Comandantina Dusilova auf dem Gipfel des K2

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Andrea hat es endlich geschafft. Durch Visualisierung im Basislager Margareten in einem hochgestiegen bis zum Gipfel des K2!!! Es ist geschafft. Endlich oben! Trance!

Meine Sponsoren, die Buchhandlung Jeller, der Feinkostladen Einzinger, der Pennymarkt am Mittersteig und die Meckibahn im Prater sind voll informiert und gratulieren zum Gipfelsieg.

Der K2 war urschwierig. Mein schwierigster Visualisierungserfolg bisher. Besonders der Abstieg war schwer. Alle Seile waren vereist. Götzseidank hatte ich ein paar lustige Niavaraniprogramme auf meinem iPod. GPS wpllte ich auch absetzen, aber da hätte ich Batterien mitnehmen müssen. Ich hab mich aber im Gipfelbuch eingetragen und eine lustige Zeichnung hineingemalt.

Die mails kommen gerade schaufelweise herein. Glückwunsche, Autogrammangfragen, Heiratsanträge und Einladungen zu Managerseminaren. Muss mir einen Privatsekretär visualisieren.

Channel 8 – Warum mein Roman zwei Seiten 150 hat.

Andrea Maria Dusl, 16. Mai 2010.

In Channel 8, der seltsam schwebenden, irisiserenden Liebesgeschichte zwischen einem Pariser Fernsehreporter und einer Sankt Petersburger Taschendiebin geht es um Sehnsucht, um Geheimnisse, um Traum- und Trugbilder.

In einem Antiquariat in Sankt Petersburg entdeckt Valentin, der Protagonist des Romans, ein Buch. Zwischen Puschkins und Dostojewskis, gefälschten Leninbriefen und dem Französisch-Vokabel-Heft Nabokovs. Es ist eine, 1528 erschienene Übersetzung der “Elemente”, des Hauptwerks des griechischen Mathematikers Euklid. Vertraut streicht Valentins Hand über das alte Papier, Valentin kennt dieses Buch, obwohl er es noch nie in der Hand hatte. Es ist eines jener Dejavues, die ihn in Laufe des Romans verfolgen. Im fün!en Band der Elemente schlägt Valentin die Seite 55 auf.

Capvt Quintvm. De Triangulis, über die Dreiecke, steht dort zu lesen. Valentin bemerkt, dass die beiden Seiten in dem Buch identisch sind, die linke wie die rechte. Euklid beschreibt die geometrischen Grundlagen des räumlichen Sehens. Und jetzt erinnert sich Valentin daran, wie er als Kind das Schielen übte. Und wie es ihm, als er es konnte, gelang, bei Suchbildern immer den Fehler vor allen anderen zu entdecken. Einfach, weil er durch Schielen die scheinbar identen Bilder übereinander legte und ihm so der eingebaute Fehler sofort und unmittelbar in Erscheinung trat. Solch ein Suchbild ist auch die doppelt gedruckte Seite 150 in meinem Roman Channel 8.

”Und jetzt lag Euklids Buch in seinen Händen und Valentin sagte sich, die Wahrheit liegt vor dir, hier irgendwo nach Passagen, hinter Durchgängen, und sie ist nur dir zugänglich, Valentin, dir dem Auge, das die Worte vor dem Text lesen kann. (…) Veritas post ocvlum, die Wahrheit liegt hinter dem Auge.”

metaphysics ::: Klima

Erschienen in .copy September 2007

Klima.jpgDas Wort Klima (τὸ κλίμα) ist ein altgriechischer Begriff, der vom Zeitwort klínein (κλίνειν) kommt. Es heisst soviel wie „neigen, biegen, krümmen”. Auch unser Wort “klein” stammt wahrscheinlich von einem ähnlich lautenden indoeuropäischen Wort ab. Die Krümmung, das sich biegen, das niederbeugen hat aber auch mit einem Möbelstück zu tun, dem Bett nämlich. Im Altgriechischen ist aus dem Verb klínein die kliniké (klΐnikέ), das „Lager, Bett“ geworden und aus klinikè téchne (κλινικὴ τέχνη) die „Heilkunst für Bettlägrige”, für Kranke – nichts weniger als die Medizin. Unser Wort Klinik kommt daher, über das lateinische clinice und das französische clinique – “die Anstalt zur Unterweisung im medizinischen Unterricht“.

Wieso verstehen wir aber heute mit dem Wort Klima das Wettergeschehen? Etwa, weil es krank ist? Mitnichten. Die alten Griechen, denen die Kugelgestalt der Erde schon bekannt war, bezeichneten mit Kliamata (dem plural von Klima) die verschiedenen Himmelsgegenden, also die Tatsache, dass auf südlicher oder nördlicher gelegenen Gegenden, andere Teile des Nachthimmels beobachtbar sind. Das Klima ist als eigentlich nicht das Wetter, sondern der Himmelsstrich, oder das, was wir heute mit der geografischen Breite bezeichnen. Im 20. Jahrhundert hat sich der Begriff Klima von der regionalen Wettergesamtheit hin zur Synthese des Wetters entwickelt.

Klima müsste man also richtigerweise als die Wetterneigung verstehen. Die Neigung einer Gegend zu bestimmten, für sie typischen Wettersituationen.

Das Wort Wetter wiederum, das uns doch wohl sehr Deutsch vorkommt, kommt aus einer alten Wortgruppe, die auch den Wind hervorgebracht hat (lateinisch ventus). Auch der germanische Windgott Wotan hat seinen Namen aus diesem Begriffs-Cluster. Die Silbe “*wat”, verwandt mit altindisch vátati, heisst soviel wie “anblasen, anfachen», im übertragenen Sinn “inspirieren”. Weniger sanft gedeutet kommt Wotan vom gemeingermanischen *wōda , “besessen, erregt“. Die ist nichts anderes als unsere Wut. Jener Zornesazusbruch, der stets mit heftigem Geschrei und wildem Atmen einhergeht.

