Große Stadt, kleiner Mann

Andrea Maria Dusl
Mit alten Aufnahmen von Liedern und Couplets aus deutschsprachigen Metropolen zeigt die CD-Serie „Rare Schellacks“ die Gemeinsamkeit von Wiener Dialekt und Berliner Schnauze: den Großstadthumor.

Sie hatten selten eine künstlerische Ausbildung und wechselten meist vom goldenen Boden des Handwerks auf die dünnen Bretter, die die Welt bedeuten: Volkssänger, Possenreißer, Imitatoren, Witzeerzähler, Vortrags-, Musik- und Gesangshumoristen. Im ersten Drittel unseres Jahrhunderts, zu einer Zeit, in der das Radio noch in den Kinderschuhen steckte und das Fernsehen noch nicht erfunden war, waren sie die Stimme des „Kleinen Mannes“.
Das Münchner Label Trikont hat nach den Sammlungen „Bayern“, „Oberösterreich-Salzburg“, „Wien“ und „München“ fünf weitere CDs der Serie „Rare Schellacks“ herausgegeben. Die seltenen Tonaufnahmen aus den Ballungsräumen der Metropolen Berlin, Dresden, Leipzig, München und Wien wurden digitalisiert und konserviert, aber nicht totrestauriert. Weder das Rauschen der dünnen Grammophonnadeln noch gelegentliches Knistern oder Knacksen wurde herausgefiltert. Das bewahrt dieser Serie den Charme der Genuinität.
Rare schellacks.jpgÖsterreicher, so wird gesagt, tun sich schwer mit dem deutschen Idiom. Trennt uns doch von unseren lieben Nachbarn neben der gemeinsamen Geschichte vor allem die gemeinsame Sprache. Die Emotionen, die der Klang bundesdeutscher Kehlen hierzulange gemeinhin auslöst, oszillieren zwischen Unverständnis und Ablehnung und nähren sich aus dem ebenso tief verwurzelten wie grundfalschen Bewusstsein, etwas Besseres zu sein als die Piefke. Ganz besonders gilt diese Palette an Vorurteilen für die Bewertung deutschen (Nachkriegs-)Humors.
Im Bewusstsein solcher Ressentiments hören sich die alten Aufnahmen populärer deutscher Musik spannender, näher und vor allem tiefsinniger an als so manches, was nach dieser Ära als volkstümlicher deutscher Humorgesang gelten muss. Wiener Dialekt, Berliner Schnauze, Dresdner und Leipziger Mundart und die Weisen aus München verbindet vor allem ein universeller deutschsprachiger Großstadthumor: Mit dem Ausufern der Metropolen wurde aus entwurzelten Bauern, Tagelöhnern und Arbeitern der „Kleine Mann“ – das bitterarme Zielpublikum der großen Stadt. Nicht der Geschmack der Hochkultur prägte das Bild und den Klang der Großstadt, sondern die kleinen Freiheiten der derb bis hintersinnig angelegten Couplets, der dadaistische Todernst heiterer Vorträge und die bittere Trauer, die jeder gute Witz transportiert.
In einem metaphorischen Sinn sind auch die Beispiele der Wiener Schellack-Kompilation „Zoten & Pikanterien“ trotz ihrer manchmal derben („I hab mei Freud mit die Vögln“), meist aber fein codierten („Der Pfannenflicker“ oder „Der Grillenkitzler“) und stets urwienerischen Sprache überregional, großstädtisch und unüberhörbar zeitlos.
Als herausragendes Leitfossil der Trikont-Reihe darf jedoch Karl Valentin gelten. Zusammen mit seiner kongenialen Partnerin Liesl Karlstadt wusste er aus winzigen Funken an Humor Feuerwerke an Weisheit zu entfachen und die bittere Ahnung an einen Weltenbrand in Nonsens zu verdichten. Indem er dem einfachen Volk aufs Maul schaute, sah er direkt hinein in die Köpfe und Herzen der Ängstlichen und Aufgedrehten, der Ausgeflippten und Abgewandten. Allein die Nummer „Valentin singt und lacht selbst dazu“ kann von dieser düsteren Epoche mehr als tausend Bilddokumente zeigen.
Rare Schellacks:
Wien – Zoten und Pikanterien 1906-1932.
Berlin – Großstadtklänge 1905-1950.
Sachsen – Volkssänger 1910-1932.
München – Lieder und Couplets 1901-1934.
Bayern – Szenen und Vorträge 1902-1939.
(Alle bei Trikont/Hoanzl)
„Falter“ 50/99 vom 15.12.1999 Seite 69 Kultur

