metaphysics ::: Geborgen

Geschrieben für .copy 21 i.e. 02/2005, Nicht erschienen.

Das Wort „geborgen“ beschreibt das Gefühl, behütet und beschützt zu sein. Es ist das Partizip des Verbums „bergen“. Im Geborgen sein schwingt leise eine Ahnung an die Rettung aus der Katastrophe mit. Vom Berg, von der Burg stammt der Ausdruck „Bürger“. Geborgen in ihrem Staat sollen sich die Staatsbürger eines modernen Gemeinwesens fühlen.

Bei der Beschäftigung mit dem Wort „geborgen“ stossen wir sehr bald auf das „bergen“. „Geborgen“ ist das Partizip, die Vergangenheitsform des Verbums „bergen“. Während das geborgen sein die wohlige Wärme des behütet seins, des beschützt seins verströmt, geht es wild her beim Bergen. Geborgen werden gemeinhin Verunglückte, Verletzte, in See- und Bergnot geratene. Geborgen können wir nur „werden“. Geborgen werden, geborgen sein ist ein passives Geschehen. Bergen ist ein sozialer Vorgang. Geborgen sein das Ergebnis von Solidarität.

Geborgen wird und wurden aber nicht nur in Not geratene Menschen, sondern durchaus auch Unbelebtes, ganz und gar nicht Verunglücktes. Erz nämlich. Kostbares, magisches Material, das geschmolzen wurde und geschmiedet, getrieben und gebogen. Bevor es am Amboss zu Schwertern, Schneiden und Scharen geschmiedet, zu Pfannen, Töpfen und Kannen getrieben und zu Münzen und Knöpfen geschlagen wurde, musste das Erz, das Irdene, das Archaische, aus der Erde geholt werden. Geborgen eben. Herausgegraben, Herausgebrochen. Aus dem Berg, in dem es schlief, wurde das Erz mit Feuer geweckt. Die ersten Schmiede müssen das Schmelzen von Erz für Höllenzauber gehalten haben.

Das kann der Grund sein, warum die indoeuropäischen Wurzeln der Worte Berg und Feuer enge Verwandte sind. Noch im Alt-Griechischen ähneln einander pyrgos (Burg) und pyr (Feuer). Mons pyrenaeus hiess in der Antike nicht nur das Gebirge, das Iberien von Gallien trennt, mons pyrenaeus hiess auch jener Pass über den heute der Transit halb Europas läuft. Ist es Zufall, dass der mons pyrenaeus – der Feuer haltende Berg – heute Brenner heisst? Oder heisst der Brenner Brennner, weil er ein Signalberg war, über den das erste Internet Europas lief, jenes engmaschige Netz von Feuerstationen, über die Rauch- und Lichtmeldungen durch die keltischen Reiche geschickt wurden? Es gibt gute Gründe, in den mittelalterlichen Burgen die Reste jener Signaltürme zu sehen, in denen einst das Nachrichten-Feuer geborgen wurde.

Das Feuer brannte also weiter in der mittelalterlichen Burg, der Festung, in der die nach ihr benannten Bürger Zuflucht vor Feinden fanden. Um die Burgen wuchsen Kaufmannssiedlungen und Handwerksbuden zu Städte heran. Um die Städte wurden Mauern gebaut. Ihre Bewohner nannten sich ebenfalls Bürger. Geborgene. Die französische Revolution emanzipierte diese Geborgenen. Das Bürgertum, die Bourgeoisie empörte sich gegen den Adel. Die Faubourgs, die Vorburgen, von der Stadt durch den Wall, den Boulevard getrennt, vereinigten sich mit der Bourg. Bürgerin und Bürger war nun jeder, von der Magd bis zum ehemaligen König. ein Jahrhuindert später errichteten die Bürger wieder einen Feuerturm, den ultimativen Signalturm. Den Eiffelturm, errichtet aus – Eisen.

Feuer war also kein Privileg der Burg mehr. Die Weitergabe von Information nicht mehr an den Burgturm gebunden. Das Lehen, das Leihen von Grundbesitz, jenes komplizierte System mit dem Kaiser und König den Adel – die Herrschaftsschicht an sich gebunden hatte, existierte nicht mehr. Ein anderer, nicht weniger komplexer Mechanismus von Abhängigkeit war längst an seine Stelle getreten. Das Prinzip des Borgens, des Vermietens von Geld. Erfunden in den ersten Bürgerstaaten, den florentinischen und oberitalienischen Stadt-Republiken.

Ob der Kapitalismus, das bürgerliche Machtgebirge des Borgens und Verborgens mit dem archaischem Gefühl des Geborgenseins vereinbar ist, ist eine Frage, an der sich schon ein gewisser Karl Marx folgenreich entflammt hatte.


