Das Wiener Kaffeehaus

Ein Essay von Andrea Maria Dusl

Für die WELT am SONNTAG; geschrieben am 28.7.2016

-> Wiener Kaffeehäuser sind mythische Orte – in: Welt Am Sonntag vom 8.1.2017, S. 52/53.

©Andrea Maria Dusl - Wien - Café Sperl comandantina.com
Café Sperl, Wien.

Das Kaffeehaus ist der Minotaurus im Labyrinth Wien, jenem Irrgarten, in dem sich alle auskennen. Als Ariadnefaden dient der Diskurs, der hier gepflogen wird. Sei er selbstreferentiell oder dialogisch.

Viel Unsinn ist über diesen wienmythischen Ort geschrieben worden. Das meiste von Einheimischen, der Rest von unterinformierten Adoranten aus dem befreundeten Ausland. Effekt dieser Publikationsflut ist ein grundsätzliches Missverständnis Uneingeweihter über Funktion und Bestimmung des Wiener Kaffeehauses.

In Zirkulation befinden sich Deutungen, die dem Wiener Kaffehaus uneingelöste gastronomische Kompetenzen zusprechen – von der Eleganz und dem Charme der Oberkellner ist die Rede, von der fabulösen Mehlspeistradition, und der unnachahmlichen Qualität des hier gesiedeten Kaffees. Unsinn.

Wegen des Kaffees jedenfalls ging oder geht niemand mit ernsten Absichten und einigermassen Erfahrung in ein Wiener Kaffeehaus. Der Bohnenseich ist im besten Fall trinkbar, meist ärgerlich bitter, schal und nicht selten schlicht ungenießbar.

Warum also geht man in Wien in ein Kaffeehaus? Warum bleibt ein Wienbesuch leer und ereignislos, ohne den Besuch einer solchen gastronomischen Einrichtung? Die Frage ist so berechtigt, wie unbeantwortet. Im Triestiner Caffè degli Specchi gibt es den besseren Kaffee, das venezianische Caffè Florian hat die bessere Adresse (und das elegantere Ambiente), das New York kávéház in Budapest beeindruckt mit grösserem Prunk und in den Pariser Cafés Les Deux Magots und de Flore wird mehr und höherstehend philosophiert, geschrieben und debattiert. Was also macht das Wiener Kaffeehaus zu einer Institution von weltgeltender Einzigartigkeit?

Ins Wiener Kaffeehaus, so die lokale Sinnstiftung, ging und geht man, um sichtbar unsichtbar zu sein, ungestört zu stören, und, wie es so treffend heißt, nicht daheim zu sein und doch zu Hause. Das ist alles? Das ist alles.

Das Wiener Kaffeehaus, eine orientalische Idee, 1685 vom Armenier Owanes Astouatzatur vulgo Johannes Diodato erstmals eingerichtet, ist eine Akademie der Dialektik. Die Verhältnisse an diesem real-irrelen Ort können auch überschiessen und statt ins Paradies direkt in den Untergang führen. Das Wiener Kaffeehaus, so dürfen wir ein Zitat Winston Churchills abwandeln, produziert mehr Geschichte, als es lokal konsumieren kann.

Gehen wir näher ran. Dort wo der Schmerz sitzt. Wiens Öffentlichkeit ist spärlich entwickelt. Es gibt eine Presse, aber sie hat nur lokale Bedeutung. Es gibt eine Intelligenzija, aber sie meldet sich kaum zu Wort. Die Menschen in der Metropole der Depression haben nie Gelegenheit ergriffen, eine heterogene zivile Gesellschaft aufzubauen, geschweige denn, ein Sensorium dafür zu entwickeln, was Öffentlichkeit bedeutet, bedeuten kann und in letzter Konsequenz: bedeuten soll. Es wundert also nicht, dass sich in der Versuchsstation des Weltuntergangs stattdessen eine Kultur der Halböffentlichkeit entwickelt hat.

Die einzige brauchbare Begegnungsstätte dieses verborgenen Austauschs, eine Agora aphana, war und ist das Kaffeehaus. Es ist die einzige funktionierende Aufklärungsmaschine des Landes. Im Kaffeehaus wurden und werden Nachrichten gedealt, Revolutionen geplant, Symphonien geschrieben. Im wörtlichen, nicht im metaphorischen Sinn.

Eine oft erzählte Anekdote des sozialdemokratischen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky kolportiert einen Ohrenzeugenbericht seines Vaters. Als in dessen Stammlokal, dem Café Central die Nachricht von der Oktoberrevolution eintraf, sei sie von einem anwesenden Minister mit Unglauben aufgenommen worden: “No, sag, mir einmal, wer soll dort eigentlich Revolution machen, vielleicht der Herr Bronstein dort drüben?“ Lew Dawidowitsch Bronstein, schachspielender Stammgast im neogotischen Kaffeehaus in der Wiener Herrengasse, war niemand geringerer als der russische Revolutionär, spätere Außenminister und Gründer der Roten Armee: Leo Trotzki. Besagter Bronstein, die späteren Diktatoren Stalin und Hitler, der nachmalige Jugo-Marschall Tito und ein gewisser Dr. Freud sind, so die oft angestrengte Überlegung, mit einiger Wahrscheinlichkeit im Jahr 1913 gleichzeitig im Café Central gesessen und haben ihr jeweiliges Leibblatt studiert, vielleicht sogar die eine oder andere Partie Schach oder die Kaffeehauszerstreuung Karambol miteinander gespielt, jedenfalls aber Kaffee aus der selben Maschine getrunken.

Viel wurde geschrieben und berichtet vom Lieblingscafé, vom Stammcafé. Auch dieser Mythos steht auf schlechtem Fundament, denn die Wienerin und der Wiener und alle, die es ihnen gleichtun, haben für jeden Zweck ein eigenes Kaffeehaus. Für das Ungestörtsein eines, für schwierige Treffen ein anderes, ein drittes für das Rendezvous, ein weiteres für den Tortenheißhunger und ein fünftes, in dem man jederzeit ungefragt aufs Klo gehen kann.

Die Kaffeehäuser der Stadt sind Maschinerien mit vielfältigem Kharma. Manche hat der Kaffeehausgott zu früh von uns genommen (und in Autosalons und Fluglinienbüros überführt). Manche hat er bis zur Kenntlichkeit entstellt, manche hat er dem Dämon touristischer Tauglichkeit geopfert. Nicht wenige hat die Vergangenheit in den bösen Strudel der Vernichtung gezogen. Auf der Suche nach einem typischen Wiener Kaffeehaus bietet etwa der Zweite Wiener Gemeindebezirk ein trostloses Bild. Das hat Gründe und sie sind bitter. Die Mazzesinsel, vorrangiger Wohnbezirk des jüdischen Mittelstandes, wurde von den Nazis grausam entvölkert. Wo es kein Publikum für die Institiution Kaffeehaus gab, sperrten auch die arisierten Cafés bald zu.

Die Liste derer, die in einem spezifischen Kaffehaus verkehrten, war stets länger als das Verzeichnis der Abwesenden. Würde Wien bis auf alle Grundmauern verschwinden und nur ein einziges Café bleiben, man könnte die Stadt wiedererrichten aus den Geschichten, die hier erlebt wurden, aus dem Personal, das es bevölkerte, aus der Sprache, die hier gesprochen wurde.

Im Paralleluniversum Kaffeehaus wurde und wird ein Jargon gepflogen, der das Amüsement des Alltäglichen auf der Schaumkrone des Abgründigen spazierenschippert. Für Hege und Pflege dieser Sprache, die als „Kaffeehauswienerisch“ noch nicht endgültig erforscht und beschrieben ist, sorgt eine (meist kleine) Stammkundschaft, die sich in hingebungsvoller Treue um einen sogenannten “Lieblingskellner” schart. Einer dieser Protagonisten, das Original “Herr Peter”, des verlustig gegangenen Intellektuellen-Cafés Salzgries, führte allen ernstes Visitenkarten, die ihn als „Peter Ferber, Leitenden Direktor der manuellen Getränke-, Kaffee- und Lebensmittelspedition auf mikroregionaler Ebene“ auswies. Besagter ist nicht das einzige Original im Kosmos Café. Legendenhafte Verklärung wurde etwa dem Kaffeesieder-Ehepaar Hawelka zuteil, das im gleichnamigen Künstlercafé die Polarität von Oberkellner-Depression und Kuchenküchen-Manie zelebrierte. Ein Besipiel anderer Dimension manifestierte sich in “Herrn Robert”, der drei Jahrzehnte hindurch im ehrwürdigen Politiker-Café Landtmann amtierte. An seinem letzten Arbeitstag ehrte ihn zahlreich erschienene Prominenz. Wiens Bürgermeister Michael Häupl servierte dem Scheidenden, der ihn so oft bedient hatte, einen kleinen Braunen und überreichte ihm die populärste Auszeichnung der Stadt, den “Goldenen Rathausmann”. Für den „berühmtesten, diskretesten und zuvorkommendsten Kellner Wiens“.

Zuvorkommend muß nicht freundlich heißen. Ist doch die zentrale Befindlichkeit eines Wiener Kaffehauskellners (Arbeitskleidung: schwarzer Smoking, weisses Hemd, schwarze Fliege) der “Grant”. Touristen und Stadtnovizen haben bei Identifizierung und Einordnung dieser spezifisch Wienerischen Befindlichkeit schlechte Karten, sind sie doch durch die gastronomischen Usancen in angloamerikanisch empathisierten Gegenden verweichlicht und empfinden Groll und Unsicherheit gegen jene wortkarge Befindlichkeit, die unter der wienerischesten aller Wiener Gefühlswetterlagen summiert werden.

Auf der Suche nach dieser Seelenregung werden wir bei bei Thomas Bernhard fündig, der diese überaus Wienerische Laune wie eine Exoprothese einzusetzen wusste. In anderen Gegenden als der Bitterwelt Bernhards wäre der “Grant” eine Sünde wider das Miteinander, im Wien der Ichleidenden ist er nicht die Krankheit, sondern sein Remedium. Wer in Wien grantelt (und nur hier lässt es sich granteln), der ist schon auf die sichere Seite therapeutischer Sinnstiftung gekrochen. Der Grant ist tiefgefühlter Ausdruck ehrlichen Ringens um Güte. Man hüte sich, befinde man sich in Wien, vor der Lüge der Freundlichkeit.