Günter Brödl ::: Dem Kurtl sein Trainer

Wien-Mythos: Günter Brödl, Kriminalschriftsteller, „Asterix“-Übersetzer, vor allem aber Erfinder, Songtexter und Chefbetreuer von Kurt Ostbahn, wird runde Fünfzig. Der „Falter“ versuchte, die Lebenswege Brödls und des Ostbahn-Kurti auseinanderzuhalten. ANDREA MARIA DUSL
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Broedl und Resetarits.jpgMein Name ist Ostbahn“, stellt sich der Held des Romans „Kopfschuß“ vor, „Kurt Ostbahn, und ich komme aus der Reindorfgasse in Wien-Fünfhaus, wo ich im dritten Stock des Zwölferhauses eine generalsanierte Altbauwohnung bewohne, wenn ich nicht grad‘ acht Monate im Jahr auf Tournee oder bei Ricky Gold in Ollersbach im Tonstudio bin.“
Wien-Fünfhaus, Rudolfsheim-Fünfhaus oder einfach Fünfhaus ist ziemlich verwirrend. Fünfhaus ist der fünfzehnte Bezirk, dessen Hauptstraße die Sechshauser Straße ist, wohingegen die (äußere) Mariahilfer Straße als prominenteste Straße des Bezirks gelten muß. Die Reindorfgasse hingegen kennt niemand. Es ist nicht leicht, die Reindorfgasse zu finden. Die Reindorfgasse aber muß finden, wer Günter Brödl treffen will. Die Reindorfgasse oder die Kanareninsel Teneriffa. Diese beiden Weltgegenden nehmen im Kosmos eines gewissen Kurt Ostbahn einen privilegierten Platz ein.
Selbst eindeutig als Eingeborene zu identifizierende Menschen, die in Trainingshose und Schlapfen mit dem Waldi Gassi gehen, wissen nichts von einer Reindorfgasse. „Do jednfois ned“, wie es zwischen zwei hustenden Zügen an der Falk-Zigarette heißt: „Doda scho goa ned!“ Ein sehniger Fahrradbote mit steirischem Zungenschlag schließlich empfiehlt nach ausgiebigem Studium seines schweißverpickten Straßenverzeichnisses, die gesuchte Gasse hinter Westbahnhof und Mariahilfer Straße zu suchen.
Über einen versteckten Steig ist die Reindorfgasse von der „äußeren“ Mariahilfer Straße zugänglich. Ein kleines montmartriges Gassl mit freundlichen kleinen, überaus bunt bewohnten Häusern. Und weil in Österreich jedes Dorf ein veritables Gasthaus hat, hat auch das Reindorf eines: Das Gasthaus Quell.
Brödl sitzt schon beim Bier und entschuldigt sich dafür, daß er schon angefangen hat mit der Suppe. Wer ist das jetzt, frage ich mich. Ist das jetzt Günter Brödl, der zurückhaltende, fast schüchterne Autor und Übersetzer? Der allmächtige, von Willi Resetarits vulgo Kurt Ostbahn stets zitierte „Trainer“? Oder ist es der Kurt Ostbahn selbst?
Manchmal wisse er das selbst nicht so genau, bekennt Günter Brödl. Wer jetzt wer sei und seit wann und in wem sich die Kunstfigur Kurt Ostbahn gerade manifestiere. In Willi Resetarits, dem Ex-Schmetterling, in Günter Brödl, dem Ex-„Musicbox“-Mitarbeiter, in beiden oder in jener über jeden Marketing-Mythos erhabenen historischen Persönlichkeit, für die ihn vor allem seine Fans halten.
Wir einigen uns darauf, daß ich hier mit dem „Trainer“ zusammensitze. Anlaß unseres Treffen sind 50 Jahre Kurt Ostbahn. „50 verschenkte Jahre im Dienste der Rockmusik“, um den Titel des Albums und der dazugehörigen Tournee zu zitieren. Und wie das alles begann, wie der Kurti dem Günter Brödl entkam, über verschiedene Zwischenwirte schließlich in Willi Resetarits schlüpfte und erst auf der Bühne, dann im Roman und schließlich in Film und Funk berühmt wurde, soll der Inhalt unseres Gesprächs sein.
Angefangen hat alles mit dem Hobby von Brödls Vater. „Was ihm vor die Kamera gelaufen ist, hat er gefilmt, Super-8-mäßig. Alles. Und das schönste war dann immer das Schneiden.“ Sohn Brödl vertont und montiert also die Urlaubsfilme vom Papa. Legt Tonspuren, sucht Musik aus, schreibt Texte und wird schließlich gemeinsam mit einem Schulfreund beim Radio vorstellig. Mit einem Band in der Tasche und dem Argument: „Was der Kos (Wolfgang Kos, damals Leiter der „Musicbox“, Red.) kann, können wir auch.“ Aus dem Schüler Günter Brödl wird ein Mitarbeiter der berühmten Talenteschmiede Musicbox. Der Job wirft wenig, aber doch regelmäßig Geld ab. Geld zum Leben und „um damit Platten zu kaufen“.
An Jahreszahlen kann sich Brödl nicht mehr erinnern. „Die Colosseum-Zeit war das.“ Und die der Allman-Brothers. „Konzeptmusik“ prägt den Radiomacher – „Bitches Brew“ von Miles Davis und die frühen Alben von Genesis, als Peter Gabriel noch dabei war. „Wer’s kennt“, würde der Kurt sagen. Das Album „Tommy“ von The Who, das damals als Prototyp durchgestylten Rockmusiktheaters galt, hingegen ist Brödl zu überladen.
Wann genau der Ostbahn-Kurti das Licht dieser Stadt erblickte, kann Brödl nicht sagen. Kurtis Welt jedenfalls sei immer schon dagewesen. Alles, was er, Brödl, nicht selbst erleben konnte, habe er als Gegenentwurf zum eigenen Leben in den Kurti-Kosmos projiziert. „Ohne Bewußtseinserweiterung“, sozusagen „ohne Droge“. Erstmals namentlich genannt worden sein soll die musikalische Figur um 1974 anläßlich eines Jahresrückblicks der „Musicbox“. Wolfgang Kos hatte die Musik einer Band namens „Southside Johnny & The Ashbury Jukes“ unter die fünf wichtigsten Platten des Jahres gereiht, und der Sprecher der Sendung, „Franz Morak oder Wolfgang Hübsch“, genauer kann sich Brödl nicht erinnern, hätte folgende These ausgesprochen: Wenn diese Burschen Wiener wären, würden sie „Ostbahn-Kurti & die Chefpartie“ heißen.
1979 gastieren eine Figur und Band dieses Namens in Günter Brödls Theater-Comix „Wem gehört der Rock and Roll?“ am Wiener Renaissance-Theater. Leib und Stimme leiht dem Helden aus Simmering der damals noch als Musical-Sänger auftretende spätere Fernsehsprecher Erich Götzinger. Der heute noch stolz darauf ist, als Ur-Kurti zu gelten. Den Brotberuf teilt die Kunstfigur mit zwei anderen Chefproleten: Sowohl der ehemalige Solidarnos’c‘-Anführer Lech Walesa als auch Edmund Sackbauer sind gelernte Elektroinstallateure.
Willi Resetarits kennt Brödl noch als Sänger und Frontgestalt der aus Arena-Zeiten legendären, politisch hochkorrekten Agit-Prop-Band Die Schmetterlinge. Irgendwann kreuzen sich die Wege von Brödl und Resetarits. Und notgedrungen verschmelzen die erfundenen Erlebnisse von Brödls Alter ego mit den real erlebten von Resetarits und zeitigen die Simmeringer Kultfigur Kurt Ostbahn. Wann genau, läßt sich heute nicht mehr eruieren: „Weu ma do jetzt nix Genaues waaß, wonn des jetzn woa und wo, diafat vielleicht do da ane oda ondre Fernet mit in Spü g’wes’n sei. So schaut’s aus.“
Brödl beginnt, sich für die Figur zu enthusiasmieren. Er erdichtet Songtexte zu fiktiven Alben und bastelt eine augenzwinkernd glaubwürdige Vita des Springsteen aus Simmering. Bis dahin hat Brödl hochdeutsch getextet, „aber irgendwie hat das nicht gegroovt“. Wienerisch eignet sich eben besser, hochkomplexe Gefühle aus der Vorstadt zu transportieren. Und auch eine andere Nachkriegsmythengestalt scheint dem Partiechef zumindest entfernt verwandt zu sein: Bronner/Qualtingers wickelbereiter Mopedprolo „Der Wilde mit seiner Maschin'“.
Im Jahr 1985 hebt der Mythos endgültig ab: Im Frühjahr erscheint das „Comebackalbum“ des Elektrikers in der Lederhaut, „Ostbahn-Kurti & die Chefpartie“. Willi Resetarits hat sich nach ausgedehntem Zögern, „ob ma so was moch’n derf, ois brava Schmettaling“, dazu entschlossen, die tief in ihm schlummernde Sau rauszulassen bzw. „den Beidl aussehängan z’loss’n“, wie der damalige Baßruderbedienstete der Chefpartie Leo Bei vulgo „Charlie Horak“ übersetzte. Resetarits‘ Erstbesteigung der Bühne als Simmeringer Sänger gelingt im Schutzhaus am Schafberg, die Single „Feuer“ zieht in die Hitparade des dermaligen Monopolsenders Ö3 ein. Ostbahn-Kurti und seine „neu formierte“ Chefpartie feiern den „späten Erfolg“ mit ausgebuchten Konzerten in ganz Österreich. Die Band, allesamt routinierte Musikartisten, gilt als zuverlässigster und vielseitigster Live-Act im süddeutschen und österreichischen Raum.
Günter Brödl schreibt nicht nur die Texte zu neuen Ostbahn-Songs und übersetzt beliebte Schmankerln erprobter Angloamerikaner ins Simmeringerische, er ist auch stets mit auf Tournee. Erst als Beleuchter für die Farben Rot, Gelb, Grün und „Purple“, dann als „Verfolgerfahrer“, wie es bühnenamtlich heißt, als Bediener des Verfolgungsscheinwerfers. Und als solchem fallen ihm die dramaturgischen Mängel und Vorzüge der Show ins Auge. Brödl beginnt seine Wahrnehmungen in Beratertätigkeit fließen zu lassen. Brödl wird „Trainer“. Trainer und damit bezugsberechtigtes Bandmitglied. Was bedeutet, daß auch er vom „Kohlen-Güntl“ gerufenen Verwaltungsdirektor der Band, Günther Großlercher, allabendlich einen aliquoten Anteil ausbezahlt bekommt.
Ostbahn-Kurti & die wechselnden Mitglieder der Chefpartie (seit 1995 Kurt Ostbahn & die Kombo) erspielen sich den Ruf einer Legende und bescheren der österreichischen Populärmusik ein Phänomen, das trotz gesungener Dialektprosa nicht so recht in die Sparte Austropop passen will. Brödl lebt fürderhin recht gut als textender Trainer und trainierender Texter und entwickelt seine Kunstfigur konsequent weiter. Als ihn nach einer großen Tournee die Last der Steuervorauszahlungen finanziell zu erdrücken droht, zieht er, „eher zufällig“ ins Urlaubsparadies Teneriffa. Zuerst sollte es nur ein Kurzurlaub sein. Dann sieht er ein Haus, „einen zugigen, weil in spanischer Leichtbauweise ausgeführten Bungalow – errichtet in dem für Teneriffa schon antiken Baujahr 1966. Mit einem kleinen Gartl, in einer urbanisacion mit 35 anderen Bungalows mit kleinen Gartln.“
Seit nunmehr fünf Jahren lebt Günter Brödl schon auf der Atlantik-Insel. Wann immer es die Konzerttermine erlauben, „flieht“ er Österreich und schreibt. Woran Brödl schreibt? An Ostbahn-Romanen selbstverständlich. 1995 erscheint der Kriminalroman „Blutrausch“ (1997 von Thomas Roth verfilmt) und dann in weiterer Folge „Hitzschlag“ (1996), „Platzangst“ (1997) und schließlich heuer, als „vierter Band der Trilogie“: „Kopfschuß“. Am „fünften Teil der vierbändigen Trilogie“ schreibt der Trainer gerade. Das neue Verlagsmanuskript steckt in Brödls etwas mitgenommener Lederschultasche. Um acht treffe er aus Recherchegründen den „Doktor Trash“, verrät er stolz. Doktor Trash ist Brödl-Intimus Peter Hiess, die größte lebende Kapazität auf den Wissensgebieten Mord, Raubmord, Serienmord, Ritualmord. Kein Schwerverbrechen, über das Doktor Trash nicht profunde Auskunft geben könnte.
Und wie schreibt? Manisch, automatisch, meint der Trainer, auf vielen Zetteln und in kleine Büchlein. Manchmal an mehreren Songs gleichzeitig. Inzwischen höre er Willis Gesangsstimme schon während des Schreibens im Kopf. Nur die Übersetzung der beiden „Asterix“-Bände sei ziemlich haarig gewesen: „Da geht’s nämlich auch darum, die Texte genau in die Sprechblase einzupassen.“
Bevor sich unsere Wege trennen, möchte ich noch das Rätsel um Brödls runden Geburtstag klären. Am 23. Mai soll es soweit sein mit dem Fünfziger. Mit 50 verschenkten Jahren im Dienste der Ostbahndichtung. Zu Beginn des Beweisverfahrens lege ich einen, von Falter-Sachbuchmeister Klaus Taschwer verwalteten Buchmarketing-Kalender mit den runden Geburts- und Todestagen prominenter Schriftsteller vor. „Also, ich hab‘ am 22. März 44sten gehabt. Und der einzige Brödl Günter außer mir ist mein Vater. Der kann aber schlecht 50 werden.“ Günter Brödl will schnell verschwinden, um den Vater zu befragen. Wie das so schnell ginge, will ich wissen. „Na, der hat da hinten ein Bettwarengeschäft.“ In der Reindorfgasse. Nona. Kopfschüttelnd kehrt er wieder. „Also der Vater ist es nicht. Und er kennt auch keinen Günter Brödl außer mir.“
Es muß also einen dritten Günter Brödl geben. Nur: Trainer ist der keiner, und in der Reindorfgasse hat er auch nichts zu schaffen. Warum er aber gerade 50 wird wie der Kurt Ostbahn, wird wahrscheinlich nicht einmal der Doktor Trash klären können.
©Andrea Maria Dusl
Erschienen in „Falter“ 19/99 vom 12.5.1999 Seite 22
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Brödl sehen, hören, lesen
Gesammelte Werke