Die kultische Verehrung Wodans entwickelte sich in den Jahrhunderten vor der Zeitenwende im niederrheinisch-nordwestdeutschen Raum, unter den Stämmen der Ingaevonen. Von dort wird die wütende Gottesgestalt in den Norden exportiert. Wodan wird zu Odin und verdrängt Thor als Hauptgottheit in Skandinavien. Aber auch Thor ist ein Wettergott, bei den germanischen Stämmen am Kontinent Donar, Donner genannt. Mit seinem ziegenbespannten Wagen donnert er übers Firmament und schlägt Blitze aus dem Himmel. Im Wort Donnerstag (Thursday) ist er verewigt.

1999-Viktor-Klima.jpgKlima ist in Österreich aber noch in ganz anderem Zusammenhang in Erinnerung. Klima war der Name des neunten Bundeskanzlers der Zweiten Republik. Viktor Klima, Nachfolger von Franz Vranitzky amtierte drei Jahre lang am Ballhausplatz und ein paar Strassenzüge weiter als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei. 2000 sollte ihn Wolfgang Schüssel als Bundeskanzler ablösen. Der Schwechater Klima, der vor seiner Politikerkarriere erfolgreicher Manager war, galt gemeinhin als konsensorientiert und war nicht gerade als Donnergott verschrien. Nach dem Scheitern von Koalitions-Verhandlungen mit der ÖVP verließ er die österreichische Politik und übernahm die Leitung der argentinischen Volkswagen-Niederlassung. Seit 2007 ist er Chef der gesamten Volkswagen-Niederlassung in Südamerika und Berater des argentinischen Präsidenten Nestor Kirchner. Sein Name Klima nicht aus dem griechischen, sondern aus dem tschechischen. Dort ist Klima (wie die ähnlich lautenden Namen Klimt und Klimek) die Verkleinerungsform des lateinischen Vornamens Clemens. Was soviel heisst wie mild, gnädig, sanftmütig. Kein falscher Name also für einen gutfrisierten Schönwetterkanzler.

metaphysics ::: Glaube

Nicht erschienen in .copy März/2007


Dieser Text für die 07-Frühjahrsausgabe des Magazins .copy wurde nicht abgedruckt. Die Inhalte wären Telefoniekonsumenten nicht zuzumuten, hieß es. Genaueres war nicht zu erfahren. Ein seltener Fall von Zensur.

Glaube.jpgDas Wort ‘Glaube’, verwandt mit dem Begriff “geloben”, hiess im frühen Mittelalter ‘ga-loubjan’ und hatte die Bedeutung “vertrauen”. Wem oder was wurde vertraut? Gott, oder gar Göttern? Weit gefehlt. Wenn wir das Wort ‘Glaube’ ins Mittelalter zurückwerfen, zerfällt es in Begriffe, die heute ge-lauben, Ge-Laube, Ge-Lobe heissen müssten. Hat der Glaube also mit dem Lob zu tun? Die Antwort ist kurz und simpel – Ja. Der Glaube ist – sprachlich gesehen eine Art Lob. Klingt seltsam, ist es auch. Denn das Lob ist etymologisch betrachtet keine Belohnung sondern ein Köder. Noch heute werden Preise, Wettbewerbe, Stellen ausgelobt.

Das Wort Lob, in unserer Betrachtung soviel wie Köder, Angebot kommt von einem anderen vertrauten Begriff: dem Laub. Einfachen Blätterzweigen. Die Etymologen vermuten, dass die Begriffskaskade, die zum hehren Ausdruck “Glaube” geführt hat im Wort für Laub entspringt und in der Frühzeit der indoeuropäischen Sprachen nicht weniger bedeutete, als das Vieh mit Laubbüscheln anzulocken. Schmackhaften natürlich. Der Glaube wäre demnach jene Zutraulichkeit, die gefüttertes Vieh, geästes Vieh entwickelt. Glaube wäre also Zutrauen. Nahrung. Eine Erklärung, der sich Atheisten wie Theologen gleichermassen anschliessen können.

Weniger Freude dürften die Theologen und Kirchenleute mit den modernen Erkenntnissen über die physiologischen Grundlagen des Glaubens haben. Lange Zeit wunderten sich Ärzte, warum Nonnen und Mönche überdurchschnittlich oft an Schläfenlappenepilepsie erkrankten. Kam das vom Beten? Oder gar umgekehrt? Die Korrelation von Erleuchtung und Epilepsie war nicht erklärbar. Bis sich eines Tages bei der Gehirnuntersuchung eines religiös unauffälligen Patienten ein seltsamen Effekt manifestierte.

Wurde die Schläfenlappenregion des Patienten mit einer Sonde elektrisch gereizt, berichtete er über tiefe Gefühle des Einseins mit Zeit und Raum, von grosser Gottesnähe und hellem Licht, von allgemeiner und durchdringender Verzückung. Symptome, die stark an die Verzückungen erinnerten, mit denen spirituell Erleuchtete aller Religionen ihre Begegnung mit dem “Höheren Wesen” berichteten.

War nicht auch Paulus, der Chefideologe des frühen Christentums, Epileptiker gewesen? Die Berichte des Evangelisten Lukas über die Umstände von Paulus’ Erweckungserlebnissen sind starkes Indiz dafür. Ist der “Heilige Geist”, die “Erleuchtung” nichts mehr als ein neurologisches Feuerwerk im menschlichen Schläfenlappen? Buddha, Moses, Johannes, Jesus, Jean d’Arc – Opfer von schrägen Vorgängen im den seitlichen Hirnregionen?

Direkt ins religiöse Eingemachte geht der amerikanische Genetiker Dean Hamer. Er hat Erbinformation isoliert, die direkt für die religiöse Empfänglichkeit verantwortlich sein soll. Das Gottes-Gen hat den sachlichen Namen ‚Vmat2‘. Nach Hamers Hypothese sollen die Träger dieses Protein-Codes für Erlebnisse zugänglich sein, die sie als mystische Erweckung, Erleuchtung, Einswerdung mit dem Universum interpretieren. ‚Vmat2‘ – das ein-Gott-Glauben-Gen, das Licht der Welt, die Stimme Gottes?

