort für Turm, zeigt in eine ganz andere Richtung: Die uralte Silbe „pyr“ bezeichnet auch alles, was mit dem Feuer zu tun hat. Ein altes Rätsel der Sprachforscher, nämlich, was der Turm mit dem Feuer zu tun hat, läßt sich indes ganz leicht lösen: Die Kunstberge des Zweistromlandes, die sumerischen und Babylonischen „Türme“, wurden aus Ziegeln gebaut. Die werden bekantlich im Feuer gebrannt.

Daß ein Turm selten allein steht, scheint eine Regel zu sein, die auf einer Mittelmeerinsel ganz gewaltige Ausmaße angenommen hat. Die Nuraghen Sardiniens, 150 vor unserer Zeitrechnung errichtete, runde Steintürme, wurden von einem Hirtenvolk zu vielen Tausenden erbaut.

Der Wettstreit um den höchsten Turm ist aktueller denn je. New York und Chicago haben ihn noch nicht ausgefochten. Den um den schönsten hingegen haben die gotischen Dombaumeister der Alten Welt längst und für alle Zeiten gewonnen.

Die Türme des Ostens, die Pagoden und Stupas, haben sich aus Erdhügeln zu mehr als hundert Meter hohen, komplizierten Steinkaskaden entwickelt.

Wo der schönste steht, wo der älteste, welcher am berühmtesten ist und welcher am wahnsinnigsten, soll im folgenden beantwortet werden.

1

Der Berühmteste.

Der schiefe Turm von Pisa

Der wohl bekannteste Turm aller Zeiten ist auch einer der schönsten. Wie wenig seine Neigung allein das Archetypische seiner Erscheinung ausmacht, zeigt ein Vergleich mit anderen „schiefen Türmen“. Die „Torre degli Asinelli“ und die „Torre Garisenda“, zwei Bologneser Geschlechtertürme, haben kaum lokale Bedeutung.

„Piazza dei Miracoli“, Platz der Wunder, heißt die noch heute am Rande Pisas gelegene Wiese des Dombezirks. Wenn das Meer – heute nicht mehr in unmittelbarer Nähe der Stadt wie noch zu Zeiten der Seerepublik – Pisa in einen zartschwebenden weißen Morgenschleier hüllt, mag man sich in ein orientalisches Märchen versetzt vorkommen. Gäbe es die berühmte „Torre Pendente“, den schiefen Turm, nicht, wäre Pisa allein für seinen weißmarmornen Dom und das Spitzengeflecht des Baptisteriums vom Nimbus der Einzigartigkeit bestrahlt. 3 Millionen sind es jährlich, die den nicht ungefährlichen Aufstieg auf den stark geneigten Turm wagen, mehr als zehn, die von einer der sechs ungesicherten Gallerien in den Tod springen.

Den Dom und den Campanile finanzierte das mächtige Pisa einst mit der reichen Beute, die seine Flotte 1063 den Sarazenen Palermos abnahm. Mit dem Bau des Turms beginnt Bonanno Pisano 1173, aber schon nach fünf Jahren – drei Geschosse waren bereits ausgeführt – erzwangen Bodensetzungen eine Einstellung des Baus. Erst ein Jahrhundert später, die geplante Höhe von 100 Metern konnte nicht mehr angestrebt werden, führte Giovanni di Simone die Arbeit weiter, die Neigung des – heute 56 m hohen – Turms glich er durch eine Krümmung in die Gegenrichtung aus, weswegen der Turm oft respektlos „die Bohne“ genannt wird. 1,5 mm wandert der weiße Turm jährlich dem Abgrund seines Umsturzes entgegen. Obwohl dieser „point of no return“ für die nächste Zukunft nicht erreicht wird, leben die Pisaner in ständiger Angst, eines Tages zur Stadt der „torre caduta“, des gefallenen Turms, zu werden.

Das Unaussprechliche einmal angenommen: Die Pisaner würden es wohl den Venezianern gleichtun, deren Campanile 1902 eines frühen Morgens ohne Vorankündigung einstürzte.

Sie würden ihn wieder aufbauen, „com’era e dov’era“, wie er war und wo er war.

2

Der Einträglichste.

Der Eiffelturm

So unbestritten der Eiffelturm heute Bestandteil von Paris ist, so gespalten war das Urteil der Zeitgenossen über den Stahlgiganten. „Eine widerliche Säule aus verschraubtem Blech“ nannten die entrüsteten „Schriftsteller, Maler, Bildhauer und Architekten“ des bis dahin unversehrten Paris das Turmgerippe, „ein Beweis für den Triumph des Stahls über Ziegel und Stein“ war er für den Brückenbauer Gustave Eiffel. Ganz in der Tradition antiker Baumeister, die auch für ihre Bauten persönlich hafteten, errichtete Eiffel, der den Wettbewerb um die Errichtung eines Aussichtsturms für die Weltausstellung 1889 gewonnen hatte, die turmgewordene Eisenbahnbrücke.

Für die Stahlgerippe wurden 1700 Pläne gezeichnet, auf 3629 Zeichnungen waren die 18.038 Teile detailliert und millimetergenau vermaßt. Hunderttausende Winkel wurden ohne Computer berechnet, 2.500.000 Nieten von Hand geschlagen, aber schon nach zwei Jahren und vier Monaten, am 15. Mai 1889, war der Triumph der modernen Technik fertiggestellt.

Trotz der Begeisterung während der Weltausstellung – mehr als zwanzigtausend, zwei Millionen insgesamt, hatten seine Aussichtsplattform gestürmt – riß die Kritik an dem „Schandmal von Paris“ nicht ab, und noch 1900 wurde ernsthaft verlangt, den Turm abzubrechen.

Finanziell war der Riesenspitz alles andere als ein Desaster: Bereits nach einem Jahr – Eiffel waren die Einträge der ersten zwanzig Jahre zugesagt worden – hatte er die Kosten seiner Errichtung durch Eintrittsgelder wieder hereingebracht. Noch heute, im Zeitalter des Mondfluges und der vielhundert Meter hohen Funktürme, gilt der Eiffelturm als technisch vorbildliches Bau-werk; die Ausbiegung des Turmkopfes beträgt selbst bei Stürmen nicht mehr als 7 cm. Die Ausbiegung durch Wärme während eines heißen Sommertages ist mit 15 cm etwa doppelt so groß.

Die Aussicht vom 300 Meter hohen Turm erlaubt an klaren Herbsttagen einen Blick in die Vergangenheit: bis nach Chartres mit seinen gotischen Kirchtürmen.

3

Der Biblische.

Der Turm von Babylon

„Auf, sagten sie, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel…“ (Moses, Genesis 11,3) – Aber der Herr verwirrte ihre Sprache und sie zerstreuten sich über die ganze Erde..

Als Herodot 460 v. Chr. das von Xerxes zerstörte Babylon besuchte, konnte er nur mehr von den Ruinen des gewaltigen Kultberges berichten. Seit biblischen Zeiten umgibt den Turm von Babel der Mythos der Einzigartigkeit. In Wahrheit war er jedoch kein außergewöhnliches oder einmaliges Bauwerk. Die ersten Zikkurate (semitisch: die „Hochragenden“) entstanden 2000 Jahre vor dem babylonischen Turm; bekannt sind die von Ur, Uruk und Nippur, als deren Wiederholung wurde der Turm zu Babel zwischen 2057 und 1753 v. Chr. erstmals kleiner errichtet, mehrmals zerstört, aber immer wieder am selben Ort aufgebaut. Nebukadnezar II. (605-562 v. Chr.) baute Babylon zur größten und prächtigsten Stadt der Welt aus. Von den sieben Stufen des Turms entsprachen die gewaltigen beiden untersten der Sonne und dem Mond, die nachfolgenden vier und der Tempel Marduks, des höchsten Gottes der Babylonier, den fünf Planeten.