Bücher
Der kühle Kopf. Zwei flüchtige Erzählungen. Wien 1975 (Jugend & Volk)
Click Clack. Wiener Rockstories. Kaufbeuren 1978 (Pohl ’n‘ Mayer)
Tempo City. Eine schnelle Geschichte. Roman. Kaufbeuren 1982 (Pohl ’n‘ Mayer).
Die guten Kraefte. Neue Rockmusik in Österreich. Wien 1982 (Hannibal)
Anna Stein: Hasenjagd. Comic-Szenario (Zeichner: Ronald Putzker). Hamburg 1989 (Comicplus)
Anna Stein: Hotel Paranoia. Comic-Szenario (Zeichner: Ronald Putzker). Hamburg 1991 (Comicplus)
Anna Stein: Das letzte Alpenglühen. Comic-Szenario (Zeichner: Ronald Putzker). Hamburg 1994 (Comicplus)
Kurt Ostbahn: Blutrausch. Kriminalroman. Innsbruck 1995 (Haymon)
Kurt Ostbahn: Hitzschlag. Kriminalroman. Innsbruck 1996 (Haymon)
Kurt Ostbahn: Platzangst. Kriminalroman. Innsbruck 1997 (Haymon)
Ostbahn: Auslese. Ein Poesiealbum nicht nur für Kurtologen. Wien 1998 (Kremayr & Scheriau)
Kurt Ostbahn: Kopfschuß. Kriminalroman. Vierter Band der Trilogie. Wien 1999 (Kremayr & Scheriau)
Übersetzungen
Asterix: Da Grosse Grobn. Comic. Egmont Verlag, 1997
Asterix: Da Woasoga. Comic. Egmont Verlag, 1998
Theater
Draußen in der Stadt. Theaterstück. UA Renaissancetheater Wien, 1977
Wem gehört der Rock & Roll? Ein Theater. Rock-Musical. UA Renaissancetheater Wien, 1979
Schlafstadtkinder schlafen nicht. Kinderstück. UA Theater des Kindes Linz, 1979
Tempomatik. Performance mit Fred Jakesch (Musik). Szene Wien, 1982
Dynamo Donau Blues. Bluesical. UA Donaufestival Amstetten, 1993
Platten
Ostbahn-Kurti & die Chefpartie / Kurt Ostbahn & die Kombo:
Ollas wos I brauch. Single 1975 (tilt-records, vergriffen)
Antifrost Boogie. LP 1976 (Creolia, vergriffen)
Nochtschicht. LP 1977 (Creolia, vergriffen)
Ostbahn-Kurti & die Chefpartie. LP/MC/CD 1985 (Ariola)
Ostbahn Live. LP/MC/CD 1985 (Ariola)
A scheene Leich. LP/MC/CD 1988 (Amadeo)
Liagn & Lochn. LP/MC/CD 1989 (Amadeo)
1/2 so wüd. DoLP/CD 1991 (Amadeo)
A blede Gschicht. DoLP/CD 1992 (Amadeo)
Saft & Kraft. CD 1994 (Amadeo)
Trost & Rat. CD 1994 (Amadeo)
Espresso Rosi. CD 1995 (Amadeo)
Reserviert fia zwa. CD 1997 (Amadeo)
Blutrausch (O.S.T.). CD 1997 (Amadeo)
Die 50 verschenkten Jahre im Dienste der Rockmusik. CD 1999 (Polygram/Universal)
Filme
Draußen in der Stadt. TV-Serie in 18 Folgen, ORF 1978. Drehbuch
Saturday Nite Frust. TV-Film, ORF 1982. Drehbuch
Neon Mix. TV-Film, ORF 1982. Drehbuch
Belles Paradise. TV-Film, ORF 1988. Drehbuch (mit Fritz Müller-Scherz)
Wild Taste of Chicago. Musikfilm, ORF 1990. Drehbuch und Regie
Blutrausch. Kinospielfilm, 1997. Drehbuch (mit Milan Dor, Willi Resetarits und Thomas Roth)
Bild: Trainer Brödl mit Ostbahn: „Den Beidl aussehängan loss’n Bild: Brödl-Universum Reindorfgasse: Günther Brödl jun. mit Günther Brödl sen. im väterlichen Bettwäschegeschäft