Starker Tobak für religiös Zartbesaitete. Die Fähigkeit, zu Glauben hätte für unsere steinzeitlichen Vorfahren evolutionär einen Vorteil gehabt, erklärt Hamer, und sei deswegen bis heute vererbt worden. Der biologische Mechanismus: Spirituell glücksdurchströmte Menschen neigen zu grösserem Lebensglück und setzten mehr Kinder in die Welt, als ihre atheistischen Brüder und Schwestern.

Wie auch immer: Die ersten religiösen Spuren haben Forscher in Gräbern der Neandertaler gefunden. Bereits vor 60.000 Jahren sollen die nahen Verwandten der modernen Menschen ihren Toten Beigaben ins Grab gelegt haben. Ob die grobschlächtigen Jäger Träger des Gottes-Gens waren, muss erst herausgefunden werden.

metaphysics ::: Mythos

Erschienen in .copy 29/2006

James-Dean.jpgDer unsterbliche Porschefahrer James Dean ist einer, die Präsidentengeliebte Marilyn Monroe ebenso wie das sagenumwobene Troja, das mysteriöse Atlantis und die Katastrophe aller Katastrophen, die Sintflut: Mythen sind das Salz der Geschichte. Mythen handeln von Göttern und Unglück, Heldentum und Untergang.

Mythos ist ein altgriechisches Wort und heisst soviel wie Wort, Rede, Erzählung. Etymologisch gesehen kommt es aus einem indoeuropäischen Wortgruppe mêudh-, mûdh-, die das “sehnliche verlangen”, das “klagen” und ”erinnern” beschreiben. Mythos scheint so gesehen mehr mit dem schmerzhaften Erinnern an grosses Unglück als mit dem glorifizierenden Nacherzählen brav absolvierter Heldentaten zu tun zu haben. Ob gerade eben passiert oder aus den Nebeln der Vorgeschichte ausgebüxt, die Mehrzahl der Mythen handeln, wenn sie sich nicht mit der Erschaffung der Welt und der Genealogie von Göttern beschäftigen, von Tod und Katastrophen.

Eine exemplarische Katastrophe beschreibt der antike griechische Philosoph Aristokles, wegen seiner breiten Stirn Platon (griechisch für breit) genannt, im Mythos von Atlantis. Egal, ob sich in der Sage von der untergegangenen Inselzivilisation ein wahrer Kern verbirgt, oder nicht: Der Aufklärung der legendären Geschichte haben sich nicht nur seriöse Historiker sondern auch ein Heer von Obskuranten und Pseudowissenschaftlern verschrieben, die in die Atlantissage so ziemlich alles hineininterpretieren, was zwischen den Coverdeckeln eines Fantasy-Schundromans Platz hat. Während Althistoriker und Philologen überwiegend von einer Erfindung Platons ausgehen, die durch zeitgenössische Vorbilder inspiriert wurde, vermuten andere, oftmals nichtakademische Autoren einen realen Hintergrund der Geschichte und starteten unzählige Versuche, Atlantis zu lokalisieren. Die Ägäis-Insel Santorin, Kreta, Island, Helgoland, die Azoren, die Bahamas, Kuba, das Mexiko der Majas, ja selbst der ganze nordamerikanische Kontinent wurden schon zur Insel jenseits der Säulen des Herakles ausgerufen. Ob erfunden oder nur prima nacherzählt, Atlantis ist jedenfalls mit Maus und Mann untergegangen.

Darin ähnelt es frappant dem Überschwemmungsmythos aus einem anderen dicken Buch, der Bibel nämlich. Im ersten Buch Mose wird mit Sintflut eine große weltumspannende Flut bezeichnet, mit der der alttestamentarische Gott die Menschen für ihr sündiges Leben bestraft haben soll. Das Überflutungsunwetter soll 40 Tage und 40 Nächte gedauert und selbst den Ararat, den (damals) höchsten Berg der Welt mit Wasser bedeckt habe. Dem Kataklysma entkommen sei nur ein gewisser Noah, der auf göttliche Anweisung hin ein riesiges, Arche genanntes, Kastenboot gebaut hatte, das er mit Familie und Menagerie bestiegen hatte, um auf den Flutwellen trockenen Fusses bis auf den Berg Ararat zu surfen.

Nachkommen dieses Noah und seines überlebenden Grossvaters Methusalem sollen nach der Bibel wir alle sein. Also auch die beiden amerikanischen Geologen Walter Pitman und William Ryan, die wissenschaftliche Beweise für eine gigantische Überschwemmungskatastrophe im Schwarzen Meer gefunden haben.

Vor 7500 Jahren, so die sensationelle Entdeckung von Noahs Ururenkeln, war die Landenge zwischen Europa und Asien, der heutige Bosporus, eingebrochen. Eine Sturzflut aus Meerwasser ergoss sich mit der 200fachen Wucht der Niagarafälle aus dem Marmarameer ins Schwarze Meer, das damals noch 150 Meter tiefer lag und ein Binnensee war. Überreste von Noahs Zeitgenossen, bearbeitete Holzbalken und Gebäuderuinen hat derweil der Ozeanograph und Titanic-Entdecker Robert Ballard bei Tauchfahrten in 100 Meter Tiefe vor der türkischen Schwarzmeerküste identifiziert und damit einen der grossen Menschheitsmythen den Nebeln des Phantastischen entrissen.

metaphysics ::: Digitaler Mensch

Erschienen in .copy 28/Oktober/2006

Golem.jpgAls der Religionshistoriker Gershom Scholem, Inhaber des Lehrstuhl zur Erforschung jüdischer Mystik an der Universität Jerusalem hörte, dass 1965 im Weizmann-Institut für Wissenschaften im israelischen Rehovot ein hochkomplexer neuer Großrechner in Betrieb genommen werden sollte, schlug er vor, diesen „Golem I“ zu nennen. Scholem, 1897 in Berlin geboren, gilt als Wiederentdecker der Kabbala, jener mystischen, meist mündlich weitergegebenen jüdischen Geheimlehre. Mit der Geschichte vom Golem, des ersten Roboters der Neuzeit, den der legendäre Prager Rabbi Löw zur Abwehr antisemitischer Zeitgenossen aus einem Klumpen Ton geformt haben soll, war Scholem aus Mitteleuropa vertraut.