Der berühmteste Turm ist schief, der utopischste wäre „one mile high“, der schönste aber steht in Wien.

Den mit blauglasierten Ziegeln und goldenen Zinnen gekrönten Tempel durften nur hohe Priester betreten. Ein goldener Tisch mit den köstlichsten Speisen Sündenbabels und eine Liegestatt standen bereit, Jungfrauen erwarteten Tag und Nacht die irdischen Vertreter Gottes, um mit ihnen die Zeit zu teilen. Als Alexander der Große 331 die Stadt besetzte, war sie zwar noch immer die schönste und größte, der Turm jedoch zerstört. Dem Plan, Babylon zur Hauptstadt seines Weltreiches auszubauen und den Turm wiederzuerrichten, setzte nur Alexanders früher Tod eine Ende.

Unser heutiges Bild vom Aussehen des Turms verdanken wir dem Deutschen Robert Koldewey, der die noch heute sichtbaren, fußballfeldgroßen Grundmauern zu Beginn unseres Jahrhunderts entdeckte. Seinen Rekonstruktionen zufolge standen die goldenen Betten der Mardukpriester auf einem gewaltigen, aber recht soliden Untergrund: nicht weniger als 85 Millionen Lehmziegel!

4

Der Wolkenkratzer.

Das Empire State Building

Wie weit in den Himmel hinein das höchste Haus der Welt ragt, wurde den New Yorkern an einem nebligen Novembermorgen des Jahres 1945 bewußt, als ein B-52-Bomber, vom Kurs abgekommen, ins 78. und 79. Geschoß des Empire raste, sieben Wände durchschlug, und 16 Menschen ums Leben kamen. Die Standfestigkeit des Riesenturms blieb unbeeinträchtigt.

Der Baubeginn – mit dem Aushub beginnt man 1930 – fällt in eine Zeit weltwirtschaftlicher Kreditschwierigkeiten, und umso erstaunlicher ist die Tatsache, daß das Stahlskelett in nicht mehr als 23 Wochen hochgezogen wird. Dreitausend Arbeiter sind täglich am Werk, unter ihnen viele Indianer von den Stämmen der Irokesen und Mohikaner; deren völlige Schwindelfreiheit macht sie zu hochqualifizierten Facharbeitern. Am 11. April 1931 ist das bis heute am schnellsten errichtete Hochhaus fertig und bleibt 42 Jahre das höchste Gebäude der Welt. Erst die beiden Zwillingstürme des World Trade Center übertreffen in den siebziger Jahren seine 381 mit 415 und 417 Metern. Die derzeit höchsten Gebäude sind der „Cn Tower“ in Toronto, ein Fernsehturm, der 555 Meter in den Himmel ragt, und der als das höchste Haus geltende, 443 Meter hohe Sears Tower, eine unelegante turmgewordene Scheußlichkeit, die eher dem Bilanzprogramm eines Second-Hand-Atari entsprungen zu sein scheint als dem Reißbrett eines Architekten.

Der Kampf um das höchste Gebäude, den traditionell die Städte New York und Chicago ausgefochten hatten, hat an Bandbreite gewonnen: Auch Houston/Texas und Phoenix/Arizona beteiligen sich mit Turmprojekten gewaltiger Höhe an dem Wettstreit, „wer kann am höchsten…“.

Seit Donald Trump in die Fußstapfen von Howard Hughes getreten ist, meldet sich auch New York wieder an die Front zurück: Mit seiner Television City, deren höchster Turm fast 600 Meter erreichen soll, will der New Yorker Multimilliardär endgültig Klarheit in die Frage bringen, wo der höchste Wolkenkratzer der Welt wirklich zu Hause ist.

Am Michigansee planen die Chicagoer unbeeindruckt weiter

„ihr“ World Trade Center. Unklar ist noch, ob es 701 oder 726 Meter hoch werden soll.

Der schönste aller Wolkenkratzer ist ohnehin das Chrysler Building, eine Art-Deco-Spitze, die sich mit den schönsten gotischen

Kirchtürmen messen kann.

Das „Ding an sich“, auch darüber kann kein Zweifel sein, bleibt das Empire, für dessen Schlichte, aber kompetente Eleganz das Wort „cool“ neu erfunden werden müßte.

5

Der Schönste.

Der Stephansturm in Wien

Als die Türken 1529 Wien belagerten, ging es nicht nur darum, das Abendland im heiligen Krieg zu erobern, sondern auch darum, ein das Maß ihrer Vorstellungen sprengendes Bauwerk in ihren Besitz zu bringen: das höchste und prächtigste Minarett der Christenheit, gekrönt von einem gewaltigen goldenen Apfel.

Heinrich II. Jasomirgott, der seine Residenz einst nach Wien verlegte, ließ eine hier bereits bestehende Kapelle zur Kirche umgestalten. (An der Stelle des Doms war immer schon ein Heiligtum gestanden, ein keltischer, später ein römischer Tempel.)

1359 legte der Habsburger Rudolf der Stifter die Grundsteine zu Langhaus und Südturm. Trotzdem sollte es bis 1433 dauern, bis Hans von Prachatitz den zu seiner Zeit höchsten Turm der Welt vollendete. Rätselhaft bleibt die Tatsache, daß er mit 137 Metern exakt die Höhe des seit ewigen Zeiten höchsten Bauwerks, der Cheopspyramide, erreichte. 1439 löste ihn der ausgebaute Straßburger Münsterturm mit 143 Metern als höchster Turm ab. Die Vierungstürme von Rouen (150 m) und Beauvais (153 m), ein Jahrhundert später erbaut, übertrafen Wien und Straßburg, stürzten aber bald ein oder brannten ab. (Die Höhe, die der hölzerne Spitzturm der alten St. Paul’s Kirche in London mit 149 Metern gehabt haben soll, wird stark angezweifelt.)

Siebzehn Jahre nach Vollendung des Südturms schritt das abendländische Wien an die Erbauung eines zweiten, noch höheren Turms, der jedoch später das Schicksal des Prager Veitsturms teilen sollte: Beide blieben Turmstümpfe. (Der Veitsturm war schon über 140 m hoch, als er einstürzte.) Der „Steffl“, wie ihn die Wiener liebevoll nennen, entging nicht nur der Zerstörung durch türkisches und napoleonisches Geschützfeuer, sondern auch dem satanischen Plan einer SS-Einheit, den Dom und seinen Turm lieber zu sprengen, als ihn dem Feind zu überlassen. Als die Bombenangriffe auf Wien zunahmen, hatten sich regelmäßig Tausende Wiener Frauen statt in den Luftschutzkellern im Dom versammelt, um die Bombenschauer regelrecht „abzubeten“.

Wie erfolgreich ihnen das gelang, zeigt eine Karte der Bombentreffer der Inneren Stadt: Rund um den Dom liegt eine Perlenkette von Einschlägen. Den Dom selbst traf keine einzige Bombe. (Den Brand des riesigen Dachs, eines Meisterwerks gotischer Zimmermannskunst, löste der Funkenflug von den brennenden Grabenkaufhäusern aus.) Der Turm blieb unversehrt und gilt nach wie vor als das „schönste Minarett der Christenheit“.