Rudi Carrell – Gags am laufenden Band

Humor. Holland ist nicht allein für Tulpen und Eisschnellläufer berüchtigt, sondern auch für Rudi Carrell, den größten nicht-deutschsprechenden Showmaster des deutschen Sprachraums.

Andrea Maria Dusl, 18.4.1999, für Profil.

Der schlaksige Junge von Nebenan mit der butterweichen Tolle vor der Stirn war der perfekte Liebling aller Muttis und Omis. Zum Abküssen perfekt auch sein loses Mundwerk. Rudi Carrell, 1934 als Rudolf Wijbrand Kesselaar in der holländischen Kleinstadt Alkmaar in eine Komikerfamilie geboren, tingelte nahezu ein Jahrzehnt als Zauberkünstler, Bauchredner und Modesprecher durch die Niederlande, bis ihn 1959 ein Fernsehauftritt mit eigenen Ideen über Nacht berühmt machte.

Die monatliche Rudi-Carrell-Show lief mehr als 35 mal über holländische Bildschirme, bis Carrell – mit einer silbernen Rose von Montreux  in der Tasche – auch das deutsche Fernsehen auf sein Talent zur Samstagabend-Familienunterhaltung aufmerksam machte. Der mehlweiße Jüngling mit dem schon früh ulcusfaltigen Knittergesicht machte aus seinem knödelnden Kauderwelsch eine liebenswert  unnachahmliche Tugend und stilisierte sich  pfiffigen Shows zum Liebling der geteilten Nation. Bundesrepublikanische Einschaltquoten jenseits der 60% verwiesen Kollegen wie Hans Rosenthal (Dalli Dalli) und Wim Thoelke (Der große Preis) auf die Plätze. Als deutsche Unterhaltungs-Kolonie war Österreich, wie damals bei großen Quotenknüllern selbstverständlich, ausstrahlungstechnisch gleichgeschaltet.

1974 trat an die Stelle der Rudi-Carrell-Show das Familien-Quiz „Am Laufenden Band“, eine deutsche Version des ursprünglich ebenfalls holländischen „Een van de acht.“ Die Product-Placement-Comedy tarnte sich als spannendes Merkspiel. Auch jenseits der innerdeutschen Grenze hatte die Show, bei der vom Toaster bis zur kompletten Golfausrüstung alles gewonnen werden konnte, was ins deutsche Eigenheim passte,  geradezu paradisisches Format.

In den frühen Achtziger Jahren feierte Carrell neue Erfolge mit  „Rudis Tagesshow“, einer mit Gags und Sketchen angereicherten Persiflage auf die Nachrichtensendung „Tagesschau“, die trotz schlechter Sendezeit erstaunliche Reichweite erzielte.