Offizielle Seite der Österreichischen Bergrettung
Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) ist zuständig für den Such- und Rettungsdienst im Seenotfall.
Wikipedia-Artikel über Bergbau
Über keltische Signalanlagen
Karl Marx / Friedrich Engels – „Das Kapital“ und andere Studien zur Ökonomie Online
http://www.mlwerke.de/me/me_zuoek.htm

metaphysics ::: Unterwegs

Erschienen in .copy 20 i.e. 01/2005

Unterwegssein gilt in der kollektiven Wahrnehmung als Ausnahme. Dabei ist Mobilität die Regel, das Bleiben an einem Ort die Ausnahme. Wenn wir Paläontologen und Populationsgenetikern glauben, ist die Menschheit in Gestalt des modernen Homo sapiens vor etwa 100.000 Jahren in Ostafrika entstanden und hat sich in unzähligen Wanderbewegungen über Kontinente, Inseln und Archipele ausgebreitet.

Sogar außerhalb der Erde leben heute Menschen: Die Astronauten der internationalen Raumstation ISS sind im wahrsten Sinn des Wortes ständig unterwegs. Weil die ersten Menschen Jäger und Sammler waren und die Idee fester Siedlungen erst mit der Erfindung der Landwirtschaft vor rund 12.000 Jahren entstand, gehört das Umherziehen zu unseren ältesten Talenten. Die europäischen Nationalstaaten sind das Ergebnis jahrtausendelanger Migration europäischer (und nichteuropäischer) Populationen. Sogar in scheinbar „alteingesessenen“ Gegenden wie den Alpen haben sich Reste dieses Nomadentums erhalten. Die Almkultur, der Wechsel von Sommerweiden und Winterstall, ist ein Echo wandernder Hirtengesellschaften und hat mit den Nomaden Zentralasiens, nordeuropäischen Saamen oder den aus dem indischen Punjab stammenden Roma und Sinti mehr gemein, als manchem Heimatforscher lieb sein dürfte.

Selbst im Mittelalter war das Wandern eher die Regel als die Ausnahme. Christliche Pilger zog es nach Santiago, Rom und Jerusalem (später kamen die Kreuzritter dazu), Moslems auf die Hadsch nach Mekka und Medina. Die ersten Kaufleute waren fahrende Händler, die von Dorf zu Dorf zogen, auch Kaiser und Könige hatten keine feste Bleibe, sondern waren mit ihrem Hofstaat dauernd zwischen Pfalzen, Klöstern (sie hatten die Pflicht zur „Königsgastung“) und Städten unterwegs. Die Walz, das weite Reisen der Handwerksgesellen über Hunderte Kilometer von Meister zu Meister gibt es noch heute. Und den Zirkus sowieso.

Ein trauriges Kapitel menschlicher Reisetätigkeit sind Kolonisation und Kriegszüge. Krieg galt schon den Griechen der Antike als „Vater aller Dinge“, womöglich ist er auch der Großvater aller Reisen. Nachhall der martialischen, durchaus maskulinen Mobilität sind nicht nur Tod und Elend, sondern auch ein kulturelles und genetisches Amalgam: die Kriegskinder.

Die moderne Gesellschaft hat das Unterwegssein neben der Kommunikation zum Hauptthema gemacht: Urlaub, das ritualisierte Nomadisieren, wird auch in anderen Kontinenten absolviert. Das tägliche Pendeln von der Schlafstadt ins Büro oder die Fabrik gehört heute ebenso zum europäischen Alltag wie das Umherziehen von Politikern, Fernfahrern, Kongressteilnehmern, Vertretern und Handelsreisenden.

Das mobilere Geschlecht ist trotz männlichem Hang zum Gaspedal übrigens das weibliche: Migrationsforscher haben nachgewiesen, dass Frauen durchschnittlich weiter von ihrem Geburtsort entfernt leben als Männer.


Think-Tank über Migration
Wikipedia-Link über die Saamen
Webjournal über Kultur und Geschichte der Romani
Wiki-Link über Roma und Sinti

metaphysics ::: Glück

Erschienen in .copy 19 i.e. 05/2004

Glücksgefühle entstehen im Zusammenspiel von Gehirn und Hormonen. Molekularbiologen haben entschlüsselt, auf welche Weise etwa Sex, Sport und Schokolade Glücksgefühle auslösen. Selbst den „Sitz des menschlichen Glücks“ haben sie lokalisiert: in der mandelkerngroßen Hirnregion Amygdala des limbischen Systems. Hier findet sich besonders häufig der Botenstoff Oxytozin, ein Nerveneiweiß, das in der Evolution erst mit der Entwicklung der Säugetiere auftritt. Beim Sex etwa bildet die Hypophyse verstärkt Oxytozin. Manche Forscher machen es für das intensive Glücksempfinden beim Orgasmus verantwortlich. Psychophysiologen zählen Glücksgefühle den primären oder unwillkürlichen Emotionen Freude, Trauer, Furcht, Wut, Überraschung und Ekel zu.