1. Der babylonische Turm, ca. 562 v. Chr. fertiggestellt, 80 m.  2. Die Cheopspyramide, 147 m.  3. Der Pharos von Alexandria, 280 v. Chr. erbaut, 1326 eingestürzt, ca. 140 m. 4. Der schiefe Turm von Pisa, 1173-1350 erbaut, 56 m. 5. Der „Steffl“ in Wien, ca. 1359-1433 erbaut, 137 m. 6. Die Schwedagon Pagode in Rangun, 11.-15. Jh. erbaut, ca. 100 m. 7. Das Empire State Building in New York, 1930/31 erbaut, 381 m hoch, mit Antenne 449 m. 8. Der Eiffelturm in Paris, 1887-89 erbaut, 300 m, mit Antenne 320 m. 9. Der Manglaturm in Siena, 1338-49 erbaut, 102 m. 10. Der Salzturm von Aussee, 15. Jh., nie erbaut, 162 m. 11. One Mile High Tower, 1956 geplant, 1584 m (im Maßstab der Zeichnung würde er 100 cm über den Blattrand hinausragen).

 

 

6

Der Stolzeste.

Die „Torre del Mangia“ in Siena

Von den Türmen der Toskana ist er der stolzeste. Obwohl er an einer der niedrigsten Stellen der Stadt errichtet wurde, überragt er alle anderen Türme der Stadt. Die Ähnlichkeit mit dem Turm des Palazzo Vecchio in Florenz ist kein Zufall: Bis in die Antike zurück führt die Rivalität zwischen Florenz und Siena, dem etruskischen Saiena. Ihren Höhepunkt erreichte diese Erbfeindschaft in den fortwährenden Fehden ghibellinischer Sienesen und guelfischer Florentiner. 1314 krönten die Bürger der Arnostadt den monolithischen Block ihrer Rathausfestung mit einem zinnenbewehrten, 300 Fuß hohen Turm. So weit waren die stolzen Sienesen noch nicht. Dreizehn Jahre hatten sie zwar an ihrem wesentlich eleganteren Palazzo Publico gebaut, aber weitere 24 sollten vergehen, bis den Florentinern mit einem ungeheuren Turmprojekt geantwortet wurde: ein 333 Fuß (102 m) hoher Turm, höher und schlanker als der der Florentiner.

Nicht weniger als acht Architekten planten den gigantischen Menhir. Als die Stadtregierung das kühne Projekt zum ersten Mal sah, wollte sie nicht glauben, daß ein Bauwerk dieser Höhe werde halten können, die Künstler mußten beteuern, daß er in Ewigkeit stehen werde. Erst unter der Abgabe schriftlicher Ehrenworte, der Turm werde nicht einstürzen, wurden die Baumeister mit der Errichtung der Torre beauftragt. Das Ehrenwort wurde nicht gebrochen, der Turm, in elf Jahren hochgezogen, ist inzwischen 640 Jahre alt und denkt nicht daran einzustürzen. Seinen Namen bekam er vom Glöckner „Mangiaguadagni“, der auf ihm mit einem Hammer die Stunden schlug. Die große Glocke von 1666 ist der Maria Assunta geweiht und wird im Volksmund „Sunto“ genannt.

Zweimal im Jahr bewacht der Mangiaturm das wohl berühmteste Pferderennen der Welt, den Palio, der in seinem Schatten auf der muschelförmigen Piazza del Campo ausgetragen wird.

7

Der Goldenste.

Der große Stupa in Rangun

Der Bau der Swedagon-Pagode im burmesischen Rangun geht nach der Legende auf Siddharta Gautama, wie Buddha mit richtigem Namen hieß, zurück. Schon im elften Jahrhundert hatte die Riesenglocke eine Höhe von 90 Metern, immerhin die Höhe des babylonischen Turms, erreicht. Der Ursprung der Stupas geht bis in älteste Zeiten zurück, vorerst waren sie primitive Grabhügel, die, immer reicher und kostbarer, meist über Reliquien des Buddha errichtet wurden. Das sanskritische Wort „stupa“ entstammt der indoeuropäischen Sprach-Ursuppe; selbst in den entferntesten Gegenden Europas taucht das Wort auf. Es reicht vom altisländischen „stupa“- „emporragen“ – bis zum englischen Wort „steep“ für „steil“, auch unsere Worte „steif“ für „emporragend“ und die „Stufe“, die ja auch „nach oben“ führt, sind also mit den Türmen Buddhas verwandt.

Die Kostbarkeit der Swedagon-Pagode als religiöses Heiligtum kann nicht festgestellt werden, der Wert ihrer 8688 Goldplatten soll jedoch den der Bank von England übersteigen. Die Spitze des Stupa ist mit 5448 Diamanten belegt, 2317 Rubinen, ungezählten Saphiren und Topasen. Den Gipfel krönt ein zehn Meter hoher Schirm, dem Sonnenschirm des Papstes vergleichbar, an dessen 7 vergoldeten Stangen 1065 goldene und 420 silberne Glocken hängen. An der Spitze des Schirms wiederum ist ein riesiger Smaragd angebracht, der die letzten und ersten Sonnenstrahlen einfängt.

8

Der Wahnsinnigste.

Der Salzturm von Aussee

Man schreibt das Jahr 1495, Christoforo Colombos Entdeckung des falschen Indiens liegt erst drei Winter zurück, Maximilian I. ist zwar deutscher König, aber noch nicht Kaiser, da stoßen die Spaten dreier Salinenarbeiter auf eine versunkene Welt.

An der uralten Paßstraße, die vom Pötschen, einem kleinen Sattel zwischen Oberösterreich und der Steiermark, nach der prosperierenden Salzstadt Aussee führt, läßt Hans Herzheimer die Fundamente für einen Stadel ausheben. Herzheimer ist Salzverweser, im besten Mannesalter, der mächtigste und ideenreichste Mann des Tales. Der von seinen Arbeitern herbeigerufene Herzheimer merkt schnell, daß die Steinmauern, die sechzehn Fuß in die Tiefe führen, mehr getragen haben müssen als ein schlichtes Bauernhaus. Die römischen Inschriften und einige Reliefsteine sind in einer Sprache geschrieben, die selbst dem des Lateinischen kundigen Herzheimer unverständlich bleiben. Die geheimnisvolle Entdeckung soll sein ganzes Leben verändern. – Die Ausgrabung wird vorerst mit einem riesigen Stadeldach überdeckt und geheimgehalten.

Obwohl ihn seine Geschäfte als Berater von Friedrich III. und als Kriegsgefährte des jungen Maximilian mehr als beanspruchen, keimt ein Plan von utopischen Dimensionen. Bei den auf seinen Gründen ausgegrabenen Mauern, so schließt er nach Gesprächen mit Dombaumeistern, Ingenieuren und humanistischen Gelehrten, denen er sein Geheimnis nicht enthüllt, müsse es sich um die Fundamente eines gewaltigen – aus welchen Gründen auch immer – nicht gebauten keltisch/römischen Turms handeln.

Seine Frau Margarethe hat ihm statt eines Stammhalters elf Töchter geboren, die er – noch immer ohne Sohn, aber inzwischen zu einem frühkapitalistischen Finanzmagnaten fuggerschen Ausmaßes geworden – in die besten Häuser Österreichs vermählt.

Herzheimer finanziert mit den Erträgen seiner Bergwerke vorerst die erfolglosen Kriegsunternehmungen seines Ritterfreundes Maximilian; der Gedanke, keinen Sohn in die Welt gesetzt zu haben, läßt den inzwischen menschenscheuen Eremiten immer mehr Geldmittel in sein Turmprojekt umleiten. Immer neue Entwürfe eines über 150 Meter hohen, das gesamte Wissen seiner Zeit enthaltenden Turms fertigt er an. Eine astronomische Uhr gibt er in Auftrag, riesige Mengen von Elfenbein, Zirbenholz, ja selbst Gold hortet er in seiner kleinen Stadtburg, und er läßt Dutzende marmorne Säulen anfertigen.