Aber hier strauchelte der mittlerweile ergraute Junge aus Flandern, der sich einst die Sporen in der halbhohen Schule des billigen, weil unpolitischen Gags verdient hatte, an niemand geringerem als Khomeini. Carrell hatte in einer halblustigen Film-Montage den Eindruck erweckt, der Ajatollah werde von Anhängern mit Damenunterwäsche beschenkt.  Der iranische Staats- und Kirchenführer war empört und monierte offiziell die Entschuldigung der Bonner Regierung. Die politischen Wogen gingen hoch: Der Kulturreferent der deutschen Botschaft in Teheran wurde ausgewiesen und das Goethe-Institut geschlossen. Carrell mußte sich beim iranischen Volk entschuldigen, „möglicherweise religiöse Gefühle“ verletzt zu haben.

Die Karriere des Showmasters wollte sich nach diesem Knick – etwas später verscherzte es sich Rudi auch noch mit Bundeskanzler Kohl – nicht so recht erholen. Die „Oma-Opa-Mama-Papaguckmal-Show“, „Rudis  Tiershow“, sowie eine Reprise der  „Rudi-Carrell-Show“ litten alle unter Publikumsschwund. Der privat zwischen ruppigem Machismo und misanthropem Poltern oszillierende Rudi verlegte seine Agenden, ähnlich seiner Landsfrau Linda De Mol, vom publikumswirksamen Show-Mastern  ins finanziell noch erfolgreichere Show-Manegment. Die Moderation der  Blind-Date-Show „Herzblatt“ übergab er einem Kollegen mit ähnlichem Ausländerbonus: Reinhard Fendrich.

Rudi Kesselaar, der „Jong van Nebenaan“ ist zweifelos der bekannteste, aber beileibe nicht einzige Unterhaltungsexport aus dem Land der Grachten und Kanäle. Auch der legendäre Moderator des „Goldenen Schusses“, Lou van Burg war eingedeutschter Beuteholländer. Der leichten Muse fühlt sich auch der 95jährige Filmstern und Operettentenor Johannes „Jopie„ Heesters heute noch verpflichtet. Schlicht als Clown sieht sich dagegen Performance-Artist Hermann van Veen. Sein sülziges Kleingekünstel tarnt sich als „politisch bewußtes  Hinterfragen von Mißständen“ und gerät dabei zum kabarettistischen Selbstläufer: Just die Hermann-Veen-Parodie „Pflaumenbaum“ zählt zu den größten Lacherfolgen seines deutschen Kollegen [Helge Schneider].

Mit allerseichtestem, wenngleich finanziell höchst einträglichem Schmus erklomm ein gewisser Pierre Kartner in den 70er Jahren sogar die europäischen Hitparaden: Unter seinem Künstlernamen Vader Abraham  und dem „Lied der Schlümpfe“ ist der Holländer noch immer ein Begriff. Sein Song „Wenn die Slipeinlage nur gut sitzt“ dagegen unterschritt im wahrsten Sinne des Wortes die Gürtellinie und geriet zu Recht  in Vergessenheit.

Was können Holländer besser, was macht sie so beliebt? „Es ist vor allem ihr Akzent“, meint Jörg Metes, früher Chefredakteur des Satrirepostille Titanic und als ehemaliger Gagschreiber von Thomas Gottschalk mit den Usancen des deutschen Fernsehens bestens vertraut, „egal, was Holländer sagen, es klingt einfach witzig.“

Oder, wie der notorische Gagsucher Carrell das Geheimnis seines Erfolgs selbstanalytisch auf den Punkt brachte: „Warum ich in Deutschland lebe? Du kannst nicht auf Mallorca wohnen, aus dem Fenster gucken, eine Palme sehen, den Strand, das Meer und an etwas Witziges denken. In Afrika gibt es keinen einzigen Komiker. In England gibt es die meisten, weil es dort immer nebelig ist und stürmt. Die besten Ideen habe ich, wenn ich zu Hause am Fenster sitze und es regnet.“

Holländischer Komiker sein ist ein Scheißberuf. Es gibt nichts Schlimmeres, als vor einem leeren Blatt Papier zu sitzen und etwas schreiben zu müssen, worüber Millionen von Deutschen lachen sollen. Rudi Carrell.

Im Showbusiness ist Klugheit nicht immer von Vorteil. Rudi Carrell.

Mit 17 mußte ich mich entscheiden: Müllabfuhr oder Showmaster. Rudi Carrell.

Ein holländischer Fußballer rächt sich an der deutschen Presse, indem er abhaut, ein holländischer Showmaster, indem er bleibt. Rudi Carrell.

Nach jeder Show bin ich in einer Stimmung, daß jede Frau, die sich mir bis auf zehn Meter nähert, automatisch schwanger wird. Rudi Carrell.

EDV

Als ich noch klein war und in die Mittelschule namens Gymnasium ging, hießen Computer zwar schon heimlich Komputer, beschäftigten sich aber ausschließlich mit „EDV“. Damit wir uns ein Bild machen konnten, wie so eine „EDV“ in etwa aussah, brachte unser Mathematikprofessor einen Streifen fahlgelben Plastiks mit, den er uns stolz als „Lochkarte“ präsentierte.

„Das ist EDV, meine Damen und Herren! Diese kleinen Löcher, da, das ist Information! Diese kleinen Löcher.“ Daß „ein“ gestanztes Loch den Wert „Eins“ repräsentierte, leuchtete mir noch halbwegs ein, aber daß „kein“ gestanztes Loch den Wert „Null“ darstellen sollte, blieb mir unerklärlich. Wie konnte etwas dargestellt werden, indem es nicht dargestellt wurde? Rätselhaft, aber so war EDV. Der Streifen enthielt übrigens „unauslöschliche Daten! Diese Lochkarte werden wir noch in 50 Jahren lesen können. Sogar in 100, ja in 1000!“ Ich bezweifelte die Prognosen des Matheprofs zwar schon damals, ließ mich aber offiziell zu der Haltung hinreißen, EDV verbessere sich zwar sprunghaft, aber Lochkarten als Trägermedium von Information werde es immer geben. „So eine Lochkarte ist billig und universell lesbar. So eine Lochkarte kann in Helsinki gelesen werden und in Singapur. Nur die Sowjetunion …, die überholt uns nie!“

Für Falter 5/99 vom 3.2.1999 Seite 63.

