Der Paternoster

Andrea Maria Dusl ist im Palast der Industriellenvereinigung mit einem der letzten, sicher aber mit dem ältesten Personenumlaufaufzug des Landes gefahren. Für Falter 15/2009

“Guten Tag” sage ich, “ich komme von der Universität, ich bin Aufzugforscherin.” Die beiden Portiere, die in der Empfangsmuschel im Foyer des Hauses der Industrie am Wiener Schwarzenbergplatz sitzen, sind freundlich und nehmen meine kleine Lüge mit Gelassenheit. “Ich möchte mit dem Paternoster fahren”, sage ich. “Ausnahmsweise”, sagt der Portier. “Umso besser” sage ich. “Er ist da hinten”, sagt die Portierin.

Über ein paar Stufen geht es ins Hochparterre hinauf. Das Haus der Industrie ist der monumentale Palast der Industriellenvereinigung, 1906 bis 1909 vom Ringstrassenarchitekt Karl König errichtet. Im Stil der klassischen römischen Paläste des 17. Jahrhunderts. In Wien firmiert das unter Späthistorismus. Japaner stehen davor und staunen und vermuten einen pittoresken Fürsten hinter den Quadermauern. Aber hier gehen nur die Fabrikanten ein und aus, die Homepagefinanzierer, die Unternehmer. Feines Tuch, genagelte Schuhe, strenger Blick.

Das Konzept eines Aufzuges passt nicht so recht zur italienischen Feudalarchitektur. Als er eingebaut wurde, 1911, vom k.u.k. Hoflieferanten Anton Freissler war das elevatorische Zeitalter längst angebrochen. Aber anders als in den Hochhäusern in Chicago und New York spielt der Lift hier nicht die Rolle der zentralen Sehenswürdigkeit, der Lift ist hier nur verspieltes Gadget.

Es rumpelt und rasselt und knirscht. Das ist ganz normal bei Paternostern. Denn Paternoster sind ständig in Betrieb. Sie sind fleissige Arbeiter, benannt nach dem lateinischen Vaterunser, dem Repetetivgebet. Getäfelte Kabinen rumpeln an mir vorbei. Es riecht nach alten Möbeln, nach bohnergewachsten Böden, nach Schmierfett. Rechts geht es hinauf, links hinunter. Unablässig. In Gedanken steige ich ein. Einmal, zweimal. Fünfminutenlang plane ich den Einstieg. Hier hält man sich fest, sage ich mir, an diesem Griff, dann springt man hinein. Oder vielleicht soll man nicht springen, vielleicht soll man tänzeln? Mit einem Schritt, mit zwei? Ich erinnere mich an meine erste Paternosterfahrt, am Weltspartag 1973 war das, in der Creditanstalt. Oder an meine letzte, irgendwann in den 90ern, am Weg in die Penthouse-Mensa des NIG im Neuen Universtitäts-Gebäude der Uni Wien. Das gleiche Warten wie jetzt. Das Einsteigen in Gedanken. Die Phantasie des Zerquetschtwerdens zwischen den Stockwerken. Die Angst vor dem Kopfübergedrehtwerden bei der Fahrt ins Dach. Das Zögern. Das Warten auf die nächste Kabine. Und dann, jetzt ist es wieder soweit, eine Kabine kommt, ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein grosser für die Pasternosterfahrt. Ein Tritt ins Leere, von unten schiebt der Boden, mein Knie wird weich, schnell das andere Bein nachgezogen, ich kralle mich an den Messinggriff. Ich bin drinnen.

Ich fahre Paternoster. Proletenbagger, wie es hiesse, wenn das hier ein deutsches Amtsgebäude wäre.

Es rumpelt, es rasselt, es quietscht, vor mir sinken die Stockwerke in die Tiefe. Wieviele Stockwerke hat die Creditanstalt, fragte ich mich bei meiner ersten Paternosterfahrt. Würde ich im letzten Stockwerk aussteigen können? Was, wenn im letzten Stockwerk jemand zusteigen wollte? Was, wenn es einen Stau gäbe im letzten Stockwerk? Wohin fährt mich der Paternoster, fragte ich mich. Wo dreht er um? Und dann verschmelzen gestern und heute. Es rumpelt noch stärker, es wird düster, der nussige Geruch von Möbelpolitur weicht dem tranigen Miachtler von tiefschwarzem Maschinenfett. Die Aufwärtsfahrt wird zu einem knirschenden Zurseiteschleifen, eine titanenhaft grosse Fahrradkette wird sichtbar, sie läuft über ein riesiges Zahnrad, zwischen den Speichen sehe ich eine altvatrische Motorenanlage, fahl beleuchtet vom düsteren Licht des Dachbodens. Meine Kabine scheint kurz still zu stehen, schiebt über den Scheitel der Kette und jetzt geht’s hinunter. Langsam fahren die Stockwerke vor mir in den Himmel. Paternosterglück. So war das auch damals als Kind, am Weltspartag. Die Dachbodenfahrt ist die Initiation, nach der Dachbodenfahrt kann nichts schlimmes mehr kommen. Das heile Überstehen der Dachbodenfahrt ist das Purgatorium. Einsteigen, Aussteigen geht nach der Dachbodenfahrt mit der Leichtigkeit von alltäglichem Gehen. Ich bin wieder im Geschäft. Im Paternostergeschäft. Sieben mal fahre ich die gesamte Strecke. Paternosterglück.


Paternoster (Personenumlaufaufzug ) im Haus der Industrie (Industriellenvereinigung), 1031 Wien, Schwarzenbergplatz 4, im Hochparterre rechts. Hersteller: A. Freissler, Ingenieur, Maschinen- und Aufzüge-Fabrik Wien X. Antrieb: Elektroantrieb über zwei parallel laufende Endlosketten, zwischen denen die Kabinen aufgehängt sind. Maximale Anzahl von Fahrgästen: 26. Anzahl der Kabinen: 13, Baujahr: 1911 (ältester der ca. 20-25 existierenden Paternoster Österreichs), Geschwindigkeit: 0.25m/s (ca. 0,9kmh). Kindern und Gebrechlichen ist die Benützung verboten. Gepäckbeförderung verboten. Weiterfahrt durch Boden und Keller ungefährlich und nicht verboten. Bei Gefahr Haltknopf betätigen. Ein- und Aussteigen während der Fahrt möglich. Aufschrift auf der Notleuchte der Kellerpassage: Fuck Capitalism.

Andere prominente Paternoster in Wien: Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, 1010, Stubenring 12. Rathaus, Hauptgebäude, Stiege 6, 1010, Friedrich-Schmidt-Platz 1. Prominentester abgebauter Paternoster: Neues Institutsgebäudes (NIG), 1010, Universitätsstraße 7.

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