metaphysics ::: Digitaler Mensch

Erschienen in .copy 28/Oktober/2006

Golem.jpgAls der Religionshistoriker Gershom Scholem, Inhaber des Lehrstuhl zur Erforschung jüdischer Mystik an der Universität Jerusalem hörte, dass 1965 im Weizmann-Institut für Wissenschaften im israelischen Rehovot ein hochkomplexer neuer Großrechner in Betrieb genommen werden sollte, schlug er vor, diesen „Golem I“ zu nennen. Scholem, 1897 in Berlin geboren, gilt als Wiederentdecker der Kabbala, jener mystischen, meist mündlich weitergegebenen jüdischen Geheimlehre. Mit der Geschichte vom Golem, des ersten Roboters der Neuzeit, den der legendäre Prager Rabbi Löw zur Abwehr antisemitischer Zeitgenossen aus einem Klumpen Ton geformt haben soll, war Scholem aus Mitteleuropa vertraut.

Um vier Uhr morgens (nach jüdischem Kalender des 20. Adar 5340, nach christlichem des 17. März 1580) verliessen drei Männer, Rabbi Löw, sein Schwiegersohn und ein Schüler die hunderttürmige Stadt. Ihr Ziel: Eine Lehmgrube an der Moldau.

Im Nebel des Morgengrauens formten sie mit ihren Fingern (lat. digites) aus dem feuchtem Flusslehm eine drei Ellen hohe menschliche Figur. Einen digitalen Menschen also. Ganz, wie es in den Schriften stand, befahl Rabbi Löw seinem Schwiegersohn, siebenmal um den Lehm-Cyborg herumzugehen und dabei eine bestimmte Formel (tzirufim) aufzusagen. Die Tonfigur begann zu glühen. Nun umschritt Rabbi Löws Schüler die Figur siebenmal: Der Golem (hebräisch für “dumm”, ”ungeformt”) wurde feucht und dampfte, es wuchsen ihm Haare und Fingernägel. Als letzter schritt der Rabbi selbst siebenmal um den Golem herum. Gemeinsam stellten sich die drei Beteiligten zu Füßen des Golem auf und sprachen den Satz aus der Schöpfungsgeschichte: „Und Gott blies ihm den lebendigen Atem in die Nase, und der Mensch erwachte zum Leben.“

Da öffneten sich die Augen des Golem. Rabbi Löw befahl dem nackten Lehmroboter, sich aufzurichten. Die drei Männer zogen ihm das mitgebrachte Gewand eines Schammes (eines Synagogendieners) an. Rabbi Löw gab dem Golem den Namen Joseph nach dem talmudischen Joseph Scheda, der halb Mensch gewesen sei und dem Rabbi in vielen Bedrängnissen beigestanden haben soll.

In der Stube des Rabbi sass der Golem stets leblos in der Ecke. In Betrieb genommen wurde er erst durch Rituale aus dem Sefer Jezirah, des Buchs der Formung, des ältesten schriftlich überlieferten Werks der Kabbala. Um den Golem einzuschalten, musste ihm Rabbi Löw einen Zettel mit dem Schem, dem Namen Gottes, unter die Zunge legen. Heute würden wir wohl “Application” zu diesem Zettel sagen.

Die Aufgabe des Golem war es, in den Nächten vor dem Pessachfest durch die Stadt zu streifen und jeden aufzuhalten, der eine Last mit sich trug, um zu kontrollieren, ob es ein totes Kind sei. Es sollte niemandem mehr möglich sein, Kinderleichen zur Verleumdung der Prager Judenschaft in die Judengasse zu werfen.

Sonst machte sich der Golem als Schammes nützlich, er fegte die Synagoge und läutete die Glocken. Der Zettel unter der Zunge musste an jedem Sabbat entfernt werden.
Das unrühmliche Ende fand der Golem, als der Rabbi eines Tages vergessen hatte, dem Golem das Computerprogramm unter der Zunge wegzunehmen. Der Tondiener drehte durch, und konnte nur durch Termination gestoppt werden. Der Rabbi musste sein Geschöpf in Scherben schlagen.

Unschwer sind der Legende vom Golem, die von Paul Wegener eindrucksvoll auf Stummfilm gebannt wurde, eine ganze Reihe animierter digitaler und halbdigitaler Diener entsprungen. Das Monster von Frankenstein, der Zauberlehrling und die Maschinenwesen aus Metropolis ebenso wie die von Arnold Schwarzenegger dargestellten Terminatoren. Dabei gilt Arnie modernen Kabbalisten selbst als lebender Golem: Von einem jüdischen Bodybuilding-Trainer aus postnazistischem österreichischem Landlehm zum universalen Muskelmann geformt und als weltweit wirkenden Filmikone eingesetzt, ist der Schwarzenegger-Golem entwischt und führt als republikanischer Gouverneur ein ganz und gar nicht gottgefälliges Eigenleben.

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