Vera Ferra-Mikura und ihre drei Stanisläuse

„Schreiben ist einsame Arbeit“. Vera Ferra-Mikura, Lyrikerin und Romanautorin wurde vor allem mit ihren Kinderbüchern berühmt. Die Schöpferin der „Drei Stanisläuse“ starb Anfang März im Alter von 74 Jahren. ANDREA MARIA DUSL
Drei Stanilause.jpg.jpgErfolgreiche Kinderbücher der 60er-Jahre waren ausnahmslos subversiv. Haarsträubend sympathische, aber meist neunmalkluge Heldinnen und Helden verstrickten sich in übertrieben surrealistische Handlungsstränge. Hinterfotzig tarnten sich edukatorische Falltüren als zu Meisternde Abenteuer, der Sturz in neue Erkenntniswelten blieb aber stets weich.
Astrid Lindgrens Seventies-Powergirl Pipi Langstrumpf konnte vermutlich deshalb mehr für das Selbstbewußtsein deutschsprachiger Frauen tun als Alice Schwarzers „Emma“, weil ihr aufklärerische Hebel vor und nicht nach der Festigung der Geschlechterrollen ansetzte. Aber auch Bösewichte gruben sich bisweilen tief in Kinderherzen ein, um später in Erwachsenenhirnen weitererzuspuken. Der kinderfressende muslimische Turbanschurke „Hatschi-Bratschi“ Franz Karl Ginzkeys verfolgt in Gestalt des „überfremdenden Ausländers“ heute noch geschlossene Wählerschichten. Welche Saat Tom Turbo, das obergscheite aber ins onkelhaft belehrende abdriftende Moped Thomas Brezinas in die Kids der 90er streut, bleibt abzuwarten.
Von ganz anderer, sanfterer Qualität waren… >>>

„Vera Ferra-Mikura und ihre drei Stanisläuse“ weiterlesen

Der Taucher im Wasserflugzeug

DIE PROVENÇE

Der Taucher im Wasserflugzeug und andere Geschichten aus dem Land in dem das Licht erfunden wurde.
© Andrea Maria Dusl
Provence.jpgAls der liebe Gott sich mit der Erschaffung von Südfrankreich beschäftigte, war er gut aufgelegt und expermimentierte ein wenig herum. Das Ergebnis waren die Hügel, Gebirge und Ebenen der Provençe und eine Palette von Fadrbtönen, wie sie nur hier vorkommen, Maler und Dichter magisch anziehen und in ihrer Vielfalt den einen oder anderen von ihnen fast den Verstand kostete. Als wären Polychromie Mannigfaltigkeit der provençalischen Landschaft nicht zauberhaft genug, installierte der große Experimentator auch noch ein Klima, das mit „paradisisch‘ nur unzureichend beschrieben werden kann. Auf den Hügeln, die Inseln gleich, aus den damals noch riesigen Sümpfen des Rhonedeltas ragten, siedelten die Ur-Provençalen, die Ligurer, und Kelten.
Die Segnungen der antiken Zivilisation brachten Griechische Händler ins Land. Sie hatten 600 v.Chr. mit Massalia, dem heutigen Marseille die älteste Stadt Frankreichs gegründet. (Mit der Erwähnung dieser Tatsache gelingt es den stolzen Marseillesen noch heute, hochnäsige Lyonesenn und kaltschnäutzige Pariser zur Weißglut zu bringen). Den Römern, die unter Cäsar Gallien eroberten, verdanken die Provençalen ein, heute noch verwendetes Netz von Straßen, den Ausbau ihrer Kuhdörfer zu stolzen Städten und den Namen ihres Landes: Provincia Narbonensis, die Provençe
Als ideale Reisezeit für einen Besuch des provençalischen Paradieses gelten Mai, Juni und September. (Die Winter sind zwar durchaus mild, aber von oft wechselhaftem Wetter, die Sommer trocken und afrikanisch heiß).
Avignon, die Stadt der Päpste, das römische Aries mit seinem Amphitheater und die mittelalterliche Hauptstadt der Provençe, Aix sind aufgeweckte kleine Metropolen meditenaner Lebensart, Sie eignen sich hervorragend als Stützpunkte zur Erkundung des Landes. Marseille ist eine brodelnde Hafen-Großstadt, deren Besuch mehr als lohnt, als Standot für einen Aufenthalt in der Provençe ist das Tor zum Orient aber schon durch seine exponierte Lage ungeeignet.
Ginge es übrigens nach dem Willen der Franzosen, immerhin Experten dafür, das Leben zur Kunst zu machen, wäre Aix (die antiken Quellen Aquae Sextae) eine Stadt mit 60 Millionen Einwohnern. Soviele Gallier geben nämlich als Idealstadt AixenProvençe an. In einem der platanenbeschatteten Cafés der Cours Mirabeau bei einem Glas Pastis zu sitzen und sich beim Plätschem der moosüberwuchenen Stadtbrunnen dem Studium süssen Nichtstuns hinzugeben, ist sogar schöner als Fliegen.
Wenn der berüchtigte Mistral, ein kalter, böiger, azurblauen Himmel erzeugender Nordwind sie nicht in ihre Häuser scheucht, beschäftigen sich die Provençalen seitt ewigen Zeiten am liebsten mit demWasser.
Übers Wasser kamen einst die Griechen, brachten Olivenbäume und Wein mit und die Kunst, aus ihren Früchten feinstes Öl zu pressen und edelste Tropfen zu keltern. Aus dem Meer holten sie Fische und Salz neben Kräutern und ausgewählten Feldfrüchten sind das die Bestandteile der hier abgöttisch verehrten Bouillabaisse.
Wasserflugzeug.jpgUm die Gluthitze des Sommers zu überleben, scheuen schon die Römner weder Kosten noch Mühen und bauten Wasserleitungen, die das kostbare Naß der Berge über fünfzig Kilometer und mehr in die Brunnen und Zistemen ihrer Städte brachte. Als technisch beispielhaftes Wunderwerk der Antike gilt noch heute der Aquädukt PontduGard, der in dreistöckigen Arkaden die Wasser des friedlich dahinplätschernden Gardflusses überspannt.
Ihre, von sommlicher Gluthitze ausgetrockenten Kehlen laben die Provençlen vorrangig mit Pastis, jenem unverwechselbaren Anisschnaps, der mit eiskaltem Wasser verdünnt, jenes miclchigtrübe Elixir ergibt, das selbst hier, in der Wiege des französichen Weines als provençalisches Nationalgetränk gilt.
Wasser löscht aber auch andere Brände. Zum täglichen Bild eines heissen Sommertages gehören die gelben Wasserflugzeuge, die ihre mit Meerwasser gefüllten Bäuche über brennenden Wäldern entleeren. Daß der eine oder andere Sporttaucher, von den modernen Pelikanen irrtümlich mitaufgetankt, tief im Landesinneren zwischen verkohlten Baumstümpfen gefunden wurde, ist eine Gerücht, das besonders Marseilleiser Bartender gerne zum Besten geben.
Die magische Anziehungskraft des provençalischen Lichts, der Zauber, den Farben und Gerüche dieses Landstrichs auf Einwohner und Besucher gleichermaßen ausüben, machen süchtig. Süchtig nach Bouillabaisse und Patis, nach dem Geruch von Rosmarin und Lavendel und dem Zirpen der Zikaden.
© Andrea Maria Dusl
Erschienen ~1997 in Visa Magazin

Paul Flora ::: Der weiße Rabe

Der Tiroler Zeichner und Grübler Paul Flora wird am kommenden Sonntag 75 Jahre alt.