Eine beliebte Herkunftshypothese will den Grant, die Miene gewordene Unzufriedenheit, in den Gesichtern der neuzeitlichen spanischen Granden ausmachen, die Wien im Zuge der habsburgischen Imperialexpansion aufsuchten. Nach dieser Erklärversion hätten die Wiener die blasierten und übelgelaunten iberischen Aristokraten als grandig, grantig wahrgenommen und die höfische Bezeichnung für die Hohen Herren flugs zur Vokabel für hiesiges Stimmungsklima gemünzt. Etwas wahrscheinlicher ist eine Wortherkunft vom althochdeutschen “grintan”, mit den Zähnen knirschen. Mit größerer Sicherheit kommt der Grant aber vom oberdeutschen “grennen”, weinen. Hier schliesst unser heute noch verwendetes Greinen an, das lautmalerisch dem Weinen ähnelt, und das leise in sich Hineinflennen meint, ursprünglich aber wohl – wie das verwandte Grinsen –  jegliche Form des Mundverziehens bezeichnete. Wir fassen die Kaffeehausgefühle zusammen: Einzig der Grant ist Glückes Garant.

Als es in den späten Neunzigern kalt geworden war in der Stadt und die politische Rechte erstmals ihre populistische Schraube angezogen hatte, leimte die Freiheitliche Partei Jörg Haiders gequirlten Unsinn an die Wände: „Wien darf nicht Chicago werden“.

Kaffeehausliteraten antworteten an der Toilettenwand des Café Salzgries: „Wien darf nicht Österreich werden.“


Die Filmemacherin und Autorin Andrea Maria Dusl ist promovierte Kulturwissenschaftlerin. Sie lebt und arbeitet in Wien. Zuletzt erschien ihr Essayband “So geht Wien! Von Arschkappelmuster bis Zwiebelparlament” (Metroverlag, Wien, 2016; ISBN 978-3-99300-244-2).

 


Die nachfolgenden Empfehlungen sind eine subjektive Auswahl der Autorin und folgen jahrzehntelanger Expertise im Shortening von Longlists.

Café Bräunerhof

Stallburggasse 2, 1010
Mo-Fr 8-19.30, Sa 8-18.30; So, Feiertag 10-18.30
+43 1 512 3893

Thomas Bernhard saß hier, das Glück der Depression auskostend, in kritischer Nähe zu seinem lebensbestimmten Leiden: Österreich. Die Kellner gelten als die grantigsten Wiens, ihr Servierhabitus ist dennoch olympisch. Das Bräunerhof ist die ideale Mischung aus Nachrichtenbörse, Echokammer, Therapiesalon und Denkklause.

Kaffee Alt Wien

Bäckerstraße 9, 1010 Wien
täglich 10-02
+43 1 512 5222

Die Lokalität mit der düsteren Anmutung einer mittelalterlichen Kaschemme hat einen Ruf als Nachtcafé der Wiener Bohéme, den es mit großer Beharrlichkeit auch unter Tag zu verteidigen sucht, wo diese Leute gemeinhin noch schlafen. Obwohl als Kaffeehaus etabliert, trinken Stammgäste Kaffee hier nur als Akut-Weckamin. Bier und Rotwein sind die Getränke der Wahl, gart die slawischen Höhle Alt Wien doch das beste Gulasch der Stadt. Korrigiere: der Welt.

Café Landtmann

Universitätsring 4, 1010 Wien
täglich 7.30–24
+43 1 24 100-100
cafe@landtmann.at
www.landtmann.at

Das Kaffeehaus in unmittelbarer Nähe von Universität, Burgtheater und der Parteizentrale der Sozialdemokraten hat als eines der wenigen Ringstraßen-Cafés die Reise durch die Zeit mit Würde überstanden und gilt in Ausstattung und Bedienung als elegantestes Kaffeehaus Wiens. Im Landtmann werden nach Angabe der Betreiberfamilie im Durchschnitt 2,8 Pressekonferenzen pro Tag abgehalten. In der Verschwiegenheit seiner Polsterlogen werden Kabinette zusammengestellt und Regierungen gestürzt.

Café Hawelka

Dorotheergasse 6, 1010 Wien
Mo-Mi: 8-24, Do-Sa: 8-01, So und Feiertage: 10-24
+43 1 512 8230
office@hawelka.at
www.hawelka.at

Das plakatpatinierte Café in einer kleinen Seitengasse des Grabens wurde 70 Jahre lang von Kaffeehaus-Legende Leopold Hawelka und seiner böhmische Buchtel backenden Frau Leopoldine geführt. Die Fama besagt, Hawelka hätte das Café bei seinem Ableben als Hundertjähriger zum erstenmal verlassen. Das Hawelka, das sich seit 1912 in unverändertem Zustand befindet, verstand sich stets als Wohnzimmer für angehende und etablierte Künstler und ihre Bewunderer.

Café Westend

Mariahilfer Straße 128, 1070 Wien
täglich 7–02
+43 1 523 3183

Trotz (oder wegen) seiner Nähe zum Westbahnhof atmet hier alles den verblichenen Charme klassischer Wiener Kaffehaustradition. Auf den durchgesessenen Polsterbänken, den knarrenden Thonetstühlen und den marmornen Tischen hat die Zeit, nicht aber die Kaffehaus-Renovations-Mafia ihre Spuren hinterlassen. Dankbar wird das von einem egalitär zusammengesetzten Publikum aus Reisenden, Gelegenheitsspionen und Genre-Connaisseuren angenommen.

Donau so blau!

„(…) Im Bewusstsein der kulturaffinen Weltöffentlichkeit liegt Wien an der blauen Donau. Dieser Befund verdankt seine Entstehung dem sogenannten Donauwalzer, im Spätherbst und Winter 1866/67 von Johann Strauss Sohn komponiert. Der eigentliche Titel des berühmten Walzers lautet „An der schönen blauen Donau“, katalogisiert unter der Opusnummer 314. Der ursprüngliche Text stammt vom Vereinsdichter des Wiener Männergesangvereins, Josef Weyl und besang nicht den Donaustrom, sondern dessen Anwohner mit den Dichterworten: „Wiener, seid froh, oho, wieso?“ Als Strauss später im Jahr, während der Weltausstellung in Paris auftrat und dort dringend neue Kompositionen brauchte, erinnerte er sich an das schon eingeschlummerte Werk. Unter dem Namen „Le beau Danube bleu“ wurde das Stück zu einem großen Erfolg. 1889 entstand dann auch ein neuer Text, der mit dem so eingängigen wie einfältigen Reim „Donau so blau, so schön und blau“ den neuen Titel des Walzers berücksichtigte. Wie aber kam es zur tondichterischen Verbindung von Donau und der Farbe Blau? Niemand hat je den Strom zwischen Leopoldsberg und Bisamberg in der besungenen Farbe gesehen. Auch zu Straussens Zeiten nicht. Zwar hatte dieser bei der originalen Benennung des Stücks auf zwei Gedichte des Dichters Karl Isidor Beck zurückgegriffen, die jeweils die Textpassage „An der schönen blauen Donau“ enthalten, nur bezog sich Beck nicht auf die Donau bei Wien, sondern bei Baja (deutsch Frankenstadt), seinen Geburtsort. Die Kleinstadt Baja, im südungarischen Komitat Bács-Kiskun, liegt 156 Kilometer südlich von Budapest an der „blauen“ Donau. Mit der Farbbezeichnung wird eine Abgrenzung zur „blonden“ Theiß vorgenommen. Der Donauwalzer besingt im Lichte dieser Erkenntnis also fluviale Zustände weitab von Wien, im Dreiländereck Ungarn-Kroatien-Serbien. Alles Walzer!(…)“

Aus: Dusl, Andrea Maria: So geht Wien!, Wien, Metroverlag, 2016, pag. 122f.

Tee mit Leibniz

Gmunden ist eine Kleinstadt in Oberösterreich, es ist, wenn man so will, das Genf des Salzkammerguts. Gmunden unterschiede sich trotz seiner splendiden Lage am schönen Traunsee nicht weiter von Nestern seines Kalibers, wäre es nicht auch das Exil der Exkönige von England.

Die Exkönige von Hannover, von Großbritannien und von Irland, Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und Dukes of Cumberland sind dem deutschen Publikum unter ihrem Familiennamen „Welfen“ bekannt und leben seit ihrer Exilierung aus dem British Empire, von der Yellowpress relativ unbeachtet, in dem verträumten Städtchen am Traunsee. Als Buckingham Palace von Gmunden diente ihnen ab 1866 die komfortable „Villa Cumberland“, heute tut es auch die etwas bescheidenere „Cöniginvilla“.

In der Gmundner Cöniginvilla ging mein Freund Conrad ein und aus. Das war in den 1960ern. Conrad war mit den Royal Highnesses, den Herzögen von Hannover, befreundet, ja, er war schon fast so was wie ein Teil der Familie geworden, und er unterrichtete die Sprösse des Hauses, die beiden Welfenherzöge Ernst August und seinen jüngeren Bruder Ludwig Ernst, in der Sprache Voltaires. Erster sollte später als „Haugust“ und Ehemann der monegassischen Prinzessin bekannt werden.

Weil nun die Welfen einerseits exilierte Könige von Hannover, andererseits aber legitime Exilregenten von England waren, kam es bisweilen zu schizophrenen Situationen. Die Ironie des Familienschicksals ließ es nicht zu, bei Fußballmatches Deutschland gegen England eine der beiden Mannschaften gegenüber der anderen zu favorisieren. Bei Deutschland-England jubelten die Welfen also bei jedem Tor, völlig unabhängig davon, welche Mannschaft es gerade erzielt hatte.

In der Cöniginvilla trank man traditionell „Calenberg-Tea“, ein Getränk, das Herzogin Ortrud, eine geborene Prinzessin zu Schleswig-Holstein-Glücksburg-Sonderburg, kreiert hatte und das auch Gästen gerne und oft gereicht wurde. Calenberg-Tea war aber kein Tee, sondern unverdünnter Whiskey aus dem Supermarkt, der aus Gründen der Etikette in feinem Teeporzellan und stets und ausschließlich zur Teatime serviert wurde.

Fünf Uhr hieß bei den Hannovers deshalb auch schlicht und einfach „Calenberg-Time“. Schlag fünf unterbrach der alte Welfenherzog Ernst August, was immer er auch gerade tat, und näselte mit durstiger Stimme: “It is Calenberg time!“ 

An einem dieser Nachmittage saß mein Freund Conrad mit den königlichen Hoheiten zu Teetische. Man sprach über dies und sprach über das, und irgendwann bekam die Konversation eine naturwissenschaftliche Färbung. Man plauderte erst über Äpfel, dann über Newton, und während man ausgiebig am Calenberg-Tea nippte, griff jemand nach einem Keks, und es kam die Rede auf Gottfried Wilhelm Leibniz.