Als Herzheimer 1532 als verarmter Greis stirbt, hinterläßt der „Howard Hughes“ der beginnenden Neuzeit ein niemandem zugängliches Chaos an Entwürfen und Berechnungen. Sein Erbe wird in alle Winde zerstreut. Der Turmstumpf, von dem schon sieben Meter stehen, wird im Laufe der nächsten zwei Jahrhunderte als Steinbruch verwendet und fast ganz abgetragen. Auf dem Hügel, den es heute noch gibt, wird später der Dichter Nikolaus Lenau sitzen, ihn, ohne den Grund zu kennen, als bevorzugten Ort aufsuchen, um seinen Weltschmerz zu kurieren.

Das Blut Herzheimers, der so gerne einen Sohn gehabt hätte, trugen seine elf Töchter indes in die vornehmsten Familien. Es rauscht in den Adern der Trauttmansdorff, Schwarzenberg, Thurn und Harrach.

9

Das Weltwunder.

Der Pharos von Alexandria

Für die Griechen und Römer der Antike war der Turmbau kein Thema von besonderer architektonischer Bedeutung. Ihre Türme waren Wachtürme, die, wenn überhaupt, kaum die Höhe der Festungsmauern überstiegen. Mit der Idee des Turms wurde ein Grieche allerdings im biblischen Babylon infiziert: Der wiedererrichtete babylonische Turm sollte Alexander des Großen neue Reichshauptstadt zum Mittelpunkt der Welt machen.

Den in Babylon nicht durchgeführten Plan trug Sostratos, Alexanders Generaladjunkt, nach dessen Tod Satrap, nach Ägypten.

Auf der kleinen Insel Pharos, die Alexandria, der ersten Gründung Alexanders, vorgelagert ist, ließen Ptolmäus I. und sein Nachfolger Ptolmäus II. eines der Weltwunder der Antike errichten. Eine 340 Meter im Quadrat messende Terrasse sollte das ungeheure Gewicht aufnehmen und der gigantische Steinturm in drei übereinander sich erhebenden Türmen gebaut werden. Ein viereckiges, 70 Meter hohes Grundgeschoß trug einen 38 Meter hohen zweiten Turm, dem eine runde Spitze aufgesetzt war: Deren kegelförmiges Dach trug eine Statue des Meeresgottes Poseidon, nach anderen Bericht eine des Zeus.

Die Fassade des Pharos war mit blendend weißen Marmorplatten verkleidet, seine Höhe überstieg mit mehr als 140 Metern die eines anderen Weltwunders in nächster Nähe: der Pyramiden von Gizeh, mehr als 2000 Jahre vor ihm von ägyptischen Steinmetzen errichtet. Das Leuchtfeuer in seiner Spitze ist vermutlich erst 400 Jahre nach seiner Erbauung eingerichtet worden.

Als der Wunderturm 1326 bei einem Erdbeben einstürzte, hatte er 1606 Jahre gestanden und war nicht nur Vorbild der islamischen Minarette: Die Dombaumeister des christlichen Abendlandes hatten das Wissen der Alexandriner Bauhütte in ihren geheimen Logen über Jahrhunderte weitergegeben.

Ein Beweis dafür ist der Gipfel gotischer Turmbaukunst, der Wiener Stephansturm: Er ist bis in kleine Details der mit gotischem Vokabular neuerbaute Pharos.

Welche Kontinuität über Kontinente und Jahrtausende!

Aus den Resten des eingestürzten Leuchtturms wurde 1480 ein Fort gebaut, das bis auf wenige Änderungen heute noch zu besichtigen ist.

10

Der Utopischste. 

Frank Lloyd Wright’s One Mile High Tower

„Ein Schwert mit einem Griff, so breit wie die Hand, fest im Boden verankert, mit der Klinge nach oben gerichtet … Würde mein Entwurf kunstgerecht ausgeführt, stünde das Gebäude länger als die Pyramiden…“ 

Als Frank Lloyd Wright 1956 sein spektakuläres Zukunftsprojekt eines über 1600 (!) Meter hohen, außerordentlich spitz zusammenlaufenden Turms vorstellte, befand er sich selbst schon längst im Olymp der Architektur. Warum das Projekt nicht verwirklicht wurde – technisch war es durchaus möglich – bleibt ebenso rätselhaft wie die Tatsache, daß einer der schärfsten Kritiker von Hochhäusern eine Nadel von solch gewaltiger Höhe geplant hatte.

Das turmartige Riesengelände, das mehr als viermal so hoch gewesen wäre wie das zu seiner Zeit absolut höchste, das berühmte Empire State Building, hätte nach den Vorstellungen seines Schöpfers vorwiegend Wohnzwecken dienen sollen.

Eines ist sicher: Wäre er gebaut worden, der „Illinois Mile High“ wäre auf jeden Fall von allen Türmen der schönste geworden. Und viele hätten ihn gesehen: Der (im wirklichen Sinn) Wolkenkratzer wäre noch in unglaublichen 173 km Entfernung sichtbar gewesen. Den noch immer offenen Wettstreit um der Welt höchstes Gebäude hätte Chicago damals wohl für ewige Zeiten für sich entschieden.

Wien am Inn

Andrea Dusl
Essay, FORVM, Oktober 1986, pagg. 37ff.

Dem Weichbild der Wienerstadt steht eine Schönheitsoperation ganz besonderer Art bevor. Die Umwandlung ihres größten, berühmtesten und in diesem Sinn eigentlich einzigen Fließgewässers in ein Fäkaliensammelbecken mit benachbarter Badegelegenheit. Die letztere, in Ergänzung zum Gänsehäufl – immerhin dem ältesten Strandbad Europas – besteht schon. Wie der Stau verhindert werden kann, steht auch schon fest. Wien wird an den Inn gelegt. A. D.

Papa Erwin Dusl.

„Letzte Donaumetropole, bevor sie Budapest erreichen“ steht auf einem Nußdorfer Straßenschild. Das kann nur ein Wiener geschrieben haben. Der Wiener ist nämlich ein böser Mensch, auf alles ist er bös‘, am meisten natürlich auf sich selbst. Und des Wieners Lieblingstugend ist dementsprechend der Haß. Wenn aber der Wiener etwas mehr haßt als sich selbst und die anderen Bewohner seiner taubenverschissenen Stadt oder eben diese selbst, die seinen Haß gebiert, ihn hegt und pflegt, dann ist es das Wasser. Nichts haßt der Wiener mehr als das Wasser.

Im Wienerwald entspringen gut zwei Dutzend Bäche, die einmal alle durchs heutige Wien flossen. In jedem Heurigenort „draußt'“ ereilt sie das gleiche

Schicksal: Kaum an der Stadtgrenze angekommen, mutieren sie zu Känälen. Unterirdisch und verdrängt in jedem Sinn des Wortes, fließen sie einem anderen Kanale zu, dem Donaukanal. Auf ihrem Weg durch Wien bilden sie eines der ausgedehntesten Kanalsysteme der Welt, das immerhin so berühmt ist, daß Millionen Westmenschen Wien mit

dem Dritten Mann identifizieren so wie Australien mit dem Känguruh. Den Donaukanal, angereichert durch Wiens Abwässer und Bäche, halten sie dann auch für die Donau, so wie sie ihre Filme vor der Votivkirche verschießen, die sie für den Stephansdom ansehen. Bei der Urania, wir werden die wahre Bedeutung dieses Wortes noch erkennen, stößt der korsettierte Wienfluß dazu, gemeinsam geht’s jetzt an Erdberg und Simmering vorbei, Richtung Winterhafen, der regulierten Donau zu, die dann noch ein wenig umkämpften Auwald sieht, bevor sie im neuen österreichisch-ungarischen Stausee bei Nagymaros endet.