Um vier Uhr morgens (nach jüdischem Kalender des 20. Adar 5340, nach christlichem des 17. März 1580) verliessen drei Männer, Rabbi Löw, sein Schwiegersohn und ein Schüler die hunderttürmige Stadt. Ihr Ziel: Eine Lehmgrube an der Moldau.

Im Nebel des Morgengrauens formten sie mit ihren Fingern (lat. digites) aus dem feuchtem Flusslehm eine drei Ellen hohe menschliche Figur. Einen digitalen Menschen also. Ganz, wie es in den Schriften stand, befahl Rabbi Löw seinem Schwiegersohn, siebenmal um den Lehm-Cyborg herumzugehen und dabei eine bestimmte Formel (tzirufim) aufzusagen. Die Tonfigur begann zu glühen. Nun umschritt Rabbi Löws Schüler die Figur siebenmal: Der Golem (hebräisch für “dumm”, ”ungeformt”) wurde feucht und dampfte, es wuchsen ihm Haare und Fingernägel. Als letzter schritt der Rabbi selbst siebenmal um den Golem herum. Gemeinsam stellten sich die drei Beteiligten zu Füßen des Golem auf und sprachen den Satz aus der Schöpfungsgeschichte: „Und Gott blies ihm den lebendigen Atem in die Nase, und der Mensch erwachte zum Leben.“

Da öffneten sich die Augen des Golem. Rabbi Löw befahl dem nackten Lehmroboter, sich aufzurichten. Die drei Männer zogen ihm das mitgebrachte Gewand eines Schammes (eines Synagogendieners) an. Rabbi Löw gab dem Golem den Namen Joseph nach dem talmudischen Joseph Scheda, der halb Mensch gewesen sei und dem Rabbi in vielen Bedrängnissen beigestanden haben soll.

In der Stube des Rabbi sass der Golem stets leblos in der Ecke. In Betrieb genommen wurde er erst durch Rituale aus dem Sefer Jezirah, des Buchs der Formung, des ältesten schriftlich überlieferten Werks der Kabbala. Um den Golem einzuschalten, musste ihm Rabbi Löw einen Zettel mit dem Schem, dem Namen Gottes, unter die Zunge legen. Heute würden wir wohl “Application” zu diesem Zettel sagen.

Die Aufgabe des Golem war es, in den Nächten vor dem Pessachfest durch die Stadt zu streifen und jeden aufzuhalten, der eine Last mit sich trug, um zu kontrollieren, ob es ein totes Kind sei. Es sollte niemandem mehr möglich sein, Kinderleichen zur Verleumdung der Prager Judenschaft in die Judengasse zu werfen.

Sonst machte sich der Golem als Schammes nützlich, er fegte die Synagoge und läutete die Glocken. Der Zettel unter der Zunge musste an jedem Sabbat entfernt werden.
Das unrühmliche Ende fand der Golem, als der Rabbi eines Tages vergessen hatte, dem Golem das Computerprogramm unter der Zunge wegzunehmen. Der Tondiener drehte durch, und konnte nur durch Termination gestoppt werden. Der Rabbi musste sein Geschöpf in Scherben schlagen.

Unschwer sind der Legende vom Golem, die von Paul Wegener eindrucksvoll auf Stummfilm gebannt wurde, eine ganze Reihe animierter digitaler und halbdigitaler Diener entsprungen. Das Monster von Frankenstein, der Zauberlehrling und die Maschinenwesen aus Metropolis ebenso wie die von Arnold Schwarzenegger dargestellten Terminatoren. Dabei gilt Arnie modernen Kabbalisten selbst als lebender Golem: Von einem jüdischen Bodybuilding-Trainer aus postnazistischem österreichischem Landlehm zum universalen Muskelmann geformt und als weltweit wirkenden Filmikone eingesetzt, ist der Schwarzenegger-Golem entwischt und führt als republikanischer Gouverneur ein ganz und gar nicht gottgefälliges Eigenleben.

metaphysics ::: Digitaler Markt

Erschienen in .copy 27/Juli/2006

Mercury.jpgDer Chef aller Märkte, ob Wochenmarkt oder Wallstreet heisst nicht Nasdaq, nicht Nikkei, nicht Dax, Hang Seng oder Dow Jones. Er trägt weder Standlertracht noch Brookerkluft sondern schlicht und einfach gar nichts. Der oberste Marktschreier ist nackt bis über die Augenbrauen. Auf dem Kopf trägt er den Petasos, einen schlappkrempigen Seppelhut aus Filz. Aussergewöhnlich an der Bauernmütze sind allenthalben die Asterixflügel.

Als Häuptling allen Kommerzes ist Merkur, der Götterbote der römischen Mythologie ein ganz und gar weltlicher Jüngling. Der Sohn von Maia Maiestas – der Frühlingsgöttin Fauna – und dem Chef aller Chefs, Jupiter, war zwar nackt und stets in Eile, aber von Berufswegen Gott des Handels, des Profits und des Reisens. Vermutlich brauchte er deswegen Flügel am Hut.

Für einen des Lateinischen kundigen Zeitgenossen der alten Römer war klar, woher Merkur seinen Namen hatte. Von merx, der Ware.

Der Platz, wo solche merces, getauscht wurden, hiess logischerweise mercatus, Markt. Merx, mercatus, Markt und andere indoeuropäische Begriffe für das, was die Orientalen Basar nennen, kommt vermutlich von den Preisschildern auf den Merces, Waren. Die muss man sich in frühen merkantilen Kulturen nicht wie unsere heutigen, mit Strichcodes versehenen Papierkleberchen vorstellen. Die merces, Waren waren merces, weil sie markiert waren. Die Waren waren also etwas markiertes. Güter aller Art, von ihren Produzenten und Händlern mit einer Marke ausgestattet.