Und als der Name des deutschen Philosophen fiel, guckte der kleine Herzog Ludwig Ernst, gerade mal acht Jahre alt, von seiner Tasse Calenberg-Tea auf und hauchte altklug: „Leibniz, hat der nich auch mal für uns gearbeitet?“

Aus: Andrea Maria Dusl: Fragen Sie Frau Andrea, Falterverlag, 2003, pagg. 181f.

Theorie des Strandes

Für ‚Der Standard ALBUM‘ vom 23.7.16.

Ein Versuch von Andrea Maria Dusl.

Wer von uns könnte ihn je vergessen? Den ersten Sommer am Strand. Wer denkt nicht voll Wehmut an bunte Liegestühle und ausgeblichene Schirme, an die Schatten hinter den Badehäuschen, an nimmermüde Melonenverkäufer und an brennheißen Hochsommersand? Dem zweiten Sommer folgte ein dritter und irgendwann haben wir zu zählen aufgehört. Alle Sommer am Strand verschmolzen zu einem Kontinuum, zu “dem” Sommer am Strand. Und der Strand war nicht nur Sommer, er war auch Musik. Haben wir nicht alle “Azzurro“ von Adriano Celentano im Ohr, “Ti amo“ von Umberto Tozzi, oder die Sommerhitseuche “Macarena”?

Wer weiß nicht, wie es war, erstmals unbekannte Muscheln aus den Schaumzungen der Wellenzipfel zu fischen, dampfende Pasta Asciutta in der Touristentrattoria zu wickeln, und abends am Corso radebrechend Stracciatella con Nocciola zu bestellen? Un cono per favore! Oder Fragola con Limone? Oder eine Aranciata mit Strohhalm leerzusaugen? Unvergessen.

Wer erinnert sich nicht an eine Kindheit, deren hartes Los aus Luftmatratzenaufpumpen bestand, aus Sandburgenbauen und aus dem ungleichen Kampf zwischen Sonnenöl und roter Haut?

Wer teilt nicht die Expertise, auf Zehenspitzen im flachen Salzwasser stehend die Wellen auszuwippen, wenn sie kühl und unerbittlich, trockene und sonnenwarme Partien des Badekörpers benetzend, reif machen fürs erste Eintauchen, jenen magischen Moment der Meerwerdung, der Vereinigung von Sehnsucht, Furcht und Wirklichkeit. Wer kennt die Gedanken nicht, die durch Körper und Seele taumeln, diesen Moment bis ins Lächerliche zu dehnen, sich der Unausweichlichkeit der Submersion schliesslich in titanenhafter Mutanstrengung auszuliefern.

Wer kennt nicht das Prickeln händisch aufgewirbelten Meeresschaums, den Geschmack salziger Lippen, die Logistik hinter dem schwimmenden Unterfangen, Seegras auszuweichen, oder verdächtigen Schaumbläschen.

Wieder in die Sicherheit des sandigen Strandlandes zurückgekehrt – wer hat nicht den Geruch staubtrockener Krimiseiten verinnerlicht, in der prallen Mittagssonne als Schattenwedel aufs Gesicht gelegt? Wer kennt nicht das olfaktorische Amalgam aus salzignasser Badekleidung, der vanilligen Süße klebriger Sonnenmilch und den dünnen Schwaden einer irgendwo eilig abgebrannten Strandzigarette. Verborgen im Wind, im anonymen Wald der Schirme.

Der Urlaub am Strand gehört zum kollektiven Gedächtnis Österreichs, das Italien der Strände zu den prägenden Erfahrungen der Nation. Auch wenn es andere Ferienmodelle gibt, den Aufenthalt in den Bergen etwa, die Reisen in den kühlenden Norden, oder abweichende Strategien der Litoralritualistik – den Meeresurlaub in Kroatien, Iberien, der Türkei und fernerer Destinationen – der Urlaub am südlichen Sandstrand ist das Ideal. Wie kamen wir dazu und wie sieht es aus? Wie real ist das Ideal?

Warum tun wir uns das an? In der Hitze in der Sonne zu liegen? Weil wir es nicht anders gelernt haben.

Woher kommt der Urlaub am Strand? Wie viele andere Segnungen des Kapitalismus wurden die Ferien im Sand im Mutterland unsere Hegemonialideologie erfunden: In England. Als Geschäftsmodell. Der Strandurlaub gilt als Weiterentwicklung der Gesundheitsmodelle traditioneller Bade-Kurorte. Den salinen Augustfluten wurden prophylaktische Kräfte zugesprochen, in der Exposition der Haut gegenüber der Sonne erkannte man Rachitis-Vorbeugung, frische Meeresluft kurierte lädierte Stadtlungen.

Erste, vorrangig von der Aristokratie besuchte Seebäder gab es schon um 1720 in den North-Yorkshire-Städtchen Whitby und Scarborough. Dort hatte sich, in Zusammenhang mit einer Heilquelle, schon im 17. Jahhrhundert ein angesehener Kurbetrieb entwickelt. Das touristische Potential der Imperialmetropole Londons nutzten schliesslich die südenglischen Bäder Margate, Brighton and Weymouth. Die Vergnügungsindustrie, längst in den Kurorten und Bädern Europas etabliert, fand auch hier beste Bedingungen. Strand und Zerstreuung gingen eine unauflösliche Verbindung ein. Zumindest in kommerzieller Hinsicht. Piers und Vergnügungsparks, Hotelstädte und Gatronomie-Cluster wucherten hinter den Stränden, aufgefädelt an einer zentralen Achse, der Promenade. Der Strand, die Brandung und das Wolkentheater stillte die romantischen Sehnsüchte des Publikums nach friedlicher Urgewalt und unverbastelter Natur. Wie alles am Theater war und ist aber auch der Strand ein Kunstprodukt.

Das Baden am Strand selbst, genauer das Eintauchen ins Wasser, sei es schwimmend oder gehend, folgte noch lange Zeit viktorianischen Etikette-Vorschriften, die weitgehend von körperfeindlicher Prüderie und modischen Normen der Verhüllung bestimmt waren. Um der Sehnsucht nach dem Bad mit Förmlichkeit zu begegnen bediente man sich sogenannten Bathing Machines. Die fahrenden Badehäuschen, um das Jahr 1735 erfunden, waren großrädrige Wagen, meist von Pferden ins badetiefe Wasser gezogen. Im Inneren der fensterlosen Karre zogen sich die Badegäste um. Sobald die mobile Mitekabane ins Wasser gezogen war, stiegen die Badegäste, in hochgeschlossene Ballonkleider gewandet, auf einer kleinen Holztreppe ins Meer.

Die Liebe der Engländer für den Strand war mit der Entwicklung des europäischen Eisenbahnnetzes nach Europa exportiert worden. Die sonnenhungrige und vergnügungssüchtige britische Oberschicht hatte da schon längst die französischem Riviera und die Mittelmeerstrände entdeckt. Nicht zuletzt wegen der laxerern Vorstellungen Kontinentaleuropas Glücksspiel und Nacktheit betreffend. Monte Carlo ist das prominenteste Beispiel auf dem Gebiet der ludischen Extreme, der mallorquinische Ballermann (eigentlich: “Balneario Nº 6“, spanisch für “Heilbad“) nur einer von vielen tragischen Endpunkten in der Evolution des Strandes als Glücksinstitut.

War es im 19ten Jahrundert die Eisenbahn, die Sandstrände als touristische Destination erschloss, diente dazu im 20ten das Flugzeug. Von den englischen Beaches ausgehend zog das Konzept nach Koninentaleuropa und etablierte sich in der Folge weltweit. Scarborough und Brighton liegen jetzt auf den Malediven und auf Ko Samui.

Betrachten wir den Strand aus mitteleuropäischer Perspektive.

Die allerersten heimischen Strandurlauber waren schwindsüchtige Töchter und frauenleidende Gattinnen, tuberkulose Söhnchen und frischlufthungrige Mätressen. Die Strandurlaube der österreichisch-ungarischen Oberschicht hatten Heilcharakter und waren in der Regel vom Medikus verordnet. Sie linderten etabliertes Leiden oder suchten solchem vorzubeugen. Die österreichischen Strandkurorte eiferten den großen Vorbildern an der Côte d’Azur und deren Publikum nach und orientierten sich an der Strandpromenierlust der zaristischen Aristokratie und des englischen Adels.

Die Weltkriege unterbrachen die meisten familiären Urlaubstraditionen. Die gutbürgerliche Sehnsucht nach dem oberadriatischen Meer aber blieb lebendig und verband sich schliesslich, verstärkt und überholt von den den Italienüberfällen der deutschen Wirtschaftswunderkinder zu einem deutsch-österreichischen Adriafimmel. Die Arbeiterfamilien der Kreiskyära waren liquide und mobil. Bibione und Caorle waren ihr Ziel.

Auch wenn die österreichische Durchschnittsfamilie mittlerweile in Griechenland und Mallorca, im Indischem Ozean und im Roten Meer planscht, das Maß aller österreichischen Litoralphantasien wird stets der Urlaub am oberadriatischen Badestrand sein, jener sandigen Kunstküste, die von schattigheißen Pinienwäldern in ein flaches und friedliches Kleinmeer läuft. Der Himmel? Azzurro. Con gelato.

Wie sieht das genau aus? Was macht den Strand zum Strand?

Drei Elemente konstituieren ihn. Sand, Meer, Wind. Der Sand muss fein sein und trocken, das Meer sauber und friedlich, der Wind sanft und stetig. Auch die Tätigkeiten, die uns der Strand auferlegt sind dreifältig elementar: Liegen, ins Wasser gehen, schwimmen. Obschon wir uns dem Phantasma hingeben, hier Verhältnisse radikaler Naturnähe zu erleben, sorgt eine ausgeklügelte Bewirtschaftung für diese Bedingungen. Nichts am Strand ist Natur, alles ist künstlich. Was aussieht, als hätte es das Meer in Jahrmillionen kreativer Romantikarbeit herangeschoben, wurde mit schwerer Technik planiert oder von weither mit dem Lastwagen herangekarrt. Von dort, wo es das Meer (und meistens ein Fluss) tatsächlich abgelagert hat.

Der Strand ist an das Funktionieren einer etablierten Logistik gebunden und symbolhaft personalisiert in braungebrannten Ferialhelden, die sich als Schirmspanner und Liegenwarte verdingen, und dabei das Charisma allzeitbereiter Gigolos abstrahlen. Rettungsschwimmer und Badewarte tragen Spiegelbrillen und sind aus ähnlichem Athletenholz geschnitzt. Sie retten Leben im trügerischen Wasser. Auch im flachen. Der Tod lauert hier überall. Wenn niemand stirbt, sitzen sie am Ende der Piers und dröhnen sich mit Strandmucke aus dem Handy zu.