Die Geschichte der wienerischen Wasserverdrängung1 ist älter, als man zunächst vermuten könnte. Die große – wahrhaft barbarische – franzisko-josephinische Monumentalverdrängung, vulgo Generalregulierung, steht erst am Ende einer langen Reihe von Bach- und Flußverlegungen. Inwieweit ein Zusammenhang besteht zwischen dem Regulierungswahn Franz Josephs und der Tatsache, daß er der einzige barttragende Imperator Augustus habsburgischen Stammes ist, kann hier nicht völlig geklärt wer-den. Beides, Barttragen und Wasserverdrängen, könnte neurotischen Ursprungs sein:

Der Bart des Kaisers hatte unter dem Kinn eine breite Schneise, die Franz-Joseph-Bartrasur. Diese mag dem Habsburger notwendig geworden sein, um dem gesellschaftlich untragbaren Fauxpas des Bartbeschmutzens beim Essen und Trinken zu begegnen. Der auf Jugendportraits evidente Überbiß des Kaisers erklärt nicht nur diese kaiserliche Unpäßlichkeit, sondern nährt auch die nicht enden wollende Zahl der Gerüchte über eine eventuell unstandesgemäße, nichthabsburgerliche Abstammung Franz Josephs. (Über deren Richtigkeit ich mich eines Urteils enthalten muß.)

Immerhin – wäre Franz Joseph Träger der Habsburgerlippe gewesen, würden sich diese Überlegungen erübrigen. Auch Franz Josephs neurotisches Getue um die nicht standesgemäßen Liaisonen seiner nächsten Verwandten, die ja in allen Fällen katastrophalen Ausgang nahmen, wäre so erklärbar. Um nicht noch bürgerlicher zu werden, oder umgekehrt ausgedrückt, um womöglich der eigenen Existenz als Fehltritt der bayerischen Mutter (was FJ durchaus nicht gewußt, aber geahnt haben könnte) auf dem Wege der Auffrischung durch anderes Königsblut zu begegnen, war ihm jedes Mittel der Durchsetzung von „standesgleichen“ Verbindungen recht. Franz Josephs Nachkommen hielten sich, bar solcher Abstammungsneurosen (ohne es zu wissen), aber lieber unter ihresgleichen, den weniger kaiserlich-königlichen auf. FJ selbst hat nicht nur die landfrische Sisi zur Kaiserin gemacht, sondern war ein passionierter Verehrer der bürgerlichen Frauen2.

So steht also der Vermutung nichts im Wege, daß das Antlitz des imperialen Wien Emanation des francisco-josephinischen Gesichtsschmuckes ist. Bekanntlich haben ja in Wien die kleinsten Ursachen durchaus die größten Wirkungen. Die historische Größe Franz Josephs wird durch diese Überlegungen nicht geschmälert.

Aber Franz Joseph war nicht der erste Bachverleger. Schon Herzog Leopold VI., der als Babenberger dem entspricht, was FJ I als Lothringer Habsburger war – Leopold hatte Wien zur größten Stadt des römischen Reichs gemacht -, verlegte großzügig. Unter seiner Herrschaft wurde Wien endlich vom lästigen Ottakringerbach, der über Minoritenplatz und Tiefen Graben der damals noch nahen Donau zufloß, befreit. Das enge Wien brauchte Platz, und so wurde der Bach aus der Stadt gelegt und sein Wasser nach Osten zur Wien und ihren vielen Mühlen geleitet. Auch Als und Ulrichsbach wechselten wiederholt das Bett. Nach jeder größeren Überschwemmung wurden Wiens Bäche durch Bettverlegung bestraft. Da die Wiener Bäche ja eigentlich Gebirgsbäche sind – sie entwässern das gesamte östliche Wienerwaldgebirge -, wundert es kaum, daß sie bei Unwettern zu reißenden, alles verheerenden Strömen wurden.

Dem zarten Wienfluß kann man, heute noch, während eines Gewitters beim Anschwellen zu imposanter Größe zuschauen. Zuletzt hat diese Eigenschaft der Wien eine Türkenbelagerung zum Guten gewendet. Gedankt hat man es ihr im Grunde weder damals noch heute. Im Gegenteil. Auch hier ist es die Stadtgrenze, von wo an auch die Wien im Gewande des Kanals fließen muß. Sie muß auch, kaum in Sichtweite der Wienerstadt, flugs unter die Erde, um angesichts soviel Imperialen nicht durch allzu Alpines, Bäuerliches aufzufallen. Erst hinterm Kursalon Hübner, im sogenannten Stadtpark, fließt die Wien wieder oberirdisch, im hohen Korsett, versteht sich.

Der Donaukanal hingegen, die wenigsten Wiener wissen das, ist wirklich ein Kanal, er sieht nicht nur so aus. Zwar war hier immer schon ein Donauarm von beachtlicher Stärke geflossen, zeitweise sogar der Hauptstrom, aber seit dem Mittelalter drängte dieser Arm nach Norden. Maria am Gestade unter der Salzgries sowie der Einkehrgasthof Salzamt markieren noch heute das damalige Donauufer. Im sechzehnten Jahrhundert drohte dieser Arm jedoch zu versanden, und es wurde der elegant dammbegleitete, in der Breite allerdings reduzierte Donaukanal [ausgehoben.]

Der Hauptstrom jenseits des Augartens fiel, wie schon gesagt, der römisch-imperialen Begradigungswut des echtesten aller Wiener, Franz Joseph, zum Opfer. Vom einstigen Donauurwald blieben nur die schon früher angelegte barocke Perversion zum Thema Wald, der Augarten und ein zum Volks- und Wurstelpark degradierter, jetzt der jagdparadiesischen Größe beraubter, zwickelförmiger Prater.

Von der Donau und ihren zahlreichen fischreichen Armen blieb, wie ein zerschnittenes Glied auf dem Schlachtfeld, die sogenannte Alte Donau mit ihren schrebergartenschwangeren Ufern Neubrasilien und Arbeiterstrandbad übrig, dazu ein paar ausgedehnte Kleinstarme in der Lobau und der Nachenweiher Heustadlwasser im Prater, in dem jetzt das Wintersalz der Südosttangente fließt. In der Simmeringer Heide soll es noch den geheimnisvollen Seeschlachtbach geben. Von allem noch fast unberührt, fließt im Süden Wiens die Liesing, die ihre Virginität wahrscheinlich nur ihrer Lage jenseits des Zentralfriedhofs verdankt, und die via Schwechat beim heutigen geographischen Topos „Erdgasbrücke“ in die hier schon (weil Stadtgrenze) einigermaßen krumme Donau mündet.

Die Wiener Bäche und Flüsse können dem Wiener also offenbar keine größere Freude machen, als möglichst schnell wieder Wien zu verlassen oder ihr Fließen prompt einzustellen. Sind sie doch alle Fremde in Wien. Wo Zuschütten nichts half, wurden sie überdacht, wo dies die Breite unmöglich machte, begradigt oder gestaut. Das Inundationsgebiet, beliebter Fußballplatz früherer Bubentage, an dem sich, wenigstens zu Überschwemmungszeiten, vermehrt Wasser oder der seltene Eisstoß aufhalten durfte, ist mittlerweile auch verschwunden. Statt dessen gibt es die Neue Donau, einen Stausee, der bei Bedarf geflutet wird, das Wasser zwar dann bakteriologisch für ein Monat versaut, aber dafür Inundation von Stadtgebiet nicht mehr zuläßt. Wiens wichtigstes Gewässer hingegen ist, zumindest im Selbstverständnis der Wiener, der Hochstrahlbrunnen, der dem russischen Denkmal des unbekannten Soldaten3 seine Ehre erweist. Hier uriniert die Wienerseel‘ von unterirdisch auf das ferne Rußland. Dahinter sitzt Fürst Kari in seinem wunderbaren Palais. Es soll später noch die intuitiv richtige Erfassung des Zusammenhangs Donau – Wasser – Rußland aufgegriffen werden.