In den meisten indoeuropäischen Sprachen klingt nun auch die Wurzel für „Rand“ oder für „Abteilung“ wie „Marke“, „Mark“ nämlich. Das Wort steckt heute noch in den Namen der Randgebiet des ehemaligen römischen Reichs, in der Dänemark, der Mark Brandenburg, der Steiermark und lustigerweise auch in der früheren Währung unserer deutschen Nachbarn. DIe Mark war usprünglich eine im nordeuropäische Handel gebräuchliche Gewichtseinheit gewesen, die ähnlich dem Pfund zu einer Währung wurde.

Weil Mercurius, der Gott des Handelns stets unterwegs war, von Markt zu Markt, wie sich vermuten lässt, stand er auch Pate für alchemistische Konnotationen. So heisst der sonnennächste und schnellste aller Planeten, der in einem Jahr von nur 88 Tagen um unser Zentralgestirn läuft, ebenfalls Merkur.

Nicht genug damit. Quecksilber, jenes silbrigglänzende Metall, nannten die mittelalterlichen Alchemisten wegen seiner Quirligkeit – und vermutlich auch wegen seiner edlen Farbe ebenfalls nach dem Götterboten.

Für Termingeschäfte, Börsenspekulationen, Firmenmerger und Blumenkäufe, für eBay-Deals, Flohmarktbesuche, Supermarktvisiten und sonstige Tauschhändel aller Art sollte sich eigentlich der Mittwoch als günstiger Tag empfehlen.

Bevor wir zu unserem mundanen “MIttwoch” fanden, nannten wir den mittleren Tag der Woche, ähnlich wie beim englischen Wednesday nach Wotan. Altenglisch hiess der handelnde Wüterich woden, woher wodnesdæg also Wednesday kommt. Wotanstag, die germanische Entsprechung des Merkurtages lebt weiter in den romanischen Wochentagen, dem französischen mercredi oder dem italienischen mercoledi.

Allen guten Geschäften zum trotz galt der Mittwoch im Volksglauben als Unglückstag. Er war der Hochzeitstag für stille Hochzeiten (zum Beispiel für gefallene Mädchen). Nach der Lehre der orthodoxen Kirche war der Mittwoch der Tag, an dem Judas Ischariot Jesus Christus verkaufte.
Für die Hutmacherzunft war der oberste Hutträger überhaupt ein todbringender Gesell. Um properes Filz für Hüte herzustellen, arbeiteten die Hutmacher in früheren Zeiten mit Quecksilbersalzen. Über die toxischen Qualitäten von mercurium – Quecksilber wusste man damals noch nicht bescheid. Die Symptome von Quecksilbervergiftungen, unkontrollierte Nervenzuckungen, Zittern und Halluzinationen trugen vergifteten englischen Hutmachern den bösen Spitznamen “mad hatter” ein – verrückte Huterer. Ob Merkurius, der oberste Marktmeister und passionierter Filzhutträger auch unter Visionen und verrückten Zuckungen litt?

metaphysics ::: Digitale Macht

Erschienen in .copy 26/2006

Mighty-Man-Cerne-Abbas.jpgDas Wort ist hart wie Stahl, flüchtig wie Nebel. Macht. Es riecht nach Lederfauteuils hinter dicken Polstertüren, nach Managerschweiss unter Armanituch, nach der süssen Würzigkeit echter Cohibas und dem Nussfurnier teurer Limousinen. Sein Klang oszilliert zwischen dem Seufzen einer unterschreibenden Mont-Blanc und dem animalischen Brüllen eines startenden Firmenjets. Macht kann vererbt sein, erkämpft, verteilt oder konzentriert. Sie kann Bürde sein und Droge. Jeder kennt sie. Viele fürchten sie, die meisten hätten sie gerne, und allen ist klar: Macht kommt vom Machen.

Falsch.

Macht kommt von Mögen. Zumindest sprachgeschichtlich. Vom Mögen, dem Möchten, etwas zu tun, ja etwas überhaupt tun zu können. Eine zerbrechliche Angelegenheit, wie wir sehen. Macht ist dem Können und dem Wollen näher als dem Machen, dem Tun. Das deutsche Wort „Macht“ – Vermögen, Herrschaft, Gewalt, Kraft, Stärke – kommt vom althochdeutschen „maht“, das neben den genannten Inhalten auch das Genital des Mannes beschreibt. Das Gemächt, wie man früher sagte. Das Gemächt, dessen Vermögen nur dann sichtbar wird, wenn „Mann kann“.

Macht nichts, wenn das im Englischen ganz anders ist. Macht heisst jenseits der Kreidefelsen von Dover nämlich force, power, might, sway. Pech. Auch might und power kommt vom Können. Letzteres kommt wie vieles jenseits des Ärmelkanals aus dem Altfranzösischen, vom poeir, po(v)oir. Pouvoir ist neben puissance noch heute ein französisches Wort für Macht. Alles zusammen entstammt dem lateinischen potere, fähig sein, können. Potere, von dem unser Wort Potenz kommt, jener, erst von Viagra in Misskredit gebrachte Begriff für die Spannkraft des Mannes.

Wie wir es drehen und wenden, Macht hat mit Männern und den genitalen Aspekten ihrer Virilität mehr zu tun, als es eine aufgeklärte und gleichberechtigte westliche Industrie-Gesellschaft vermuten liesse.

Kommt die Macht vielleicht aus einer anderen Ecke? Kommt Macht vielleicht von Magie? Vom Magier, vom Zaubermanager und rituellen Beschwörer? Der kommt nämlich über das lateinische magus und das griechischen mágos aus dem Persischen und bezeichnet ein Mitglied der medischen Priesterkaste, in der Folge aber auch den Traumdeuter, den Zauberer und Betrüger. Zugrunde liegt ein altpersisches magus, magusch, das den Namen der iranisch-medische Priesterkaste aus dem Stamm der Mager, oder Magier bezeichnet, die bei Herodot und Strabon als zoroastrische Sternkundige, Ärzte, Priester und Gelehrte gelten.