Das Meer selbst ist in Resten lebendig, aber nicht künstlich wie Strand und Pier, es zeigt seinen Charakter in Ebbe und Flut und in seiner vom Wind gestalteten Oberfläche – Wellen genannt. Die Natur des Meeres offenbart sich, in dem es weitere Natur anschwemmt. Im besten Falle sind das die schleimigen Karkassen der Quallen, die toten Körper kleiner Krabben und das allgegenwärtige Seegras. Vor der Strandöffnung kommt der Bagger und räumt auf. Das eine oder andere Schäufelchen, die eine oder andere Sandkuchenform ist da auch dabei. Bisweilen ein Kanister. Verkippter Plastikscheiss vorbeituckernder Jachten. Und die leeren Joints der illegalen Strandschläfer.

Der Wind ist nur ein Besucher. In der Regel kommt er vom Meer. Nichts anderes sollte man sich wünschen. Zu nahe sind Pizzerias, Grillstationen und die örtliche Kanalisation.

Blauer Himmel, sauberes Meer, eine leichte Brise sind das Ideal. Dann wird der Strand zu einem Sehnsuchtsort und kann uns fortbringen. Überall hin. Ist doch der Strand jener Sehnsuchtsort, der sich nicht selbst erzählt, sondern ausschliesslich die Sehnsucht nach anderen Orten bedient. Zur Produktion dieser Sehnsüchte dient die Lektüre. Das Strandbuch. Der Urlaubswälzer. Dafür braucht es einen steten Ort. Die Strandliege. Sie soll beschattet sein, von übergrossem Schirm, und bequem mit dem Strandtuch gepolstert, stundenlanges Lesen ermöglichen. Elektrolesern stellt der Strand längst ein dichtes WLAN-Netz bereit.

Der bewirtschaftete Strand bildet territorial betrachtet eine Klassengesellschaft des ausgehenden 19ten Jahrhunderts ab, modetechnisch und infrastrukturell orientiert er sich an egalitären Strukturen der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre.

Die territoriale Komponente des Strandes ist auf radikale Minimalismen zurückgeworfen. Als zugewiesenes Zuhause am Strand kann die Strandhütte fungieren, die Mietliege mit Schirm, oder das schlichte Tuch im Sand. Der soziale Rang manifestiert sich in einer dieser drei Möglichkeiten. Als erste Klasse dürfen sich Dauermieter eine teuren Strandhäuschens verstehen (letztere bilden in Form und Grösse die Aufbauten der Strandkarren des 18ten Jahrhunderts nach). Als Angehörige der Mittelklasse gelten Tagesleiher zweier Liegen unter einem zentralem Schirm. Die Unterschicht der Strandgäste leistet schlicht den Tageseintritt und darf am Vorstrand, der Brandung schon nahe, ein Handtuch auflegen, oder am Pier sitzen – auf Planken oder verwittertem Beton.

Platzfragen mögen ans Theater erinnern und haben dort wohl auch ihren Ursprung. Je besser die Sicht auf die Bühne ist, desto höher sind die Preise. Die Bühne, das zeigen diese Verhältnisse, ist die Zone vor den Schirmreihen. Das Niemandsland zwischen Land und Meer, die Brandungsstirn, das anlaufende Meer, der Horizont und seine Qualität als Theater der Navigation: In der Ferne ziehen Containerschiffe und Kreuzfahrtriesen vorbei, davor präsentieren sich Jachten und geringere Kähne. Die Staffage bilden die Badenden.

Modetechnisch ist der Strand, entsexualisierte Zone sexualisierter Verhältnisse, tatsächlich egalitär konstituiert. Die gängige Bademode lässt nur binäre Entscheidungen zu und diese bilden keine Klassendistinktionen ab: Badeanzug oder Bikini, Slip oder Short, uni oder geblümt, neu oder vintage. Über die tatsächlichen sozialen Verhältnisse erzählen indes die somatischen Konditionen, der Gang, die Haltung und der Grad der Tattooisierung. Der Grad der Nacktheit, der heute als etabliert gilt, hat einen seltenen, aber tödlichen Begleiter: das Melanom.

Ein Antagonist der Direttissima zwischen Strandliege und Meer (der vorherrschenden Bewegung an einem Strand) ist der Strandspaziergang. Er kann zwei Ziele haben, beide dienen dem Stoffwechsel. Der nächstgelegenen Duschpavillion erlaubt es, sanitären Bedürfnissen auf mitteleuropäischem Niveau nachzugeben, sich allenfalls umzuziehen, oder in der Fußrinne Hände, Füße und versalzte Badekleidung süss zu waschen. Die anderen Destinationen sind Strandbar oder Strandcafé. Ihre Namen bezeichnen ihre Funktion. Die erste bedient alkoholische, die zweite nichtalkoholische Bedürfnisse.

Der ideale Strand ist breit und lockt zu Horizontalerkundung. Der Strandspaziergang gilt als moderne Zerstreuung verweist aber auf eine alte Funktion flacher Küstenabschnitte: Hier wird und wurde Material angelandet, das sogenannte Strandgut. Besonders nach Stürmen trugen Wind und Wellen die Übereste gekenterter oder gesunkener Schiffe an Land. Eine gutgehütete Technik vornehmlich englischer Strandgemeinden bestand darin, mit Lampen die Leuchtfeuer weit entfernter Leuchttürme oder die Schiffsbeleuchtungen nicht vorhandener Schiffe zu imitieren und behufs dieser Methodik Schifffe gezielt stranden oder an Riffen zerschellen zu lassen. Der Strandspaziergang mitsamt der Üblichkeit, dabei seltsam geformtes Holz, schöngemusterte Steine und allerlei Muschelzeug aufzulesen ist ein Echo auf eine alte Kulturtechnik strandnaher Küstenbewohner.

Störungen am Strand sind üblich und durchaus willkommen und werden von einer Vielzahl von Vaganten vorgenommen. In der Reihenfolge ihrer Beliebtheit sind das ein Verkäufer wassergekühlter Kokosspießchen, der vielgerühmte Cocobellomann mit seinem Cocobellorap, sodann der tunesische Handtuchverkäufer (”Kofen, kofen, Hantuch, Hantuch”), der zentralasiatische Masseur, der ägyptische Schundliteraturdealer, der subsahranische Kettenhändler und der traurigste in dieser Reihe, der rumänische Kochlöffelverkäufer. Wenn die Carabinieri ihren Rundgang machen, sind sie alle weg.

Die hier beschriebene Prospektierungen eines Strandes teilen nicht alle. In der Sehnsucht nach dem idealen Strand, dem einsamen, dem perfekten, dem naturbelassenen, unverfälschten, haben Aussteiger und Suchende diesen und alle anderen Kontinente bereist. Wurden sie fündig, mussten sie ihre Erlebnisse der Absolutheit strändischen Erlebens dem Dämon der Verschwiegenheit opfern. Jeder Verrat galt als Ende des Geheimtipps. Nicht wenige fanden den Strand fürs Leben. Und blieben dort. Für immer.

Der ideale Strand, das bleibe nicht unverhehlt, ist jener, der Sehnsüchte nicht verbraucht. Der Strand, will er dem Ideal dienen, kann und muss wieder verlassen werden, um diesen Sehnsüchten Raum zu geben. Und sei es jene Sehnsucht, die ganz anderen Orten gilt. Der Strand kann uns dort hinführen.

Manche sagen: Nur der Strand kann das.

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Theorie des Strandes: Warum machen wir Urlaub am Meer? ESSAY ANDREA MARIA DUSL 23. Juli 2016.

Andrea Maria Dusl ist Wiener Autorin, Regisseurin und Zeichnerin. Zuletzt erschien von ihr „So geht Wien“ (Metro-Verlag, 2016).
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Loritot

Der geniale Portraitist der deutschen Seele, der Satiriker, Zeichner, Filmemacher und Autor Vicco von Bülow starb am 22. August 2011 in Ammerland am Starnberger See. Langzeitverehrerin Andrea Maria Dusl hält ihn für einen der Grössten.

Für Falter 35/2011.

Nicht jedes Land hat einen von der Grösse Loriots, Frankreich hatte Tati, Italien Fellini, Amerika hatte, bis sie ihm die Filme nicht mehr finanzierten, Woody Allen. Und wenn man ihn liess, hatte Österreich Qualtinger. Einen Satiriker von Weltformat. Einen minutiösen Portraitisten des Alltäglichen. Einen akribischen Archivar des Durchschnitts. Einen Chronisten der Wirklichkeit.

Als ich ein Kind war, gab es Spassmacher und es gab Loriot. Die Spassmacher und Showkasper waren brave Fernsehzirkus-Pferde, die wussten, wie man Sketches baut, Pointen setzt und Lacher holt, sie hatten satirisches Talent, sie waren fleissig und sie waren erfolgreich, aber sie waren nicht lustig. Kinder sind unbestechlich und noch unbestechlicher war ich. Die Spassmacher und Showkasper, ihre Namen sind Legion, fand ich zum Abwinken fad, sie langten nicht nach meinem Herz, sie langten nach meinem Lacher. Und den gab ich ihnen nicht. Ich fand ihn nicht in mir. Er war nicht da. Ich hatte Mitleid mit den kuriosen Gestalten, die zu Klimpermusik und Lachbändern, mit verdrehten Augen und Clowngefaxe durchsichtige Kalauer auf die Rampe legten. Ich hatte kein Wording für die Auslöser meiner Tristesse, nein doch, ich erinnere mich an das Wort: Umschalten. Umschalten war das Aus für den Komiker im Kasten. Bei mir hatten sie keine Chance. Also: Es gab die Spassmacher, sie waren nicht lustig und es gab Loriot.

Loriot war nicht lustig, denn er war loriot. Loriot war eine eigene Kategorie. Loriot war die Heilung und der Segen, seine satirische Präzision kam aus einem anderen Universum. Loriot hat meine Komikasthenie nicht kuriert, er hat sie durch eine wesentlich bessere Krankheit ausgelöscht, den Loriotismus. In loriotistischen Attacken, ausgelöst durch Bilderwitze, Kurztrickfilme, Fernsehsketches und die späten Filme eruptierte das Lachen aus mir, wie aus dem plinischen Vesuv. Rann als Tränenniagara aus meinen Augen und füllte mich mit Meeren von Glück.