Mehr als die Wiener kann man gar nicht gegen das Wasser tun, so scheint’s. Die Stadtväter und ihre elektrischen Berater waren nicht faul in letzter Zeit. Nach dem Debakel von Hainburg soll ein anderer Stausee durchgeboxt werden. Der größte und schönste, der sich denken läßt. Die Donau, und zwar die beinamenlose, fließende, und ihre Schwester, die Neue, sollen gestaut werden. „Wien am Stausee“ heißt die brillante Idee; an einem Sporthotel am Handelskai, in den Mauern eines monumentalen Getreidespeichers, wird schon gebaut. Nur – die cloaca maxima wird auch die gesamten Abwässer aller Wiener Toiletten enthalten. Nennings „Klosee“ wird Wirklichkeit.

Wie können wir das verhindern, was hier, nach all dem, was bereits geschehen ist, mit der Donau angestellt wird? Ganz einfach:

Wien wird an den Inn gelegt!

Im Lande eines anderen Franz Joseph4, im bayerischen Passau, fließen drei Flüsse zusammen. Die schwäbische Donau, der rätische INN und die kleine bayerische Ilz. Für die Tiroler war es seit jeher ein offenes Geheimnis: Nicht der INN fließt hier in die Donau, sondern genau umgekehrt: diese nämlich in den breiteren und wasserreicheren INN. Der Inn verliert seinen Namen an die Donau! Dies war aber nicht immer so. Wie so oft ist auch diese Geschichtslüge römischen Ursprungs.

Passau. Nicht der Inn fließt hier in die Donau, sondern umgekehrt, diese in den breiteren und wasserreicheren Inn.

Schon die antiken Geographen haben bei der Erwähnung der großen Flüsse nach deren Ursprung gefragt und mehr oder weniger bestimmte Meinungen dazu aufgestellt. Herodot nimmt als Ursprung des heute Donau genannten Hister die Stadt Pyrene „im Lande der Kelten“ an. Diese Angabe mutet dunkel und mehrdeutig an, immerhin denken wir bei der Silbe PYR unweigerlich an die Pyrenäen in einer ganz anderen Ecke Europas. Die antiken Autoren bezeichneten aber auch die Alpen so, der uralte Stamm PYR lebt noch in unserem Gepyrge und verwandten Wörtern fort. Gänzlich gelöst ist der Zweifel, wenn wir die römerzeitliche Bezeichnung für den BRENNERpaß heranziehen: mons pyrenaeus. Auch im steirischen Pyhrn, dem Pyhrnpaß, dem großen Pyhrgas und dem Großen Priel im Toten Gepyrge lebt dieser, wahrscheinlich vorindogermanische, Stamm fort. Schließlich hieß die perfekte Abstraktion des Themas BERG, der künstliche Kult-und Grabberg, ägyptisch Pyramide. Mit Pyrenäen war wahrscheinlich allgemein das Gebirge gemeint. Das griechische PYR (für Feuer), von dem Feuer, Furor und ähnliche Wörter abstammen, aber auch unser BRand, ist hier interessant, spannt sich doch der Bogen von Pyrenaeus zu Brenner für ein und denselben Paß.

In diesem uralten Gepyrge entspringt also unser Inn: in den von den hier seit Urzeiten wohnenden Rätern5 so genannten Alpen. Als Inntal dürfte in antiker Zeit das Tal bis zum Malojapaß hinauf betrachtet worden sein; dieses Tal hieß damals wie heute Engadin oder Eniatino (aus rätoromanisch en co de ina, lateinisch „in capite de eni“, also „Am Kopf des Inn“, soviel wie: „Land beim Ursprung des Inn“).

Wenn wir dem INN oder dem EN flußaufwärts durch das schweizerische Unter- und OberengadIN folgen, gelangen wir, an Samaden, dem Hauptort des Oberengadin vorbei, nach SanMurezzan (St. Moritz) und dem gleichnamigen, vom Inn durchflossenen Sec. Dann folgen der kleine Campfersee und schließlich Silvaplaner- und Silsersee (Lej da Segl) mit dem Paßort Maloggia an seinem westlichen Ende. Den Ausfluß aus dem Lej da Segl nennen die Rätoromanen „Chieau d‘EN“, Kopf des Inn, und deuten damit an, daß sie hier den Beginn des Inn ansehen. Damit befinden sie sich in Gesellschaft der antiken Autoren, die als Flußursprünge Seen bevorzugten, „aus deren sicherem Behältnis, von den kleinen Gewässern gespeist, der Fluß seinen Ausgang nimmt“. (Strabo hat den Bodensee als Ursprung des Rhein betrachtet.) Welcher der Zuflüsse des Silser Sees als Inn betrachtet werden kann, ist lange Gegenstand verschiedenster Deutungen gewesen. Die von den Bernina-Gletschern (Bernina=Pyrnena=Berg der Flüsse) gespeisten Bäche münden in die östliche Breitseite des Silser Sces. Einzig die vom Lunghinogsee unterhalb des Piz Lunghino kommende Ova d‘OEN gießt sich knapp an der Wasserscheide zwischen Adria und Schwarzmeer bei Maloggia, dem äußersten Ende des Engadins, in den Silser See und gilt heute als der junge Inn.

Das Wort Inn, römisch Oenus, griechisch Ainos, rätoromanisch En, dem wir mit dem Lauf des Inn (selbst nach Passau) noch oft begegnen werden, entstammt einem keltoillyrischen, wahrscheinlich aber noch älteren an, en, in mit der Bedeutung „fließt“. Hiezu gehört auch das irisch-keltische am, Wasser, Fluß.

Die indogermanische Präposition an, anu bedeutet allgemein ein „an„, an einer schrägen Fläche hinauf. Auch das sanskritische sindh, Strom, Fluß, von dem sich der Indus und die Hindus, die Bewohner dieser Flußlandschaft, ableiten, gehört zu diesem Urstamm „in„. Wenn man den Begriff Strom, Fluß, Bach noch weiter abstrahiert von „fließen“, als auch von „hinansteigen“, kommt man zu In-Sein, im Sinne von Innesein, drinsein (im Tal, im Gelände, in der Erde).

Von allen Flüssen keltisch-illyrischer Nomenklatur trägt der Inn das Urwort für Fluß bar jeder Ergänzung durch Suffices. Wer hätte dem Inn solches zugetraut! Der Fluß, oder „das INN„, wie die Inntaler sagen6, muß also länger sein als die 510 Kilometer von Lunghino bis Passau. Einzig der Indus noch trägt seinen Namen so stolz und beinamlos. So große andere keltische Flüsse wie die Rhône (röm. rhodanus), der Rhein (rhenus), die Seine (antik. senona) und die, zugegebenermaßen kürzere, aber doch recht prominente Themse (tamesa) bescheiden sich damit, nicht d e r Fluß zu sein.

Wie kommt es nun, daß der Fluß der Flüsse bei Passau (Castra Batava) seinen Namen an die Donau verliert? 15. v. Chr. besetzt Rom zur Sicherung seiner Nordgrenze das schon seit einem Jahrhundert in einem Königreich keltischer Stämme geeinte Noricum, vermutlich kampflos. (Im Grunde typisch für unsere Verhältnisse, auch 1938 war es ja nicht anders.) Die heutige Donau wird Grenze des römischen Reichs, der Unterlauf des heutigen Inns jene der Provinzen Raetia und Noricum. Ab dem heutigen Wien, das in antiker Zeit noch die Grenze zwischen den keltischen Norikern und den schon thrakischen PannONiern markierte, hieß der Fluß Hister oder Ister, thrakisch Istros, wobei sich hier sprachlich der Volksstamm der Histri oder Istri (vide das dalmatinische Istrien!) für die mutuelle Namensspendung anbietet7.

