Meine ersten 125 Jahre Telefon!

Andrea Maria Dusl am 27. 10 2006 in der Beilage RONDO des Standard

Telefonieren ist eine Kulturtechnik. Etwas weniger entspannend als Schaumbaden und nur in Härtefällen so anstrengend wie Spitzentanz. Anders als das Fahren schneller Autos und das Programmieren von DVD-Rekordern liegt es uns in den Genen. Telefonieren können wir. Das ist ganz unseres. Die Fähigkeit, ein Gespräch ohne sichtbares Gegenüber zu führen ist zutiefst menschlich. Von Anbeginn an. Seit wir vom Baum gestiegen sind und mit dem Kiesel in der Hand in den Savannenuntergang geschlendert sind.

Am Abend haben wir uns dann um die Feuer gelegt, gegrillte Antilopen gekaut und gequatscht. Stundenlang. Dabei, so vermuten die Forscher, muss sich bei den frühen Menschen die Fähigkeit entwickelt haben, die Gemütslage des Gesprächspartners bis in die feinsten Verästelungen momentaner Stimmungsschwankungen wahrnehmen zu können. Und zwar selbst in stockdunkler Nacht. Seit damals haben wir ein Faible für Late Night Shows, für die kleine Nachtmusik, Lyrik von den Beatles und fürs Telefonieren.
Telefonzelle.jpgMeine erste Begegnung mit dem Telefon fand im Kindergarten statt. Der Apparat, war rot und aus Plastik und er hatte alles was man so brauchte. Hörer, Wählscheibe, Spiralkabel und einen kleinen weissen Knopf. Telefonieren ging so: Du hobst den Hörer ab, drücktest auf den kleinen weissen Knopf und liessest es dreimal läuten. Läuten bedeutete salbungsvoll und ernst: ”Ring, riiiing, riiiihiiing” zu rufen. Meine Telefonpartnerin sass schon bereit. Mit gespieltem Erstaunen hob Sie den Hörer ihrer kleinen Kommunikationsmaschine ab und meldete: “Hallo, hallo, hier Regina Novak, wer ist am Apparat?” “Hallo, ja, hier Andrea Dusl, gut dass Sie abheben, mir ist das Waschmittel ausgegangen, ob sie wohl noch welches haben?” ”Selbstverständlich, kommen Sie doch in den Kaufmannsladen, wir haben gerade neues Omo bekommen.” “Danke”, “Danke”, Klick. Klick. So ging telefonieren.

Tausendmal geübt, tausendfach geprobt. Gut aber Plastik. Daran, auch ans wirkliche Telefon zu gehen, war nicht zu denken. Gabel, Schere, Messer Licht, sind für kleine Kinder nicht. “Und das Telefon schon gar nicht”, trichtere mein Vater uns Kindern ein. Es war ihm ernst, denn Telefonieren war eine teure Angelegenheit. Telefonieren war Elternsache.

Telefonierende Kinder gab es im wirklichen Leben nicht. Wir durften an Plastiktelefonen im Kindergarten herumspielen. Wirklich Telefone hatten ausser der Horrorvorstellung den Vater mit einem unbeabsichtigten Anruf nach Neuseeland in den Schuldenkotter zu stürzen auch noch ein anderes Manko: Sie waren schlicht zu schwer. Für eine Kinderhand wog ein Bakelithörer wie für Bobos eine Prosciuttokeule. Auf den Boden gefallen, pflegten die schweren Hörer zu zerbrechen wie Weihnachtsgebäck. Hochfloorige Teppiche sollte Östereich erst in den 70erjahren kennenlernen.

Als wir schon etwas älter waren und uns durch den dicken Brei amerikanischer Vorabendserien geschaut hatten und mit dem Leben telefonierender Ami-Teenies vertraut waren, waren zwar die Hörer noch immer aus Bakelit aber unsere Arme und Hände vom Füllfederhalten stark wie Tigerpranken. Jetzt konnten wir die haptische Hürde des Telefonierens überspringen. Nicht aber das Telefonschloss. So ein Telefonschloss war traditionell am Wählscheibenloch der Ziffer 4 montiert. Man konnte also Rettung, Feuerwehr anrufen, die Grünröcke und die Vorwahl von Amerika. Mehr war nicht drinnen. Obwohl. Immer wieder riefen Babies bei uns an. Babies? Kleinkinder, Säuglinge, Babies. Nicht oft, aber immer öfter. Sie konnten zwar nicht sprechen, aber sie konnten uns anrufen. Aber wie machten sie das? Und wieso riefen Babies ausgerechnet bei uns zu Hause an?

Meine Brüder und ich dachten tagelang nach und dann nochmal tagelang und dann klingelte es. War unsere Nummer nicht 332 113? Zusammengesetzt aus Einsen, Zweien und Dreien, eine Nummer, die man auch von einem abgesperrten Telefon anrufen konnte. Mehr noch. Eine der wenigen Nummer, die man nur von einem abgesperrten Telefon anrufen konnte.