Gewiss war auch Loriot vom Loriotismus befallen, denn um Sketches und Geschichten der von ihm befahrenen Tiefe zu schreiben, zu spielen und zu inszenieren musste er einen, durch Loriotismus geschärften Wahrnehmungsapparat pflegen. Loriot sah den Menschen in die Seele, fand darin das Ungehörtsein und stellte es dar. Mit atemberaubender Genauigkeit. Mit einer Menschenliebe, die sich nur die ganz Grossen erlauben. Mit einer, die Wahrheit übertreffenen Wahrhaftigkeit.

Diese Zeilen kommen ganz ohne Exempel der Loriotschen Kunst aus, denn die Loriotsche Kunst ist allgemein bekannt. Sie ist Allgemeingut. Selbst in Schnitzelland und bei Tells Erben. Wie die Grimmsche Märchenkunst, wie das Alphabet. Verschwände Nachkriegs-Deutschland aus sämtlicher Erinnerung, es liesse sich rekonstruieren, allein aus dem Loriotschen Material. In jeder nur denkbaren Nuance, in jeder Textur, ja in jeder möglichen Denkbarkeit.

Loriots Ruhm war auch unter Kollegen unerreicht. Tauchte der elegante Aristokrat mit dem bürgerlichen Habitus, selten aber doch, bei Hochämtern seiner Zunft auf, meistens als Geehrter, gab es Standing Ovations, Tränen, Frühgeburten, Herzstillstände. Nicht unter normalem Publikum. Unter Comedians und Kabarettisten. Loriot, das muss ihm einer nachmachen, hatte keine Neider. Loriot hatte ausschliesslich Bewunderer. Denn Loriot war unerreicht. Neue Folgen seiner Kunst wird er nun an paradiesischen Orten zur Ausstrahlung bringen.

Die Landesmutter

Andrea Maria Dusl für Standard, 3.5.2011.

Die Heilige Hemma von Gurk, die Heilige Waltraut Klasnic von Steiermark, die Heilige Gabi von Salzburgstaller. Landesmütter allesamt. Sobald eine Frau bei uns in den obersten Landessessel klettert, wird sie zur Heiligen, zur Mutter aller Mütter, zur Mutter des Landes, zur Landesmutter. Das Klettern einer Frau in den Polsterdrehsessel eines Mannes, eines Hauptmannes, eines Landeshauptmannes ist ein dermassen seltenes Ereignis, dass dafür Begrifflichkeiten bemüht werden, die aus dem Mystisch-Sakralen kommen. Viele werden Mütter, wenige werden Landesmütter. Das hat weniger mit Mutterschaft als mit Macht zu tun. Lady Di, eine anorektische Kindergärtnerin war so hübsch wie machtlos. Sie blieb eine Lady und wurde maximal zur Mutter der Herzen. Mutter des Landes wurde Diana Spencer nie.

Aber Macht ist noch nicht Mutter. Nicht in den Nebelschwaden des Mystischen. Nie würde die Chefin der, sagen wir einmal, Nationalbank, als Nationalbankmutter apostrophiert werden, oder die Elektrokonzernchefin als Elektrokonzernmutter. Nie. Die Mutterschaft als heiligmässiger Machttitel bleibt der Hauptfrau vorbehalten. Der Landeshauptfrau. Der Frau Landeshauptfrau. Der Frau Landeshauptmann, wie es auch schon hiess. Die Landessprache wird bei landeshoheitlichen Amtsbezeichnungen, auch wenn das Gegenteil behauptet wird, mit grosser, aber individueller Präzision eingesetzt. Waltraut Klasnic legte enormen Wert darauf, mit “Frau Landeshauptmann” angesprochen zu werden. Gabi Burgstaller, eine Gabi und keine Gabriele, noch im Amt und nicht abgesägt, verfolgt ein anderes Selbstverständnis ihrer Melange aus Frau und Regierungschefin. Sie nennt sich in ihrer Funktion Landeshauptfrau. Frau Landeshauptfrau. Man wird sehen, ob einer der männlichen Nachfolger es Waltraut Klasnic einmal gleichtun und sich, das Präjudiz gäbe es, Herr Landeshauptfrau nennen wird. Dem scheinbaren Souverän, dem Volk, dem Landesvolk sind diese Überlegungen gewiss so unheimlich wie rätselhaft. Schon eine Frau auf einem Landeshauptmannsessel, selbst wenn dieser gerade als Landeshauptfrausessel in Erscheinung tritt, verwirrt die Landeseinzelne, verwirrt den Landeseinzelnen.

Worin besteht das Mysterium der Landesmutter? Die Landesmutter sitzt wie eine Termitenkönigin im weitverzweigten Landesbau und legt in grosser Fleissigkeit Landeier. Projekte und Projekterln. Fleissig nährt die Landesmutter Projekte und Projekterln mit Subventionsnektar aus ihrem mächtigen und prallgefüllten Landesmutterleib. Bestellt Wächter und Boten, Ausrufer und Verkünder, Aktenblätterer und Bestempler, Projektstreichler und Nektarumrührer. Dazwischen tätschelt die Landesmutter die Köpfe der Landeskindergartenkinder, durchsticht Landestunnels, sichert die Ränder eingestürzter Pingen, beschreitet Landesstrassen, klatscht auf Landesbühnen, staunt in Landesmuseen und lässt das Wasser ein in grossen und sauberen Landesschwimmbädern. Und manchmal legt die Landesmutter die Stirne in Falten und richtet den Gesinnungsgenossen in der Bundeshauptstadt ihre Position zu diesem und jenem mit. Mit kritischem Gestus und ernstem Ton. Manchmal und bisweilen. Je nachdem. Den Damen und Herren im Bund. Wo es keine Mutter gibt. Keine Bundesmutter. Nur Maria Theresia selig.


Andrea Maria Dusl ist Filmemacherin und Autorin. Zuletzt erschien im Residenz Verlag ihr Roman “Channel 8”.

For Music ist dead

Dietmar Lausegger, 1950-2011
Nachruf von Andrea Maria Dusl
21.2.2011, erschienen im Falter

Es roch süßlich hier, nach den Lötstellen in den Verstärkerheads und nach dem Zucker in den heissen Kaffees. Lautlos schwebte man über Wiens grössten Spannteppich, an Verstärkern vorbei und Keyboards, elektrischen Gitarren und der Wall of Fame, vollgehängt mit den autographierten Fotos der großen Rockstars dieses Planeten. Es war für Österreichs Musiker das Geschäft der Geschäfte, das Innere, der Tempel. Alles hier drinnen war für Musik und so hiess der Laden auch: For Music.

Im For Music gab es keine Uhren, und wenn, habe ich nie eine gesehen, denn hier rann die Zeit in andren Bahnen. Der Boss hier trug sommers wie winters ein Hawaiihemd und hiess der Herr Ingeniör. Generationen von Musikern haben sich an den teichgrossen Scheiben seines Geschäfts die Nasen plattgedrückt, haben ihre Sehnsüchte an Strats und Paulas, Marshallhäfen und Hiwattkochern,  Moogs und Hammondorgeln, Martingitarren und Ludwigzeugln genährt und irgendwann einmal tatsächlich in Händen gehalten und noch irgendwanner dann mit dem Taxi nach Hause führen können. Oder mit der Strassenbahn, je nach Sparschwein.

Der Ingeniör hiess Dietmar Lausegger, er war Legende und er verkehrte mit Legenden. Er war ein leutseliger Mensch, pflegte den Spruch und hatte ein Herz für die kleinsten Sorgen. Bei grösseren schlug die Pumpe schneller und es konnte schon mal vorkommen, dass er nächtens mit dem Lötkolben ausrückte, wie ein Notarzt, um einen eingegangenen Verstärker auf einer Bühne irgendwo im Bauch von Wien wieder zum Glühen zu bringen. For Music. Für Musik begeisterte sich der gelernte Starkstromingenieur aus  Oberösterreich, hatte selbst Saxophon und Gitarre gespielt, war mit Hansi Lang in einer Band gewesen. Tausend Erzählungen gibt es zum For Music und täglich wurden es mehr. Eine handelt davon, wie es begann, wie der Rock erfunden wurde in Österreich, als Lausegger die ersten “echten” Musikinstrumente, die ersten brauchbaren Verstärker aus London herangekarrt hatte und direkt aus dem Bus heraus verkaufte. Klar, dass die Leute aus London, dort wo die “neuen Spielsachen” her waren, auf Lausegger zählen durften, wenn sie in Wien auftraten. Jimi Hendrix hat der Mann aus dem For Music “die Anlage gemacht.” Und hunderten anderen, weltberühmten wie neu gekommenen.

Alle waren sie da, es ist niemand bekannt, der nicht irgendwann einmal die Glastüre ums Eck von der Alserstrasse aufdrückte, in Sachen Musik. Im Keller unter dem Geschäft probten Teile der Mothers of Invention, an der Kaffeemaschine standen Ambros, Fendrich und Danzer, Eric Clapton verkehrte hier, Santana fragte hier nach Gitarren, Donovan war ein guter Freund des Hauses und Lou Reed ein Haberer und erst vor einem knappen Monat war Billy Gibbons von ZZ-Top hier und kaufte einen Verzerrer. Es gab Zeiten, da zählte das For Music zu den drei wichtigsten Musikgeschäften des Kontinents. Für die Musiker aus Wien war es das ohnedies, hier wurden sie mit dem Rock’n’Roll angesteckt. In meinem bescheidenen Fall war das ein schlichter Hinweis auf ein Konzert der lokalen Helden meiner knospenden Gitarristenjugend, der Schoitl AG, Helmut Bibls harte Burschen, sie trugen bodenlange Mäntel und Jimmy-Hammerl. Im For Music habe ich Plektren gekauft und Saiten und meinen ersten Verstärker. Hier habe ich zum ersten mal mit der Hand zärtlich über den Hals einer echten Les Paul gestrichen und als mein Selbstvertrauen und meine Licks es zuliessen, eine Doppelhalsgibson geschultert, um Stairway to Heaven anzustimmen. Sowas wird nie wieder sein. In der Nacht des 10ten Februar hat das Herz von Ing. Dietmar Lausegger aus Steyrling zu schlagen aufgehört.

iPad, youPad, we allPad for iPad

Wer das iPad hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

Andrea Maria Dusl hat sich die iPad-Parodien auf Youtube angesehen und weiß jetzt, wie der Schmäh rennt. Für Standard-RONDO vom 12. Februar 2010. Das Cover des Rondo (siehe Bild unten) hat sie auch gleich gemacht.