Der Inn fiel der Notwendigkeit einer kontinuierlichen Flußbenennung entlang der römischen Nordgrenze zum Opfer. Auch die römische Neurose des Gerademachens mag hier eine Rolle gespielt haben. Die Sprachgrenze, die hier, ähnlich wie beim heutigen Eisernen Vorhang, sofort entstehen mußte, förderte diese Entwicklung. Die antiken Geographen tradierten diesen Sachzwang im Grunde bis in heutige Zeit, und so heißt es eben von Passau bis zum Schwarzen Meer „Donau“ und nicht mehr „das Wasser“, INN. Keltisch-norische Geschichtsschreibung aus dieser Zeit könnte uns natürlich in dieser Frage weiterhelfen, doch die Kelten waren kein Schreibervolk. Woher stammt aber dann der Name Donau für den ganzen Fluß, der im übrigen erst vom Zusammenfluß von Breg und Brigach an, bei Donaueschingen, so heißt?

Etymologisch gesehen ist Donau aus dem sarmatischen DAN, DON (Fluß, Strom) entstanden, so wundert es auch kaum, daß es im Osten fast keinen größeren Fluß gibt, dessen Name sich nicht davon herleitet. Der Don (griechisch Tanais, tartarisch Tuna, Duna (!), der Urs-Don (weißer Fluß), der Kisil-Don (Goldfluß) fallen natürlich zuerst ins Auge. Aber auch der Donez, ein Don-Zufluß, gehört hierher. Hingegen sind Dnjestr (Danaster) und Dnjepr (Danapris) schon schwieriger zu erkennen. Alle erwähnten Flüsse sind (für europäische Verhältnisse) recht beachtlich in ihrer Größe8, womit indogermanisch „dan“ für starkfließendes Gewässer auch zutrifft.

Der Inn/Ister dürfte seinen Namenswechsel den nomadisierenden Sarmaten verdanken, die ihren heimatlichen Flußnamen Don (der antike Grenzfluß zwischen Europa und Asien, zwischen Skythen einerseits und Saramaten andererseits) hierher gebracht haben dürften. Daraus wurde dann römisch Danuuius, Danubius

Oberengadin. Wo der Inn beginnt.

und über ahd. Tuonouw und mhd. Tuonouwe schließlich unser heutiges Donau9.

Wenn nun INN/Hister vom sarmatischen Donau nur überlagert wurde, müßte der Stamm IN, AN entlang des Flußlaufes noch vorhanden sein.

Im rätoromanischen Engadin sind diese Komposita mit in, an, en natürlich am leichtesten zu finden. Der erste große Innzufluß nach San Murezzan ist der Flaxbach (die Bernina), etwas weiter flußabwärts stößt das Val Susauna mit seiner Fortsetzung im Val Funtauna ans Engadin, bei Sur-Ens (soviel wie Oberinn) etwas unterhalb vom Ort Ftan (oder fetan), schon im Unterengadin, fließt die Uina in den Inn, im österreichischen der aus dem Samnaun kommende Schergenbach.

Etwas bekannter sind natürlich die Stanzertaler Rosanna und die Paznauner Trisanna, die kurz, bei Grins und Stanz, als Sanna fließen, bevor sie bei Landeck in den Inn münden.

Im Oberinntal finden sich solch eine Menge von Orten, die IN, AN, EN enthalten, daß nur die bekanntesten erwähnt sein mögen.

Zams, Wenns, Imst (lat. umiste), Tarrenz, Stams, bei Kematen das Sellrain. Innsbruck kann hier nur insoferne angeführt werden, als es seinen Namen natürlich vom Inn hat. Das lateinische OEN/pons ist aber erst die Ubersetzung des deutschen Innsbruck und nicht umgekehrt. Das antike Oenipons lag bei Rosenheim, wo aus pons Oeni direkt das heutige Pfunzen entstanden ist. Hingegen leitet sich Wilten vom römerzeitlichen Veldidena (Inntal) ab.

Die Fluß- und Ortsnamen des Unterinntales auf Tiroler Boden sind heute fast alle bayerisch/schwäbischen Ursprungs. Aber, wie unschwer zu erkennen ist, steckt natürlich auch in Wattens, Terfens und Stans das alte en. Der Jenbach ist sogar eine germanisch-keltische Tautologie. Im bayerischen Voralpengebiet verlieren sich die Hinweise auf keltische Flußnamen. Fast wäre man versucht, doch den Inn in die Donau fließen zu lassen, wäre da nicht die eindeutig keltische (schon norische), rechtsufrige Antiesen bei Schärding. Die Salzach, eine keltische Isonta, von der die den Pinzgau einst bewohnenden AMbisonten ihren Namen haben. Aber auch hinter Passau besinnt sich der Inn auf seine Ursprünge: Schon kurz nach Aufnahme der Donau finden wir die, aus dem Norden kommende linksufrige Ranna (vgl. die Orte Oberanna, Niederanna und Rannariedl).

Etwas weiter flußabwärts macht die Donau eine Schlinge, in der sie ihre Laufrichtung um 180 Grad ändert. Allen Sarmaten zum Trotz hat sich dort der Ort Innzell (!) gehalten. Von da ab wird’s nur noch keltischer; der Innbach, wie der Tiroler Jenbach eine Tautologie. Natürlich steckt in auch in Linz (römisch lentia, keltisch Lenta), auch der keltische Rhein (renos) hat s e i n Linz gegenüber der Ahrmündung. Keltisch sind natürlich auch die Traun (truna) und die Anisa (die heutige Enns, römisch anesus). Auch die linksufrige Naarn ist keltisch (vgl. dazu den nordschottischen Küstenort Nairn, westlich von Aberdeen). Auch den Kamp findet man an Rhein und Inn, das keltische cambo bedeutet wie das lateinische campus Tal, Ebene, Niederung. Die Krems (cremisia) ist der westfälischen Ems (Amisia) verwandt, während die Traisen kein Zwilling der Tirolerischen Trisanna ist.

Der keltisch-illyrischen Siedlung Vedunia, vedunis (Waldbach) (auf dem Leopoldsberg?) verdankt Wien seinen keltischen Namen. Auch der heutige Kanal, die einstige Wien, ist solch ein vedunia, Waldbach, aus dem über Wieden unser Wien (Vienna), auch die Variante Favianis wurde. Das in der Schule gelehrte VINDOBONA, an dem wir als Kinder schon hart kiefeln mußten, ist aus vedunia bona entstanden.

In unserem römisch aufgepfropften Donauwahn haben wir uns die Sicht auf den Inn jahrhundertelang durch vinDOboNA verstellen lassen. Ohne Zweifel fließt aber auch durch Wien schon lange der schöne Inn so wie durch Innsbruck und Linz, womit er zu einem geradezu reinösterreichischen Fluß wird. Mosaiksteinchen am Rande sind Enzersdorf und Rodaun (der keltische Waldbach Rodanna) und der nicht zufällig gewählte Name UrANia10 für den Ort des Zusammenflusses von Wien und Inn. Mit etwas Phantasie ließe sich auch Carnuntum heranziehen, bei Hainburg wäre es zu schön, aber sie ist die schon im Nibelungenlied besungene Heimburc, die Burg des Haimo. Hinter Wien betreten wir schon skythisch-thrakisches Sprachgebiet, weshalb der Inn endgültig Hister und dank sarmatischem Einfluß in allen Slawensprachen Don, Donau heißt.