Ein Hausbesuch von ANDREA MARIA DUSL, erschienen ~ in Falter 25/97.

Paul Flora lebt in einer kleinen, zartgelb gefärbten Villa oberhalb Innsbrucks. Hinter Bäumen versteckt, ,,gleich neben dem Gasthaus Linde“. Der Taxifahrer, der die steile und kurvige Straße zur Hungerburg rauffährt, weiß, wo Paul Flora wohnt. In Innsbruck wissen alle, wo Paul Flora wohnt. Gleich neben dem Gasthaus Linde. In der Zeit, die der Mercedes den Weg zur Hungerburg raufkeucht, hätte es Flora locker mit der Hungerburgbahn in die Stadt geschafft, oder mit der Seilbahn zum Hafelekar hinauf. Paul Flora wohnt, was Innsbruck betrifft, vorbildlich.
Paul Flora.jpg,,Ich liebe die Berge“, gesteht Flora sein ,,nicht ganz platonisches Verhältnis“ zu Tirols Topographie. ,,Ihre Einsamkeit, ihre bizarre Schönheit, die Verfärbungen im Herbst, die Blumenpracht im Sommer und die verschneiten Wälder im Winter.“ Das Bedürfnis, sie zu attackieren, ihre Gipfel zu erobern, wie es seine Landsleute, die mountainbikenden, snowboardenden und kletternden Tiroler Fexe mit unstillbarem Eifer betreiben, hat er nicht. In aller Bescheidenheit, den Wert des Aufstiegs nicht über den der Aussicht zu stellen, zieht es ihn dennoch zu stürmischen Besteigungen.

Das Zaungatter der Floraschen Villa ist unversperrt, kein Hund bewacht die Zeichnerburg, einzig ein schwarzer Kolkrabe versucht sich als kapitolinische Gans. Ein paar Schritte durch frischgemähtes Gras führen zur Tür, sie steht offen, wie überhaupt Tiroler Türen offen stehen, wenn ihre Besitzer Gäste empfangen.

Paul Flora ist ein eleganter Herr mit schlohweißem Haar, einem pfiffigen Blitzen in den Augen und jenem vom Lachen aufgefalteten Gesichtsgebirge, das nur Südtirolern in die Wiege gelegt wird. Floras Händedruck ist fest und freundlich, aber sein Arm, wie er später nicht ohne bescheidenen Stolz erklären wird, ,,hängt nur mehr an Bandln und Sehnen“, seit er nächtens einmal über eine im Garten deponierte maximilianische Kanonenkugel fiel und sich dabei nachhaltig die rechte Schulter zertrümmerte.

Während Paul Floras Muse türkischen Kaffee brüht, entstoppelt der Zeichner eine Flasche mit kristallklarer Flüssigkeit, die sich als stärkster und feinster Zwetschkenschnaps herausstellt, der je eine Tiroler Hausbrennerei verlassen hat. Wir sitzen umringt von Bildern Roland Topors und Alfred Kubins. Flora hat mehr davon, als die Wände seines Hauses Platz bieten.

,,Ich bin Abonnent des Falter, wahrscheinlich der einzige in Innsbruck.“ Paul Flora beantwortet Fragen, die sein Gegenüber nie stellen würde. Nicht ohne diplomatisches Geschick beweist der Meister der zarten Linien, daß er weitaus mehr Ahnung von den Vorgängen in Wien hat als seine abgeschiedene Existenz auf der Tiroler Alm vermuten ließe. ,,Wien wird immer noch unterschätzt“, schreibt er der Hamburger Zeit ins Stammbuch. ,,Wenigen ist bekannt, daß Schnitzler, nicht Joyce, den inneren Monolog erfunden hat, und daß hinter abbröckelnden Fassaden einige Nebensachen wie die Psychoanalyse, die Zwölftonmusik, das Wittgensteinsche Gedankengebäude, ein Chimborasso der Literatur wie ,Der Mann ohne Eigenschaften‘ und noch viel dergleichen mehr entstanden ist, während man anderswo womöglich nur einige bedeutende Handelsgesellschaften gründete.“

Nicht nur in seiner Essaysammlung ,,Dies und das“ plaudert Paul Flora lieber über andere (etwa Saul Steinberg, Fritz von Herzmanovsky-Orlando oder Charlie Chaplin) als sich selbst – und verrät damit mehr über sich als andere je über ihn sagen könnten. Flora spricht klar, seine Sprache ist unverfälscht und ehrlich, sein Dialekt Tirolerisch, die Färbung Vinschgauerisch, mit dem Ton der Stadt Glurns, jener kleinsten Stadt Tirols, die die Familie der Floras erzeugt hat.

In Glurns wird Flora 1922 als italienischer Staatsbürger geboren. Sein Vater, ein Arzt, zieht mit der Familie 1927 nach Innsbruck. Dem italienischen Schulsystem will er seine sieben Kinder nicht anvertrauen. Der Weg nach Innsbruck führt über Matrei, wo der Großvater mütterlicherseits Besitzer einer noblen Pension im ,,Schweizer Stil“ ist. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie sind hier versprengte Reste des alten Österreich versammelt, die sich ,,zwischen gipsernen Kaiserbüsten und ungemein geschwungenen Petroleumlampen“ dem süßen Studium der Melancholie hingeben. Für eine Baronin besorgt Flora Schönheitswässerchen, einer von spiritistischen Neigungen heimgesuchten Dame stellt er allabendlich eine Sitzgelegenheit in die Tiroler Dämmerung, um ihr die Konversation mit dem dahingeschiedenen Gemahl bequemer zu gestalten. Begegnungen dieser dritten Art erzeugen die nachlässige Eleganz Floras, die stets dann durchblitzt, wenn er sich knorrig und alpin gibt.