Und weil das so war, taten das auch tausende herumkrabbelnder Wiener Babies, die an tausenden abgesperrter und in Babykrabelhöhe herumstehenden Wiener Telefonen an der Wählscheibe drehten. Unter abertausenden ungelenker Drehversuche mit Wählscheiben, auf denen nur die Ziffern 1, 2 und 3 Freigang hatten, war so durchschnittlich zweimal am Tag eines der vielen telefonierenden Babies bei uns an der Strippe. “Gaga” sagten sie und “Gugu” und “Föf”. Diese frühen Talente sind jetzt Regalbetreuer, Biologielehrerinnen, U-Bahnfahrer und Stadträtinnen. Möglich aber auch, dass sich aus diesen Babies das Heer der Telefonistinnen und Telefonisten rekrutiert, die anonym in Telefonierkojen sitzend, mit uns über Handytarife, Softwarehusten und die Kirchensteuer sprechen. Vielen von diesen frühkindlichen Telefonierern habe wir also damals das Kommunizieren beigebracht.

Selbst beigebracht haben wir uns das Klacken. Klacken nannten wir die Technik, mit dem Hörer so auf die Gabel unseres, mit dem Telefonschloss versperrten Telefons zu knallen, dass dabei ein Impuls ausgelöst wurde. Einmal Klacken entsprach dem Wählen der 1, zweimal dem der Ziffer 2. Und so ging das weiter bis 0. Null hiess zehnmal klacken. Für diese Abstraktionsleistung brauchten eine Elfjährige, ein Neunjähriger und ein Vierjähriger gemeinsam drei Tage. Danach konnte wir auch vom versperrten elterlichen Apparat in die ganze Welt telefonieren. Der Schwindel ist nie aufgeflogen.

Öffentliches Telefonieren, auch das wollen wir hier nicht verschweigen, hatte für Kinder immer den Beigeschmack schwerer geruchlicher Demütigung. Öffentliche Telefonzellen rochen ausnahmslos nach Herrentoilette. In strengen Wintern ging es. Aber wer will in strengen Wintern in Herrentoiletten telefonieren?

Eine solche Telefonzelle – ältere waren aus Holz und fahlgelb gestrichen, jüngere aus Metall und schwarz – betrat man nie ohne Telefonschilling. Den Telefonschilling warf man in einen bleiernen Schlitz und wählte. Hob jemand ab, drückte man einen weissen Knopf. Ein Zeiger setzte sich in Bewegung. Der Zeiger ratterte in einem gebogenen Fenster von links nach rechts wie die Tachonadel unseres gemächlich beschleundigeden Familienvolvos. Bei Tempo 140 war der Schilling zu Ende. Gespräch hatten immer etwas hastiges, von der Tachonadel getriebenes. Wer telefonkommunikatorisch auf sich hielt, hatte eine Nadel oder einen dünnen Stahlnagel bei sich. Kaum ein Telefon, das nicht mit einem illegalen, Loch im linken Eck des gläsernen Anzeigefensters versehen war. Zu Beginn des Gesprächs steckte man den Nagel durchs Löchlein und hielt damit den Zeiger auf. Telefonieren ging jetzt stundenlang. Theoretisch. Praktisch stand schon nach zwei Minuten eine Warteschlange vor dem Häuschen. Böses Schauen, Klopfen, Murren und schon war der nächste dran.

All meine frühen romantischen Termine, all die spannenden Rendezvous, Kaffeehausbesuche, Sturmfreibudenparties und Schulstageleien habe ich in diesen nach Bohnerwachs und Sandlerpisse stinkenden Telefonhütten organisiert. Mit klammen Fingern Telefonnummern auf Wände gekritzelt und mir gedacht, es müsste jemand, irgendjemand Telefone erfinden, wie man sie auf der Enterprise verwendet. Diese kleinen Dinger mit den kleinen Antennen, die man in die Tasche steckt und wo man mit ein paar Tastendrücken jeden, aber auch jeden jederzeit und überall anrufen kann. Auf seinem und ihrem kleinen Taschentelefon. So was müssste man erfinden, dachte ich mir. 1971 in der Telefonzelle neben dem Votivkino. Als es gerade klopfte und jemand schrie: ”Zah au, du bist ned alaa.”

Ein Gedanke zu „Meine ersten 125 Jahre Telefon!“

  1. Liebe Andrea, zum Thema Tempo 140: Hast Du die Telefonbücher in diesen Telefonzellen noch in Erinnerung? Immer haben vom Umschlagkarton kleine Stückchen gefehlt. Ein Stück in der Größe eines Fahrscheins, nur halb so schmal, im oberen Viertel umgefaltet und dort in der Hälfte eingerissen, zwischen Glasscheibe und Gehäüse gesteckt, runtergezogen zum Zeiger: das war der Grund.

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