Bei der Rückbesinnung auf den alten Namen des – Wien ja schon gar nicht mehr richtig durchfließenden – Stromes, stoßen wir natürlich auf hürdenreiches Terrain. Österreich badet in einer Keltenrenaissance. Nicht alle diese Aktivitäten entbehren allerdings der Tarnung. Keltensymposien und Druidenlehrgänge sind natürlich nicht zu übersehen, aber auch auf dem Gebiet der Kunst wird’s immer keltischer. Der „Wiener Aktionismus“ und das Orgien-Mysterientheater Nitschs sind in Wahrheit norisch-keltische Kulthandlungen. Unverblümt offen keltisch-kultisch ist das Projekt „Minus Delta T“ zweier österreichischer Künstler, einen tonnenschweren norischen Menhir mit Hilfe eines Lastwagens bis ins sarmatische Tibet zu bringen; Die Baumverehrung der österreichischen Grünen, die sich politisch von der deutschen Schwesternpartei unterscheidet, ist Rückbesinnung auf keltisches Erbe.

Kein Wunder, daß sich die Sarmaten Benya und Brezovsky12 hier querlegten, galt es doch, den kultischen Auwald und den verhaßten DON in die Schranken zu weisen.

Wenden wir uns aber wieder Wien zu. Hat nicht das keltische Element im mittelalterlichen Wien sich hartnäckig dagegen gesträubt, auch nur einen einzigen Topos der Inneren Stadt mit der sarmatischen Don-Silbe zu beflecken? St. Stefan11, auf einem alten heidnischen Heiligtum erbaut und die nach Noricum führende Kärntner Straße (via Carantana), sowie der beliebte Kultort Helden-(Kelten-)platz sind beredte Zeugen alten Keltentums.

Sonst hat sich natürlich noch einiges Keltisches in Wien gehalten. So zum Beispiel der Wiener Traditionalismus des „nur ned Hudeln“, den wir genauso unverbrämt im tiefsten Gallien wiederfinden. Auch die manische Menhir-Verehrung der ebenso zahlreichen wie uninteressanten Wiener Denkmäler – sie sind in der Form fast ausschließlich phallischen menhir-(Mann hier-) artigen Charakters – ist keltisches Kulturgut. Die Druiden Wiens sind in den hehren, geheimnisumwobenen Ständen der Rechtsanwälte und Ärzte, die nirgendwo wie in Wien solche Verehrung genießen, zusammengeschlossen. Meine Verehrung, Herr Hofrat Dr. Druide, Handkuß an die Gemahlin. Die Wiener Politiker führen dagegen ein eher weltliches Dasein sarmatisch-demokratischen Zuschnitts.

Die Contradictio des sarmatischen Menhirs, des Denkmals vom russischen Befreier, wußten die Wiener auch geschickt hinter dem noch nicht urinierenden Hochstrahlbrunnen aufzubauen. Sarmatisch nach wie vor ist aber die Wiener Pferdeverehrung der Fiaker und natürlich der sarmatischen Hofreitschule, die allerdings kaum von den Wienern selbst besucht und verehrt wird. (Hingegen ist der sarmatische Diplom-Nomade Waldheim ein bekannter Pferdefreund.)

Die Rückbenennung der Donau und des Hister in INN stellt uns vor einige Hindernisse. Kein Problem dürfte der Lauf der Donau von Passau an sein. Bis Passau fließt ja jetzt schon der Inn mit eigenem Namen, also auch auf freistaatlich bayerischem Gebiet. Die kurze Strecke von knapp drei Kilometern, vom Zusammenfluß von Donau und INN bis zur österreichishen Staatsgrenze, dann noch unter Donau zu führen, würde sich bald als politischer Treppenwitz erweisen. Im Ungarischen müßte man allerdings der Tatsache ins Auge sehen, daß mit den Sarmaten nicht zu scherzen ist, ab da wird der Inn, wie einst Hister, doch Donau heißen müssen.

Die Umbenennung der Donau bis Passau hinauf in Inn und deren Fortführung bis ins Engadin, hat durchaus europäische Dimension: Die Ursprünge der Flüsse Rhein, Rhône, Inn und des Pozuflusses Ticino liegen auf einer nur 90 Kilometer langen, fast geraden Linie entlang der großen europäischen Wasserscheide und entwässern so Europa in allen Himmelrichtungen: in die Nordsee (Rhein), das schwarze Meer (Inn), das Mittelmeer (Rhône) und in die Adria (Po). Die Donauursprünge Breg und Brigach entspringen hingegen weit abseits, jenseits des Bodensees im badischen Rheinknie.

Die heute bei Wien regulierte Donau könnte in den alten, vielarmigen INN rückverwandelt werden . . . In drei, vier Generationen mit regelmäßigen Überschwemmungen könnte wieder ein prächtiger Innwald entstanden sein. Bis dahin sollte die Alte Donau in diesem Sinne ihren Namen beibehalten, ebenso die Neue Donau, das ehemalige Inundationsgebiet (dessen Name, typisch für die wienerische Umstandsmeierei, ja auch keltischen Sehnsüchten entspringt: Inun-dationsgebiet, vergleiche hiezu auch die UNo-City). Für die schiffbare, heutige Donau schlage ich den vorläufigen Namen „sogenannte Donau“ vor, der Donaukanal ist ja jüngst ganz offiziell, wenngleich etwas klein-laut, in kleine Donau umgetauft worden. Diese ist aber, hier kann es keine Kompromisse geben, unter alter INN.

Bei der Planung des Stausees Wien waren natürlich sarmatische Flußverdränger am Werk (Ihre Kollegen in der Sowjetunion überlegen ja sogar ernsthaft, den sibirischen Ob nach dem südlichen Kasachstan zu verlegen. Mit 5000 km Länge ist er immerhin der sechslängste Strom der Erde). Daß aber Wien am Inn liegt, hat der alte Kelte Zilk längst geschnallt. Indem er nämlich den Kanal in die Kleine Donau verwandelt hat.

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1 „Wien ist ein Schiff„, André Heller, 1985.
2 Wie kürzlich entdeckt, nicht nur Katharina Schratt, sondern auch Anna Nahowsky.
3 Auch „Der unbekannte Plünderer“ genannt.
4 F.J. Strauß, auch er verlegt gern Bäche oder legt welche an. Etwa den Rhein-Main-Donaukanal.
5 lat. Raetia, zu kelt. rait = Gebirgsgegend; Räter, Rätier = der Gebirgler, Älpler, auch Vindeliker (davon augusta vindelicorum, Augsburg) das heißt „die Glücklichen, die Schönen, genannt. Ihre Herkunft ist trotzdem noch dunkel.
6 Mündliche Mitteilung von Prof. M. Scardanelli, Wilten.
7 aus Ister, Hister wurde über Vister, Oister unser Ostarrichi (das karol. Vistarrichi) und daraus Austria. (Also Histerreich)
8 (Dnjepr 2200 km Länge, Don 1970, Dnjestr 1352, Donez 1055) zum Vergleich die Elbe mit 1164 km.
9 ungar. Duna, tschech. Dunaj, serb./bulg. Dunay, rum. Dunarea, russisch Dunai.
10 Urania, die Muse der Astronomie – eine keltische Disziplin. Die Sternwarte mit ihrem Menhirförmigen Ausguck: a gael landmark.
11 Mit dem gotischen Riesen-Menhir, dem Stefansturm.
12 Das durch seine Reiter und Bogenschützen berühmte iranische Nomadenvolk der Sarmaten wird schon von Herodot in der Namensform Sauromaten östlich des Dons erwähnt; sie breiteten sich allmählich weiter nach W bis zur unteren Donau aus und verdrängten de Skythen Südrußlands.