Obwohl es nahe läge: Magus hat nichts mit magis (lateinisch „mehr“) zu tun, aus dem über magister (der, der „Mehr“ ist) unser Meister, der englische Master werden sollte. Mächtige Magier sollen die Heiligen Drei Könige gewesen sein, genauer, „Magoi apo anatolôn“, Magier aus dem Osten, wie es beim Evangelisten Matthäus heisst. Aus Magiern wurden schnell Könige, denn mächtig, so die mittelalerlichen Exegeten, konnten wohl nur Könige sein.

Die deutsche Sprache kennt den Magier vor allem als Zauberer. Seine Bezeichnung hat er von einem Wort, das bei den Germanen noch taubra, taufra geklungen hat und das Schreiben einer magischen – einer mächtigen – Formel bezeichnete. Das Wort kommt vom teafor, dem Rötelstein, der gerieben jenes Rot ergab, mit der die Zauberer die in Stein geritzten Runen ihrer Zauber-Sprüche einfärbten.

Die Mächtigen von heute dürfen wir weniger in den Politikern als in der Kaste der Wirtschaftsmagier, der Manager, CEOs, Aufsichtsräte und Firmenbosse sehen. Sie zaubern an Kursen und Quartalsberichten herum, hexen Firmenmerger herbei und murmeln in stock exchange
parlance, der den ökonomisch Unkundigen wie schwarzmagisches Abrakadabra vorkommen muss.
Für meine Kolumne „metaphysics“ in .copy vom Juni/2006

metaphysics ::: Digitale Medien

Erschienen in .copy 25/März/2005

TI30-Book.jpgAls ich ins Gymnasium ging, in den Siebziger Jahren, in Wien, war alles noch anders. Analog. Auch wenn das damals niemand so nannte. Alles war analog. Radios hatten eine Röhre, Musik kam von zerkratzen schwarzen Scheiben und mathematische Berechnungen fanden auf einem seltsamen Gerät statt, das sich Rechenschieber nannte. Elektronengehirne, gross wie Einfamilienhäuser, waren zwar schon aus den Science-Fiction-Büchern ausgebüchst und hatten Amerikaner gerade erfolgreich zum Mond und wieder zurück gebracht, aber was ein Computer sein sollte, wusste damals noch niemand. Computergenies beschäftigten sich im Spätnachkriegs-Österreich nicht mit extraterrestrischen Expeditionen, sondern ausschließlich mit „EDV“, elektronischer Datenverarbeitung.

Um uns Schülerinnen und Schülern eine Vorstellung von dieser wundersamen Errungenschaft namens „EDV“ zu geben, brachte unser Mathematikprofessor eines Tages einen Streifen fahlgelben Plastiks mit, den er uns stolz als „Lochkarte“ präsentierte. „Das ist EDV, Schülerinnen und Schüler! Diese kleinen Löcher da. Diese kleinen Löcher, sie sind reine Information! Diese kleinen Löcher. Reine Information. Digitale Information.“ Wow! Information. Digital. Wow!

Aber wie ging das: „Digitale Information“?

Daß „ein“ gestanztes Loch den Wert „Eins“ repräsentierte, leuchtete mir noch halbwegs ein, aber daß „kein“ gestanztes Loch den Wert „Null“ darstellen sollte, blieb mir unerklärlich. Wie konnte etwas dargestellt werden, indem es nicht dargestellt wurde? Es war rätselhaft, aber es war digital. Und es hatte mit unserem Finger zu tun. Man konnte digitale Information mit einem Finger – lateinisch „digis“ – darstellen. Finger hoch: Eins. Finger runter: Null. Digital.

Auch was ein Medium ist, wussten wir. Ein Medium ist die Mitte. Die Mittte zwischen zwei Dingen, ein Träger von Jemandem oder von etwas, ein Mittler. „Medium“ hatte damals einen obskuren Unterton. Finger rauf, Finger runter – geschenkt. Aber Medium klang nach Geisterbeschwörung, nach halbgegrilltem Steak, nach Tabasco für Waschlappen. Das sollte so bleiben. Medium war halbgar und obskur. Kein guter Start für einen Begriff, in dem Fernsehen und Zeitungen Platz haben sollten, und auch noch Filme und Musik, Telefone und Computer und was die Weltraumindustrie noch an Zukünftigen in ihren Schubladen verstecken mochte.

Aus dem obskur-okulten Fingerzeigen und dem ungläubigen Staunen über elektronische Gehirne, die eine grössere Sardinenbüchse bis zum Mond steuern konnten, wurde bald handfester Alltag. Der erste digitale Freund, den wir hatten, hiess TI-30 und war ein goldbraun glänzender Taschenrechner von Texas Instruments, der – niemand nahm es wunder – aus dem Mondfahrerstaat Texas kam. Silicon Valley war da noch eine Pampa.

Kaum war das digitale Rechnen Teil unseres analogen Denkens, kaum war 12:30 dasselbe wie halbeins, schaffte Phillips die Schallplatte ab und ersetzte sie durch Karajans CD. Kaum zu glauben: Auch Jimi Hendrix, gerade noch auf einer zerkratzten Vinyl gehört, fidelte glasklar, ein wenig zu klar von der silbernen Scheibe. Voodoo Chile, Red House, Hey Joe: Alles in Eins und Null. Und so sollte es weiter gehen.

Ein Gerät nach dem anderen wurde digital. Die Telefontastatur, der Anrufbeantworter, das Autoradio, das Videoband, die Heimorgel. Alles eins oder Null, alles Zeigen oder nicht Zeigen, alles Medium. In der Mitte. Zwischen uns und wem anderen.

Und dann kam Apple und Microsoft, Quark-X-Press und Photoshop, die DVD, die Digitalkamera, die elektronische Motoreinspritzung, Lara Croft und Myst, Satelliten-Receiver und der Klingelton, CNN, das Internet und der Download. Die Volldigitalisierung der Welt.