ST-iPad-Cover.jpgMonatelang hatte die Gerüchteküche gebrodelt. Computer-Sterndeuter und Gadget-Propheten hatten auf ihren Blogs mit Namen und Aussehen des neuen Geräts gedealt. Nicht irgendeines neuen Geräts. Eines neuen Apple-Geräts. Nach iMac, iPod und iPhone schlug bald die Stunde des neuen iJawasdennjetzt. Die einen wussten, es würde iSlate heißen, die anderen tippten auf iTablet. Photogeshoppte Schnappschüsse und 3-D-Entwürfe des geheimen Projekts zirkulierten durch die Geekforen. Einmal sah das Ding aus der nächsten Welt aus wie der abgeschraubte Bildschirm eines Notebooks, dann wieder wie ein aufgeblasenes iPhone. Analysten hörten das Gras wachsen und gaben im Tagestakt neue Visionen über Cupertinos kommenden Geniestreich bekannt.

Die Einzigen, die schwiegen, waren die Jungs und Mädchen im Infinite Loop, dem Silicon-Valley-Hauptquartier von Apple. Als der Hohepriester des Appleismus am 27. Jänner um 10 Uhr pazifischer Zeit die Bühne des Yerba Buena Center for the Arts in San Francisco betrat, durfte er sicher sein, einen größeren Krater in die Medienwelt zu schlagen. Steve Jobs, Computerguru, nach einer Lebertransplantation zu einer hageren Gestalt mit hohlen Wangen mutiert, überraschte die Welt mit genau dem, was sie sich vom Gadget-Imperium Apple erwartet hatte. Die eierlegende Wollmilchsau, das Gerät, das alles kann und das jeder braucht. Na ja, fast. Mit der Präsentation des iPad öffnete Apple nicht nur neue Tore für die Consumer-Elektronik, der Computerkonzern setzte auch eine ganz andere Maschinerie in Gang. Die große, weite Welt der Apple-Parodie bekam neues Futter. Und was für welches! Ein Gerät mit dem Aussehen, nun ja, eines Elektrobilderrahmens aus der Ramschecke, mit einem Namen aus dem Herrenwitze-Himmel. Heißt der neue Geniestreich Steve Jobs‘ doch, ähem, Slipeinlage. Monatsbinde.

Der erste iPad-Witz-Clip, der auf Youtube durch die Decke ging, musste gar nicht einmal neu produziert werden. Er war schon 2005 gedreht worden. Von der Parodistentruppe MADtv. Alfred E. Neumanns Kollegen vom Fernsehsketch hatten in prophetischer Voraussicht ein präsumtives Hygieneprodukt aus dem Hause Apple durch den Kakao gezogen. Auf –> www.youtube.com/watch?v=lsjU0K8QPhs vertiefen sich zwei affektierte amerikanische Bürotussis in der Parodie eines Werbespots in explizitem Talk über Strategien und Produkte zur persönlichen Monatshygiene. Die Dialoge schürfen ihr Comedy-Gold aus der Zweitbedeutung des Wortes Pad, das im Amerikanischen so viel wie Slipeinlage bedeutet. Im Finale des Clips tanzen überfröhliche Hippiemädchen in einer Parodie der legendären Apple-iPod-Spots: schwarze Silhouetten vor buntem Hintergrund – das weiße Kultgerät zwischen den Beinen.

In einem CNN-Bericht –> http://www.youtube.com/watch?v=Ox6dzkXZOLw stellen sich zwei der Original-Akteure, Schauspielerin Arden Myrin und Gagschreiber Bruce McCoy, die durchaus berechtigte Frage, ob bei Apple womöglich keine Frauen arbeiten. Und selbst wenn dem so wäre, wie könnte man so lange an einem Produkt und seinem Marketing forschen, ohne auf die Doppelbedeutung des Wortes Pad zu stoßen?

Ebenfalls aus den Tiefen der Hygienefaktor-Archive kommt der National-Lampoon-Sketch „TamPod“ –> http://www.youtube.com/watch?v=ykwaV1vSECI.Zwei Freundinnen stehen am Rand einer College-Sportbahn und stretchen ihre trainierten Körper. Im Stil einer Tampon-Werbung diskutieren sie die Absorptionsqualitäten des neuen TamPods. So angenehm, so saugfähig, so zuverlässig! Haben sich die bei Apple das nicht angeschaut? Oder etwa doch? Wie auch immer, Apple schulde ihnen was für die Inspiration zum iPad, meinen die Macher des National-Lampoon-Sketches trocken.

Eine Metaebene höher geht ein anderer Clip ans Werk –> http://www.collegehumor.com/video:1928558. Im Stil der Apple-Werbetestimonials sprechen Mac-affine Geeks vor blütenweißem Hintergrund Klartext. Als Apple- Parodie-Autoren seien sie begeistert, bekennen die Nerds, man brauche keine Witze über das iPad schreiben, das iPad mache die Witze ganz von selbst. Amir Blumenfeld, dicke Brillen, legeres Hemd, Senior Vice President der Firma Size Jokes ist begeistert über das Riesen-iPhone. Sam Reich, T-Shirt, Vollbart, Brille wird als Senior Vice President der Firma Wordplay vorgestellt und referiert über die Qualitäten des iPads als Star von Monatshygienewitzen. Sarah Schneider, Typus Publizistikstudentin, ist Senior Vice President von Kindle Jokes, einem erfundenen Unternehmen, das Witze über Amazons E-Book-Reader unter die Leute bringt: Neue Zeiten brechen an! Wir betreten Comedyneuland, jubelt ein Pullovernerd mit Vollbart, ebenfalls Vizepräsident, zuständig für Gags über Unbrauchbarkeit. Auf den Punkt bringt es schließlich Dan Gurewitch, Präsident von Meta Jokes, im wirklichen Leben Stand-up-Comedian: Es ist, als hätte das iPad einen großen „Kick me“-Zettel am Rücken kleben. Die Parodisten von „College Humor“ haben nicht unrecht: „Dieses Produkt wird die Art verändern, wie wir Späße über Apple machen.“

Neben professionellen Witzemachern tummeln sich auch Privatkomödianten auf Youtube und ähnlichen Web-Portalen. Max von TruckTVGermany zum Beispiel, ein Halbtrottel mit aufgemaltem Schnurrbart, er kalauert vor der Fahrerkabine eines Renault-Trucks und erklärt am Objekt, wie man aus einem alten Laptop ein iPad macht. Brachialhumor für die Jungs aus dem Dorf. –> http://www.youtube.com/watch?v=svK-wJDcPIc Ähnlich derb ist der Witz von „Rambo“. Auf –> http://www.youtube.com/watch?v=4yFlq17pVm4 sieht man den verwackelten Packshot einer Slipeinlage mit Apple-Logo. Der Off-Text orientiert sich am trockenen Stil der Gadget-Blogger-Reviews. Er ist beileibe nicht der Einzige. Das Genre der iPad-Verarschungen wächst nahezu stündlich um neue Clips aus den Kinderzimmern dieser Welt.

Wirklich lustig sind hingegen die Bearbeitungen zweier legendärer Filmszenen. In der Neusynchronisation von Gus Van Sants berühmter Barszene aus Good Will Hunting –> http://www.youtube.com/watch?v=x0rgjV9Y6jA gibt Matt Damon einen stotternden Depp, dem ein aufgeblasener Apple-Computernerd reindrückt, was ein iPad ist.
Mit der unfreiwilligen Komik, die die deutsche Sprache für amerikanische Ohren hat, spielt eine köstlich untertitelte Sequenz aus Oliver Hirschbiegels „Der Untergang“ –> http://www.youtube.com/watch?v=9_EcybyLJS8. Hitler tobt. Das neue Apple-Tablet ist da. Der Führer wütet. Es hat keine Kamera, es läuft nicht unter OSX, es ist nicht multitaskfähig, und telefonieren kann man damit auch nicht.

(Andrea Maria Dusl, DER STANDARD/Rondo)

In drei Minuten bist du tot

Mobilitätskolumne von Andrea Maria Dusl. Für Falter 51/2009.

Der Regen prasselt in kleinen kalten Tropfen auf die Scheibe. Der schwarze Novemberhimmel hat über dem Wienerwald seine Schleusen geöffnet. Die Westautobahn ist nass und sie ist ein Luder. Zu eng, zu monoton, zu viel Verkehr.

Aus dem Radio meiner jadegrünen Limousine schwurbelt Radio Stephansdom. Klong macht es plötzlich, dann klingkling und noch einmal klong. Und dann, drei Takte Brahms später, zieht der Riese Schicksal den Wagen nach links. Wiebitte? Wieso? Ich steuere dagegen, die Fahrbahn unter mir beginnt zu rumpeln, zu rattern, wird zur Schotterpiste. Der Wagen schlingert wie ein Boot. Ein Engel in mir, eine coole Sau von Andrea steuert die rumpelnde Yacht nach rechts, auf den Pannenstreifen, mit zwei Rädern ins Gras, bringt zwei Tonnen plus zum Stehen.

Mein Herz pocht. Radio Stephansdom schmettert. Aus dem Rückspiegel stechen Fernlichter. Die Scheibenwischer schieben rote Lichter zusammen, die links von mir in die nasse Nacht rasen. Wäre jetzt jemand mit mir im Wagen würde das Wort fallen. Reifenplatzer. Und das Wort Schutzengel. Aber es ist niemand da. Niemand greift zum Handy und tippt. Wo ist meine Tasche? Die coole Sau in mir schaltet die Warnblinkanlage ein. Die Idiotin in mir stochert sich zitternd durch Visitenkarten, BIPA-Vorteilscards, Lufthansa-not-yery-important-people-Karten, Plastikgeld und Mitgliedsausweise. Wo ist die verdammte ÖAMTC-Karte, schreie ich. In drei Minuten bist Du tot, schreie ich zurück. Ein Volltrottel wird zu spät auf die Bremse steigen, deinen schönen grünen Jaguar am linken Kofferraumspitzl touchieren und das reverse Peitschenknallsyndrom wird dir den Kopf vom Hals schmeissen. 120 steht auf der gelben Karte. Wo ist mein Handy? Wieso ist es so verdammt laut? Bruckner mal Freitagabend. Wir kommen, sagt die Stimme am Headset, irgendwo in einem warmen, cosy beleuchteten Büro, keine Sorge, keine Angst. Wo ist die Warnweste? Warnweste an, rüber zur Beifahrertür. Beifahrertür auf, der Regen schneidet mir ins Genick. Wo ist das Pannendreieck? Kofferraum schreit die Panikerin. Cool, sagt die Stoikerin, geht nicht auf ohne Schlüssel. Was noch? Stablampe. Brennt? Brennt. Raus in den Regen. In zwei Minuten bist Du tot, schreie ich.