Diese angeborenen Muster sind in allen Kulturen bekannt. Etwa tausend chemische Botenstoffe steuern diese menschlichen Gefühlsregungen. Als Glücksboten gelten vor allem die Neurotransmitter Serotonin und Dopamin. Zusammen mit Adrenalin und Noradrenalin heben sie die Stimmung. Neben diesen Molekülen spielen wohl auch Endorphine eine Rolle beim Empfinden von Freude und Glück. Abgeleitet von der Bezeichnung „endogenes morphiumähnliches Molekül“, handelt es sich dabei um körpereigene, also endogene Morphine, die an die gleichen Bindungsstellen andocken wie die als Schmerzmittel und euphorisierende Suchtmittel bekannten Opiate.

1996 veröffentlichten die US-amerikanischen Psychologen David Lykken und Auke Tellegen von der Universität Minnesota ihre Forschungsergebnisse über den genetisch festgelegten, individuellen „Set-Point of Happiness“. Er ist von Mensch zu Mensch verschieden. Auf einer bislang ergebnislosen Suche nach einem Gen fürs Glücklichsein ist der US-Wissenschaftler Dean Hamer. Topkandidat von Hamer, der schon das „Gottes-Gen“, die neurobiologischen Voraussetzungen für religiöse Gefühle, beschrieben hat: das Gen, das für die Konstruktion der Bindungsstelle auf den Hirnnerven zuständig ist, die den Glücksboten Dopamin aufnehmen. Sprachwissenschaftler leiten „Glück“ vom Verb „gelingen“ ab. Glück und das sprachlich verwandte englische „luck“ bezeichnen ursprünglich das Gelungene, das leicht Erreichte oder den günstigen Ausgang eines Ereignisses. So kommt der Ausdruck „Glück“ ins Glücksspiel.


Die Forschungsarbeit von Lykken und Tellegen über den „Set-Point of Happiness“ als PDF
Website
des Glücksgenforschers Dean Hamer
The Luck Project

metaphysics ::: Arbeit

Erschienen in .copy 18 i.e. 04/2004

Im Film „Megacities“ erzählt der österreichische Regisseur Michael Glawogger vom Leben in den Slums der Riesenstädte. In seinem neuen Film geht er auf die Suche nach den letzten echten Arbeitern: Drei Männer mit schwarzen, verschwitzten Gesichtern, Grubenlampen auf den Helmen, schieben sich irgendwo in der östlichen Ukraine in einen horizontalen Felsspalt, der gerade einmal so hoch ist, wie ihre Schultern breit sind. Mit ruhigen, gezielten Schlägen hauen sie tiefschwarze Steinkohle aus dem lebensgefährlich engen Flöz. An einem schmutzigen Sandstrand in einer anderen Ecke des Globus klettern Vermummte mit dicken Schutzbrillen das haushohe Wrack eines rostigen Öltankers hoch. Mit primitiven Schweißbrennern zerschneiden sie die armdicken Stahlplatten des riesenhaften Schiffsleibes vom Oberdeck bis zum Kiel und zerlegen den Tanker in Stücke von der Größe ganzer Häuserblocks. Kaum ist eines dieser gigantischen Rippenstücke ins flache Wasser gestürzt, wird es von einem anderen Team bestiegen, das es in kleinere und diese in noch kleinere Stücke zerschneidet, bis am Ende tischplattengroße, scharfkantige Eisenstücke, von nackten Händen getragen, auf riesige Stapel gelegt werden.

Die beiden Szenen sind exemplarisch für Michael Glawoggers gewaltigen Film „Workingman’s Death“. Körperliche Schwerstarbeit ist praktisch unsichtbar geworden in unserer globalisierten Welt der Maschinen, Fabriken und Konzerne. Und mit der körperlichen Schwerstarbeit scheinen auch Arbeiter und Arbeiterinnen – zu Zeiten des Kommunismus noch zu Helden stilisiert – verschwunden zu sein. Heute werden Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mehr mit falschen Hymnen bejubelt – sondern überhaupt nicht mehr. Ist der Arbeiter tot, sein Ruhm verblasst, ersetzt durch die billige Kraft der Maschine? Es gibt ihn noch, den Arbeiter – oft jedoch illegal und unterbezahlt, von keiner Gewerkschaft vertreten, von keinem Arbeitsgesetz beschützt. Weil es noch immer Regionen gibt, in denen Menschen schwere Arbeit billiger erledigen als Maschinen: Menschen, die in einem Vulkanschlot auf Java Schwefel brechen, in Nigeria Rinder zerlegen, in Pakistan Schiffe zerschneiden oder in aufgelassenen sowjetischen Steinkohleflözen nach Heizgut für den Winter schürfen. Michael Glawogger hat für seinen Film die letzten Arbeiter aufgespürt. Das dokumentarische Epos wird nächstes Jahr ins Kino kommen, Eindrücke von den Dreharbeiten gibt es auf der Homepage des Films.


Offizielle Website des Films Workingman’s Death
Grateful Dead’s Album „Workingman’s Dead“