Digitales Medium. Was war das schnell noch mal? Ach ja. Irgendwas in der Mitte, kurz nach der Mondlandung. Ein Zeigefinger und halbgare Gespräche mit Geistern.

metaphysics ::: Die Person

Erschienen in .copy 24 i.e. 05/Dezember/2005

Fantomas.jpg
Skandinavische Familiennamen enden oft auf die Silbe -son: Anderson, Svenson, Larson, Person. Das stammt aus einer Zeit, als die germanisch-patriarchalische Nomenklatur ein Individuum vor allem als Abkömmling seines Vaters verstand, und Familiennamen, wie wir sie heute kennen, unbekannt waren. Zur Unterscheidung der Söhne (sons) eines Vaters untereinander dienten Spitznamen wie Rotbart, Blauzahn, Hinkebein und neben klassischen germanischen Vornamen sehr oft biblische Namen wie Anders (Andreas), Jakob und Per (Peter). (Mädchen wurden selbstverständlich auch nach ihren Vätern benannt, statt son endeten ihre Namen allerdings auf dotter/dottir (Tochter). Beim Blättern im Telefonbuch von Stockholm wäre es also nicht ungewöhnlich, auf jemanden mit dem Namen Anders Person zu stossen.

Anders Person.

Andersperson.

Was eine Person ist, selbst wenn sie, wie in unserem schwedischen Beispiel, einen – für deutsche Ohren – surrealistischen Namen trägt, wissen wir alle, sind wir ungeachtet unserer ganz individuellen Persönlichkeiten doch alle welche. Personen nämlich.

Woher aber kommt der seltsame Ausdruck? Warum sind wir Personen? Doch nicht, weil wir alle statt von Adam von einem Person, dem Sohn eines Per abstammen?

Tatsächlich ist die Herkunft des Wortes Person nicht vollständig geklärt. Es existieren zwei verschiedene etymologische Theorien. Fest steht, dass unser Begriff im 13. Jahrhundert als persôn, persône aus lat. persona ins Deutsche übernommen wurde. Der Ursprung des lateinischen Begriffes ist jedoch umstritten. Manche Sprachwissenschafter halten den Begriff für eine Entlehnung aus dem griechischem prosôpon, „Maske, Rolle, Mensch“. Einer anderen (und von den meisten Etymologen heute für wahrscheinlicher gehaltenen) Theorie zufolge stammt es jedoch aus dem etruskischen phersu, “Maske”.

Hinter dem Begriff „Person“ steht seit der Antike das tiefenpsychologische Bild, dass Menschen in den meisten Situationen nicht sie selbst sind, sondern sich wie Schauspieler verhalten, die ihre Rolle mehr oder weniger gut spielen. Hört man genau auf das was jemand sagt, also das was seine Maske durchtönt (im laeinischen lässt sich Maske nämlich vom Verb per’son’are = durch’tön’en ableiten), erhält man einen tieferen Einblick in die wirkliche „Person“. Im antiken Theater wurden die Charaktere eines Stücks von Schauspielern mit unterschiedlichen Masken verkörpert. Tragische wie komische Masken hatten einen trichterförmigen Mund, durch den die Stimme “personierte”, im wahrsten Sinne des Wortes durchtönte.

Jede Person wird also von einer hinter der Maske verborgenen Andersperson “personifiziert”.
Noch verwirrender wird die Idee des Persönlichen in totalitären Strukturen. Aus George Orwells Roman 1984 kennen wir den “Neusprech”-Terminus der “Unperson”. Die Unperson bezeichnet jemand, der nicht nur vom Staat getötet, sondern gänzlich ausgelöscht wurde. Orwellsche Unpersonen sind aus Büchern und Archiven gelöscht, es existieren weder Fotos noch Daten. Die Unperson soll, ganz im Einklang mit den Prinzipien des “Doppeldenk” sogar von Freunden und Familienmitgliedern vergessen werden. Realwelt-Unpersonen gab es in der ehemaligen Sowjetunion. Der kommunistische Politiker Leon Trotzki ist das wohl berühmteste Beispiel. Um ihn zu depersonifizieren, wurden der in Ungnade Gefallene nicht nur ermordet und totgeschwiegen, sondern auch aus allen offiziellen Fotos wegretuschiert.

metaphysics ::: Arm

Erschienen in .copy 23 i.e. 04/2005

FA-Arm.jpgArm ist ein hochkomplexes Wort. Das gilt für den Arm, jenen Körperteil, der unser wichtigstes Werkzeug, die Hand trägt gleichermassen wie für “arm” das Gegenteil von “reich”.

Der Arm, jener vielgelenkige Körperteil, der an unseren Schultern ansetzt, ist entwicklungsgeschichtlich ein Cousin unserer Beine und war zur Zeit unserer frühen Vorfahren, der Fische, noch eine schlichte Flosse.

Das Bauprinzip dieser fächerförmigen Ruderwerkzeuge hat sich über all die Jahrmillionen erhalten. Ein einzelner Knorpel- oder Knochenstummel verzweigt sich an einer beweglichen Verdickung in einen Doppelarm, dieser, an der nächsten Verdickung in drei, die wiederum in vier, bis am Ende des Flossenfächers meist fünf Strahlen, unsere heutigen Finger sitzen. Aus den Verdickungen an den Verzweigungen der Strahlen werden im Laufe der Evolution der Flossen zu Gliedmassen Gelenke werden.

Erst das mechanische Prinzip der Überkreuzung von Elle und Speiche (analoges gilt für die hinteren Gliedmassen) hat den frühen amphibischen Landbewohner eine Bewegung an Land ermöglicht. Mit starren Gliedmassen ohne Aufspaltung in doppelknochige Unterarme und -beine und in vielstrahlige Finger hätten unseren Vorfahren den Landgang nicht auf die Reihe bekommen. Kein Landgang, keine Evolution der Landwirbeltiere, keine Entwicklung von Säugetieren.

Kein Arm, kein Landgang, kein Arm, keine Menschheit.