Liebe Pannendreieckhersteller! Bitte schenken Sie der Welt Pannendreiecke, die man ohne Montageanleitung zuammenbauen kann. Mit einer Hand. Auch im Dunklen. Gleich bist Du tot, schreie ich in die Nacht, der Idiot wird jetzt kommen, mit seinem Porsche, seinem tiefergelegten Golf und Dich, mitsamt deiner Warnweste, jetzt und endgültig in den Scheissjaguar schieben. Und die Unfall-Statistik auf der A1 wird sich um genau eins erhöhen.

Im nassen Gras schreite ich hundert Meter Richtung Wien. Stelle das Pannendreieck auf. Fahl leuchten die Warnblinker meines Wagens. Eine halbe Stunde wird die Batterie halten. Zurückgehen, Zündung einschalten? Und wenn der Idiot just dann vorbeikommt? Rumms wird es machen. Schrrtfffffffplonk macht es. Der Sattelschlepper hat mein Pannendreieck umgeblasen. Ich baue das Ding wieder zusammen.

Die Hölle, werde ich nach eineinhalb Stunden resümieren, ist kalt und nass. Kurz hinter Neulengbach liegt sie. Es wird viel geschrien in ihr, gezittert und geflucht, und hin und wieder muss gearbeitet werden. Es gilt, ein billiges Plastikdreieck zusammenzubauen und in Fahrtrichtung neben einem fahlen Streifen aufzustellen. Immer wieder. An einem fahlen Streifen, irgendwo in der Nacht. Der Grenze zwischen Leben und Tod.

Ach ja. Die Sache ist dann doch noch gut ausgegangen. Der Pannenengel war ein Held, hexte einen heilen Reifen an meinen Wagen, lud die tote Batterie und wärmte mein Herz mit gottgleicher Coolness. 120 ist seine Nummer.

Liebe, Kälte, Bäume, Zelte

Es war eine ganz und gar seltsame Zeit. Österreich war ins Trudeln gekommen, Werte hatten ihr Legitimation verloren und die Handelnden waren aus ihren Rollen getaumelt. Andrea Maria Dusl war in der Au. Im Dezember 1984. Vor 25 Jahren.

Für Falter 51/2009

Im Mai 1984 hatte ein durchgeknallter Haufen Prominenter unter grossem Medienaufruhr zu einer “Pressekonferenz der Tiere” gerufen. Der grantelnde Wiener ÖVP-Stadtrat Jörg Mauthe, stets von einer Schwade Zigarettenrauchs umnebelt, kam als Schwarzstorch verkleidet, der Chef der freiheitlichen Jugend und spätere Grüßaugust Hubert Gorbach, parteifarblich korrekt als Blaukehlchen. Peter Turrini, polternder Wirtsstubenintellektueller betrat das Podium als Rotbauchunke und der junge ÖVP-Abgeordnete Othmar Karas als Kormoran. Primus inter pares war der Publizist Günther Nenning, der seine politischen Verantwortung als sozialdemokratischer Kasperl in der Rolle des “roten Auhirschen” wahrnahm. Die schrille Veranstaltung hatte einen Zweck: Mit den Mitteln poetischer Gschaftlhuberei und politischer Aufmüpfigkeit den Volkszorn gegen ein geplantes Wasserkraftwerk zu erigieren.

Die Gegner waren die Koalition aus Kraftwerksbossen, Gewerkschaft und Innenministerium. Hinter allem thronte schwerfällig und schwach ein beleibter Historiker, den Sonnenkönig Kreisky zu seinem Nachfolger bestimmt hatte. Fred Sinowatz, der recht behalten sollte mit seinem legendären Satz: “Es ist alles sehr kompliziert.”

Ich selbst war damals, um mit Hermes Phettberg zu sprechen, ein kleines Studenty an der Akademie der Bildenden Künste. Neugierig, tatendurstig und alert. Und weil mich das Künstlerleben am Schillerplatz nicht ausfüllte, hatte ich mich erfolgreich an Günther Nenning herangemacht. Der FORVM-Herausgeber und Doppeldoktor war ein beliebtes Ziel für deviante Publizistikgroupies und praktischerweise mit der WG-Kommilitonin meines Freundes zusammen, gehörte also zur Familie. Und eines Tages schepperte das Telefon, Handies gab es ja noch nicht und Günther Nennings  franzeskojosefinische Zeitlupenstimme schnarrte aus dem Hörer. Ob ich Lust hätte, mitzukommen, es sei noch ein Platz frei im Taxi. Es ginge nach Hainburg, solidarisch zu sein mit den Besetzern der Bäume. Zu Verhindern, dass die Au geräumt werde. Aber sicher, sagte ich, schnürte den Rucksack, sagte den Eltern Lebewohl und setzte die Haube auf. Hainburg hatte ich bisher nur vom Postamt gekannt, von der knallvioletten Vierschillingmarke. Dass dort eine Au war, hatte ich nicht gewusst, Wasserkraftwerke hatte ich als herzensgut wahrgenommen und Revolutionen hatte ich bis dahin immer in sozialem Kontext gesehen. Das geplante Bäumeretten hatte immerhin avantgardistisches Potenzial. Und meinen Kumpan, den Dutschkefreund Nenning hielt ich für vertrauenswürdig in revolutionären Dingen.

Mit dem Taxi in die Au. Das hatte etwas großbürgerliches, anarachistisches, man konnte die ganze Aktion auch als großes künstlerisches Happening sehen. Und eines war mir klar: Es wurde Geschichte geschrieben. Es war Krieg. Und ich war dabei!

Meine erste Impression von der Naturschützerfront: Hainburg lag gar nicht in Hainburg. Hainburg war nur das Schlagwort, die Ikone. Das umkämpfte Gebiet selbst lag jenseits der Donau, über eine riesige Hängebrücke erreichbar, in einem Ort namens Stopfenreuth. Hainburg war nicht Hainburg, Hainburg war Stopfenreuth. Im Dorfwirtshaus brodelte es, Prominente gaben Interviews am laufenden Band. Ab in den Wald. Bäume retten.

Vor dem Wald, auf dem Hubertusdamm, standen die Gendarmen. Das Gebiet sei gesperrt, der Zutritt werde verweigert, sagten die Grauröcke. Wir gingen weiter, zwischen den Gendarmen hindurch, einige liefen. Und dann packte jemand meinen Ärmel. So fühlt sich das also an, jetzt bist du verhaftet, in Staatsgewahrsam, dachte ich, als die Gendarmen vier von uns zu fassen bekamen und in ihren VW-Bus bugsierten. Während die Gendarmen versuchten, andere aufzuhalten, öffnete ich seelenruhig die Bustür und begab mich wieder in Freiheit. Jetzt bist du Flüchtende, sagte ich mir. Die Positionen wechselten rasch in diesen Tagen.

Auf Forststrassen ging es in den Wald. Die Menschen gingen in Grüppchen, ganz so wie sie überhaupt in die Au gekommen waren, mit dem Shuttledienst der ÖH, mit Privatautos oder wie wir, mit Nennings Taxi. Alle paar hundert Meter waren Baumstämme und Zweige zu mannshohen “Barrikaden” aufgetürmt. Die Barrikaden der 48er waren das nicht. Diese Barrikaden hier waren symbolisch, man konnte um sie herumspazieren. Ich erinnere mich an Transparente, die über die Äste gespannt waren, Leintücher, mit dünnen roten Buchstaben bemalt. “Donau-Au statt Kraftwerksbau” stand auf ihnen, oder “Wer Bäume fällt, tötet auch Menschen”. Je tiefer wir auf den Fortswegen in die kahle Au vordrangen, desto mehr Menschen trafen wir. Lager hatten sich gebildet, kleine Dörfer, es brummte in ihnen. Manche der Bewohner harrten hier schon aus, seit der Bescheid zur Rodung der Au ruchbar geworden war. Es gab Küchenzelte, Infostände, Campingzelte, Tipis aus Plastikplanen, Lagerfeuer, Transparentwerkstätten, Kindergruppen, Pow-Wow-Wiesen. Und zwischen Studenten und Landadeligen, Altachtundsechzigern, Naturfreunden und Obskuranten taumelten Prominente durch den Wald. André Heller, die Denkerstirn aufgesetzt, Erika Pluhar das Haar walkürenhaft geöffnet, Friedensreich Hundertwasser mit Hofstaat und Zwölfmannzelt. Und dazwischen wieselte Freda Meissner-Blau herum, jederzeit an ihrer leuchtendgrauen Brillofrisur erkennbar.

Nach den ersten Ausflügen mit dem Taxi hatten auch wir uns Zelte besorgt, das heisst, Nenning hatte ein Zelt gekauft, im Hochalpinistengeschäft und darin sollten wir alle lagern. Ich gestehe, das war mir zu intim, Nenning war kein Kind von Traurigkeit, er nahm Herztabletten und hatte den Zenit seiner Schaffenskraft überschritten, aber er war brünftig wie ein junger Eber. Meine erste Nacht verbrachte ich nicht an seiner Seite, sondern in Lager Zwei, im Dezembernebel, an einem der Lagerfeuer im Stroh liegend. Der Unbekannte neben mir sprach auffallend wenig, er hörte gerne zu, er war aufmerksam, neu hier, wie er sagte, wollte wissen, wie das alles hier funktionierte, wer wer sei, und was passiere. Ob er mir seinen Unterschenkel als Polster rüberstrecken könne, fragte ich den Mann – er trug blaue Moonboots. Gewiss. Meine erste Winternacht habe ich auf den luftgepolsterten Winterstiefeln eines Staatspolizisten verbracht. Es sollte nicht das einzige intime Erlebnis mit der Staatsmacht bleiben.

War es in der selben oder der darauffolgenden Nacht, geheimnisvolles Funkgeräterhabarber lockte mich an. Es war stockdunkel, meine Augen waren verklebt vom Rauch der Lagerfeuer. Jederzeit sei mit dem Eintreffen von Gottfried Küssel zu rechnen, so ging das Gerücht aus dem Walkie-Talkie, der Neonazi habe die Stiefel angezogen, um mit seinen Recken die Linken im Wald ordentlich zu vermöbeln.

Sehr klug, sagte ich zum Mann mit dem Funkgerät, den Funk der Bullen abzuhören, blendende Idee. Ich bekam keine Antwort. Wortlos standen wir neben einem Barackenwagen, den die Kraftwerkserrichter auf einer Lichtung geparkt hatten. War es seine Idee oder meine? Jedenfalls brachen wir gemeinsam den Bauwagen auf, der Funkgerätemann und ich, machten es uns im fahrbaren Büro gemütlich und entfachten Feuer im kleinen Kanonenofen.