Die Gliedmasse, die unsere Hände hervorbringt, kommt von einer indoeuropäischen Verbalwurzel “are”, soviel wie “fügen” und bedeutet Gelenk oder Körperteil mit Gelenk. Der Arm (lat. humerus) hat aber auch martialische Bedeutung. Aus der gleichen Wurzel wie Arm kommt das lateinische arma, die Waffe. Eine Menge Arme kann eine Menge arma tragen und eine Armee bilden. Mit einer gut organisierten Armee lassen sich – männliche Kriegslust vorausgesetzt – Eroberungsfeldzüge organisieren, die – männliches Logistiktalent vorausgesetzt – in einem Reich münden. Einem Imperium – einem “Anschaff-Reich”. Einem – im wahrsten Sinne des Wortes – weit über jeden Arm reichenden Machtgebilde.

Und da wären wir über den kleinen martialischen Ausflug mit dem Reich schon bei arm. Das Gegenteil von reich sein ist nämlich das arm sein.

Arm, das Gegenteil von reich, von mächtig, kommt aus jener sprachlichen Wurzel aus der auch die Worte “Erbe” und “Arbeit” kommen. Arm zu sein und der Zwang zu arbeiten scheinen im Verständnis unserer Ahnen zusammengehört zu haben. Und dass sich dieser Zustand der arbeitsamen Armut von Generation zu Generation “vererbte”.

Arm und reich scheinen also nicht nur Gegensätze zu sein, sondern einander auf vielfach Weise zu bedingen. Kein Reich ohne Armee. Keine Armee ohne Arme, keine Arme ohne Armut, keine Armut ohne Reichtum, kein Reichtum ohne Reich. Die Kette dieser Assoziationen liesse sich noch vielfältig anders knüpfen. Und alles nur, weil die Natur jenen amphibischen Quastenflossern, die als erste ihre feuchten Fischleiber mit gelenkigen Paddeln an Land stemmten einen kleinen Vorteil gegenüber Kollegen gewährte, deren Flossen zu kurz waren, um als frühe Arme und Beine Verwendung zu finden.

metaphysics ::: Gesund

Erschienen in .copy 22 i.e. 03/2005

Arzt.jpg

Gesundheit wird allgemein definiert als die Abwesenheit von Krankheit. Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert sie als Zustand vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens. Auch gutes Wetter dürfte dem Wohlbefinden nicht untunlich sein. So schön sie ist, die Definition der WHO krankt hinter der schönen Fassade. Das Fehlen physischer, psychischer und sozialer Obstakel stellt einen, mit den bescheidenen Mitteln des Diesseits kaum erreichbaren Idealzustand dar. Eher müssen wir davon ausgehen, dass kein Mensch wirklich gesund ist und daher das extrem hehre Ziel der WHO („Gesundheit für alle“) alle Anzeichen einer Illusion haben dürfte.

Für uns Einzelne, von der WHO Besorgte wird das Phänomen „Gesundheit“ erst bei Krankheit oder mit zunehmenden Alter spürbar. Oder richtiger gesagt: Nicht mehr spürbar. Dem Wiederherstellen oder zumindest Annähern des Idealzustand „Gesundheit“ widmet sich seit der Steinzeit (und vermutlich seit Anbeginn der Menschheit) eine ganze Industrie. Heute wird in den hochindustrialisierten Gesellschaften des Westens jeder zehnte Euro für Gesundheit, beziehungsweise für die Massnahmen ausgegeben, die ihr Fehlen nach sich ziehen.

Die Förderung und Erhaltung der Gesundheit erfordert geringe finanzielle Mittel. Teuer und in unserer auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Welt vorherrschend ist dagegen ist die kurative Medizin, der Versuch also, Gesundheit wiederherzustellen. In der Antike war das genau umgekert. Wer es sich leisten konnte, gab Unsummen dafür aus, eben nicht krank zu werden. (Wer es sich nicht leisten konnte, ging zumindest in die Therme.) Ging die Gesundheit trotz ärztlicher Kunst dennoch verloren, war auch ein hochbezahlter Arzt seinen Job los.

Was und wie gesund ist, und wie es sich anfühlt, dürfte den meisten von uns bekannt sein. Woher aber kommt das Wort selbst?

Eine seltsame Koinzidenz findet sich beim Stochern in den etymologischen Wurzeln des Wortes „Gesund“. Es kommt von einem indoeuropäischen „sunto“, „suento“ und bedeutet schlicht „gesund sein“, „rüstig sein“. Ausgerechnet dieses Wort, dessen Bedeutung positiver nicht sein könnte, klingt verdammt ähnlich, wenn nicht gleich wie das Wort „Sünde“, im althochdeutschen noch „sunta“ ausgesprochen.

Wenn zwei Worte gleich klingen, liegt der Verdacht nahe, dass sie ein und dasselbe bezeichnen. Die Frage ist nun, ob einst die Gesundheit sündig war, oder die Sünde gesund. Die Antwort ist so umoralisch wie wahr: Beides. Graben wir bei der „Sünde“ noch tiefer im etymologischen Myzel, als eben noch bei der „Gesundheit“ stossen wir auf das altinidsche „sánt“, das soviel bedeutet wie „wahr“, „gut“, „seiend“. Seiend. Ob wir gut sind, darüber lässt sich streiten, wahr sind wir, je nach philosophischer Betrachtungsrichtung schon eher, „Seiend“ sind wir fast sicher. Über viele Bedeutungsumwege hat sich das Seiende, das Sunde zum Getanen, zur Tat gewandelt. Von der Tat zur strafwürdigen Tat und von der zur Schuld waren es dann nur mehr kleine Schritte in Richtung „sunta“, Sünde, jenem germanischen Rechtsausdruck, den die Kirchensprache zur Übersetzung des lateinischen „pecccatum“ – Vergehen verwenden sollte.

Auf abenteuerliche Weise, wurde also das indoeuropäische Sein, das Gesundsein während der langen Reise Richtung Westen zum Sündigen, ohne dass sich jemand über diese Entführung je grössere Sorgen als die über einen eingerissenen Nagel gemacht haben dürfte.


Offizielle Seite der WHO, der World Health Organisation
Karl Hörmann über die Sünde im „Lexikon der christlichen Moral“
Artikel über Sünde auf „Schwarzes Netz“
Wikipedia-Artikel über Krankheit
Gesundheitsportal Lifeline
Das ultimative Nachschlagewerk Pschyrembel