Eine seltsame Nacht. Nenning zeugte in seinem Hochleistungsbiwak gerade ein Kind, Friedensreich Hundertwasser feierte Party mit Green-Groupies, Schamanen trommelten sich in Extase und im Plastiktipi tanzten nackte Punks zu den sedierenden Schwaden eines “Megageräts”. Und ich, ich sass auf einem Stuhl in einem Bauwagon und starrte mit einem Staatspolizisten ins Zweigefeuer. “Glaubst, war des Illegal, den Wagon aufbrechen”, fragte ich den Unbekannten an meiner Seite. “Bevur dass i dafrier, bin i lieber Illegal”, sagte der Mann.

Der weisse Rabe ist nicht mehr

Andrea Maria Dusl über Paul Flora. Nachruf. Für Falter 21/2009.

 

FA-21.2009-Flora-und-Rabe.jpg
Hungerburg, das gelbe Haus. Jeder Innsbrucker wusste, wer dort wohnte. In einer kleinen, zartgelb gefärbten Villa auf der Schulter der Stadt. Hinter Bäumen versteckt, gleich neben dem Gasthaus Linde. Einen Zwetschkenkernwurf von der Seilbahn aufs Hafelekar entfernt. Ein eleganter Herr mit schlohweißem Haar, einem pfiffigen Blitzen in den Augen und jenem vom Lachen aufgefalteten Gesichtsgebirge, das nur Südtirolern in die Wiege gelegt wird. Hungerburg, eine ewige Adresse. Der Mann mit der ewigen Adresse ist nicht mehr. Paul Flora ist in der Nacht auf Freitag den 15. Juni in einer Innsbrucker Klinik im Kreis seiner Familie gestorben. Vierzehn Tage vor seinem 87. Geburtstag.

Als 15jähriger hatte der Vinschgauer Flora jenes Schlüsselerlebnis gehabt, das ihm den Weg zum Künstler eröffnete: Er sah erstmals Zeichnungen von Alfred Kubin und wußte, er wollte Zeichner werden. Er zeichne, räsonierte Paul Flora in einem Katalogtext, um sich selbst zu unterhalten. Er sei also ein gewöhnlicher Egoist, dem es nicht um die Rettung des Abendlandes ginge. Lehren würden von Propagandisten verkündet und wer Botschaften habe, solle ein Telegramm schicken, zitierte er Billy Wilder. Matisse habe sich dazu bekannt, Bilder zu malen, die wie bequeme Sessel wirken, Schwitters wiederum angemerkt, er sei Künstler, und wenn er ausspucke, so sei dies Kunst. „Ich bin für Matisse“, deklariert sich Paul Flora.

Mit der Rigorosität, die jede existentielle Lust begleitet, sass Paul Flora täglich vor Mittag an seinem Tisch in der Floraburg und zeichnete. Setzte behutsam und doch kraftvoll Federstrich um Federstrich aufs Papier. Schuf aus feinen Schraffuren, düster und melancholisch, zarte Wolken, in denen Harlekine turnten und Maskierte, kratze nervöse Strichgewitter aus dem Blatt, die sich zu Bergen, Palästen, und weiten Plätzen schoben, die von dicken Damen bevölkert waren, von hageren Bischöfen und knorrigen Tirolern. Und immer wieder zeichnete Flora Raben. Raben, Raben, Raben.

Privat unbestechlicher und unbeugsamer Homo politicus, hatte der Künstler Flora ein befreiendes Vergnügen daran, über sich und andere zu lächeln, ohne jemandem weh zu tun. Mit milder Melancholie traf er, der sich stets als Unzeitgemäßen betrachtet hatte, den Nagel der Zeit geradezu zärtlich auf den Kopf. Flora sei nicht ohne Traurigkeit, wusste Friedrich Dürrenmatt über den Zeichner von Weltruf: „In seinem Werk sind Welten untergegangen, und wir ahnen, dass auch wir untergehen.“

Meine Zeichnung von Paul Flora ist Produkt eines Kommunikationsunfalls mit Falter-Chefredakteur-Stellvertreter Klaus Nüchtern und nicht erschienen.

Mehr über Paul Flora und meine Besuche bei ihm:
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Paul Flora ::: Der weiße Rabe

Der Paternoster

Andrea Maria Dusl ist im Palast der Industriellenvereinigung mit einem der letzten, sicher aber mit dem ältesten Personenumlaufaufzug des Landes gefahren. Für Falter 15/2009

“Guten Tag” sage ich, “ich komme von der Universität, ich bin Aufzugforscherin.” Die beiden Portiere, die in der Empfangsmuschel im Foyer des Hauses der Industrie am Wiener Schwarzenbergplatz sitzen, sind freundlich und nehmen meine kleine Lüge mit Gelassenheit. “Ich möchte mit dem Paternoster fahren”, sage ich. “Ausnahmsweise”, sagt der Portier. “Umso besser” sage ich. “Er ist da hinten”, sagt die Portierin.

Über ein paar Stufen geht es ins Hochparterre hinauf. Das Haus der Industrie ist der monumentale Palast der Industriellenvereinigung, 1906 bis 1909 vom Ringstrassenarchitekt Karl König errichtet. Im Stil der klassischen römischen Paläste des 17. Jahrhunderts. In Wien firmiert das unter Späthistorismus. Japaner stehen davor und staunen und vermuten einen pittoresken Fürsten hinter den Quadermauern. Aber hier gehen nur die Fabrikanten ein und aus, die Homepagefinanzierer, die Unternehmer. Feines Tuch, genagelte Schuhe, strenger Blick.

Das Konzept eines Aufzuges passt nicht so recht zur italienischen Feudalarchitektur. Als er eingebaut wurde, 1911, vom k.u.k. Hoflieferanten Anton Freissler war das elevatorische Zeitalter längst angebrochen. Aber anders als in den Hochhäusern in Chicago und New York spielt der Lift hier nicht die Rolle der zentralen Sehenswürdigkeit, der Lift ist hier nur verspieltes Gadget.

Es rumpelt und rasselt und knirscht. Das ist ganz normal bei Paternostern. Denn Paternoster sind ständig in Betrieb. Sie sind fleissige Arbeiter, benannt nach dem lateinischen Vaterunser, dem Repetetivgebet. Getäfelte Kabinen rumpeln an mir vorbei. Es riecht nach alten Möbeln, nach bohnergewachsten Böden, nach Schmierfett. Rechts geht es hinauf, links hinunter. Unablässig. In Gedanken steige ich ein. Einmal, zweimal. Fünfminutenlang plane ich den Einstieg. Hier hält man sich fest, sage ich mir, an diesem Griff, dann springt man hinein. Oder vielleicht soll man nicht springen, vielleicht soll man tänzeln? Mit einem Schritt, mit zwei? Ich erinnere mich an meine erste Paternosterfahrt, am Weltspartag 1973 war das, in der Creditanstalt. Oder an meine letzte, irgendwann in den 90ern, am Weg in die Penthouse-Mensa des NIG im Neuen Universtitäts-Gebäude der Uni Wien. Das gleiche Warten wie jetzt. Das Einsteigen in Gedanken. Die Phantasie des Zerquetschtwerdens zwischen den Stockwerken. Die Angst vor dem Kopfübergedrehtwerden bei der Fahrt ins Dach. Das Zögern. Das Warten auf die nächste Kabine. Und dann, jetzt ist es wieder soweit, eine Kabine kommt, ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein grosser für die Pasternosterfahrt. Ein Tritt ins Leere, von unten schiebt der Boden, mein Knie wird weich, schnell das andere Bein nachgezogen, ich kralle mich an den Messinggriff. Ich bin drinnen.

Ich fahre Paternoster. Proletenbagger, wie es hiesse, wenn das hier ein deutsches Amtsgebäude wäre.

Es rumpelt, es rasselt, es quietscht, vor mir sinken die Stockwerke in die Tiefe. Wieviele Stockwerke hat die Creditanstalt, fragte ich mich bei meiner ersten Paternosterfahrt. Würde ich im letzten Stockwerk aussteigen können? Was, wenn im letzten Stockwerk jemand zusteigen wollte? Was, wenn es einen Stau gäbe im letzten Stockwerk? Wohin fährt mich der Paternoster, fragte ich mich. Wo dreht er um? Und dann verschmelzen gestern und heute. Es rumpelt noch stärker, es wird düster, der nussige Geruch von Möbelpolitur weicht dem tranigen Miachtler von tiefschwarzem Maschinenfett. Die Aufwärtsfahrt wird zu einem knirschenden Zurseiteschleifen, eine titanenhaft grosse Fahrradkette wird sichtbar, sie läuft über ein riesiges Zahnrad, zwischen den Speichen sehe ich eine altvatrische Motorenanlage, fahl beleuchtet vom düsteren Licht des Dachbodens. Meine Kabine scheint kurz still zu stehen, schiebt über den Scheitel der Kette und jetzt geht’s hinunter. Langsam fahren die Stockwerke vor mir in den Himmel. Paternosterglück. So war das auch damals als Kind, am Weltspartag. Die Dachbodenfahrt ist die Initiation, nach der Dachbodenfahrt kann nichts schlimmes mehr kommen. Das heile Überstehen der Dachbodenfahrt ist das Purgatorium. Einsteigen, Aussteigen geht nach der Dachbodenfahrt mit der Leichtigkeit von alltäglichem Gehen. Ich bin wieder im Geschäft. Im Paternostergeschäft. Sieben mal fahre ich die gesamte Strecke. Paternosterglück.


Paternoster (Personenumlaufaufzug ) im Haus der Industrie (Industriellenvereinigung), 1031 Wien, Schwarzenbergplatz 4, im Hochparterre rechts. Hersteller: A. Freissler, Ingenieur, Maschinen- und Aufzüge-Fabrik Wien X. Antrieb: Elektroantrieb über zwei parallel laufende Endlosketten, zwischen denen die Kabinen aufgehängt sind. Maximale Anzahl von Fahrgästen: 26. Anzahl der Kabinen: 13, Baujahr: 1911 (ältester der ca. 20-25 existierenden Paternoster Österreichs), Geschwindigkeit: 0.25m/s (ca. 0,9kmh). Kindern und Gebrechlichen ist die Benützung verboten. Gepäckbeförderung verboten. Weiterfahrt durch Boden und Keller ungefährlich und nicht verboten. Bei Gefahr Haltknopf betätigen. Ein- und Aussteigen während der Fahrt möglich. Aufschrift auf der Notleuchte der Kellerpassage: Fuck Capitalism.

Andere prominente Paternoster in Wien: Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, 1010, Stubenring 12. Rathaus, Hauptgebäude, Stiege 6, 1010, Friedrich-Schmidt-Platz 1. Prominentester abgebauter Paternoster: Neues Institutsgebäudes (NIG), 1010, Universitätsstraße 7.