Als 15jähriger hat Flora jenes Schlüsselerlebnis, das ihm den Weg zum Künstler eröffnet: Er sieht erstmals Zeichnungen von Alfred Kubin. ,,Sie waren mir durchaus vertraut, denn ich kannte aus Mals und aus Matrei das Milieu und die in ihm handelnden Figuren; diese Welt überraschte mich nicht im geringsten. Ich wußte, ich will Zeichner werden.“ Feriengäste aus Bremen entdecken in den frühen Arbeiten Floras Talent und leiten ihre Erkenntnisse an Otto Modersohn weiter, der zum Besuch einer Kunstgewerbeschule rät. An der Innsbrucker Universität frequentiert der 16jährige Gymnasiast einen Aktzeichenkurs und gewöhnt sich eine angemessene Distanz zu den von ihm dargestellten Figuren an: Das Modell ist ein hageres Wesen mit Halbmaske, eine Dame aus der Innsbrucker Gesellschaft.

Von Innsbruck und seiner Bourgeoisie leben muß der Glurnser nie. Flora schlägt sich in der Münchener Akademie der Klasse Olaf Gulbranssons durch, ohne dem Meister je zu begegnen, ,,weil weder er noch ich je in sie hineinschaute“. Dem Krieg kann er sich bis 1944 mit Hilfe komplizierter Unternehmungen fernhalten. Die größte Militäraktion, so erinnert sich Flora, war das das ängstliche Durchmessen des schönen Weinviertels im Laufschritt. 1947, seit damals lebt er in seinem Haus auf der Hungerburg, hat Flora in Wien seine erste österreichische Einzelausstellung. In der Neuen Galerie, der jetzigen Galerie nächst St. Stephan. Die Aufnahme in den Art-Club ist die erste Folge.

Ab 1949 illustriert Flora das Feuilleton der amerikanischen Neuen Zeitung. Diese Zeichnungen machen Daniel Keel, den Gründer des Diogenes Verlags, auf ihn aufmerksam. Die beiden treffen einander in Zürich, ,,in einem altmodischen Haus, in einem altmodischen Zimmer, darin ein altmodisches Bett, darunter ein Persilkarton, und in diesem war der Diogenes Verlag“. Bis heute blühen die Früchte dieses ersten Teffens als erfolgreiche publizistische Zusammenarbeit.

1957 schließlich ereilt ihn der Ruf der Hamburger Zeit, die einen politischen Karikaturisten sucht. Er nimmt den Auftrag unter der Bedingung an, ,,daß mir niemand dreinredet“. Kaltes Entsetzten schlägt ihm entgegen. ,,Die haben gedacht, ich wohn’ hier auf der Alm, und ich kann ja nicht wissen, was sie wollen.“ Daß Neue Zürcher, Frankfurter Allgemeine und Weltwoche auch im Schatten der Nordkette gelesen werden, ist ihnen bis dahin unbekannt. 14 Jahre prägt Flora die politische Karikatur des deutschen Wochenblatts und zeigt sich an der Waterkant nicht öfter als einmal im Jahr, um mit der Gräfin Dönhoff zu soupieren und über nicht weniger als ,,dies und das“ zu parlieren. Daß Richard von Weizsäcker ihm das große Bundesverdienstkreuz für Verdienste um die politische Kultur in Deutschland um den Vinschgauer Hals legt, kommentiert Flora mit kokettem Stolz: ,,Ich versteh’ ja überhaupt nichts von Politik.“

Von den annähernd 3000 Zeichnungen, die Flora in Hamburg veröffentlichte, existieren heute nur noch wenige. ,,I bin nach hinten in Garten gangen, hab an großen Haufen g’macht und sie alle ang’schirrt.“ Weil er sie für die Zeitung entstehen ließ und nicht für die Wände von Galerien oder Privatwohnungen, opferte Flora sie dem Feuer.

Mit der gleichen Rigorosität arbeitet Flora noch immer. Er sitzt täglich vor Mittag an seinem Tisch und zeichnet. Setzt behutsam und doch kraftvoll Strich um Strich aufs Papier. Was nicht gelingt, landet im Papierkorb: Flora ist ein deflationistischer Handwerker. Bescheiden, klug und von verschmitzter Weisheit. Er hat ein befreiendes Vergnügen daran, über sich und andere zu lächeln, ohne jemandem weh zu tun. Mit milder Melancholie schlägt er, der sich stets als Unzeitgemäßen sieht, den Nagel der Zeit zärtlich auf den Kopf. ,,Flora ist nicht ohne Traurigkeit“, schreibt Friedrich Dürrenmatt zum Album ,,Trauerflora“. ,,In seinem Werk sind Welten untergegangen, und wir ahnen, daß auch wir untergehen.“ Von apokalyptischer Zukunftsvision ist Flora dennoch weit entfernt, lebt er doch sowieso ,,optisch in der Vergangenheit“. Aus pragmatischen Gründen: ,,Weil sie zeichnerisch mehr hergibt.“
,,Paul Flora, Hungerburg“, eine ewige Adresse.

©Andrea Maria Dusl

35 Partagas Superfinos

ILLUSTRATION · DREI ZEICHNER
Wie eine Zeichnung entsteht
ANDREA DUSL
Falter, 4. Juni 1997, 20-Jahre-Beilage pag. 90. Zum Fest „20 JAHRE FALTER“ am 5. , 6. und 7. Juni in der Tribüne Krieau .

Ein strahlender Montagmorgen: Die Zeiger meiner sowjetischen U-Boot-Kommandantinnen-Uhr stehen auf elf Uhr zwölf und ein gut geübtes Ritual nimmt seinen Anfang. Der würzige Geruch einer vollen Kanne frischgebrühten „Alvorada“-Kaffees und ein bekanntes Rascheln wecken mich aus süssen Träumen: Mein Kammerdiener Jacques öffnet zwei Packungen meiner Lieblingszigaretten „Partagas Superfinos, Serie B, No.2″ und legt die Morgenblätter „Der Standard“, „FAZ“, „profil“, „NZZ“, und „Washington Post“ zur Lektüre bereit. Während ich unter drei vorbereiteten Schneidereien – meist „Armani“, „Lang“ oder „Schneidermeister Dick aus Gföhl“ – wähle, füllt Jacques mein „Zippo“ mit frischem Kerosin. Die Morgenmusik besteht stets aus bekannten Klängen: „Low Down“ von J.J.Cale bei bedecktem Himmel, „Crosstown Traffic“ von Jimi Hendrix bei Schneefall oder Hagel, die „Hymne der Sowjetunion“ bei strahlendem Sonnenschein wie heute.

Zur Einstimmung auf den Arbeitstag rauche ich zwei „Partagas Superfinos“, wobei mich Jacques vergebens auf die Gefahren der Nikotinsucht hinweist. Das erste Häferl Kaffee begleitet mich durch die Lektüre der Montagmorgen-Publikationen, das zweite nehme ich während des Studiums einer von Falter-Schlußredakteurin Michaela „Babsi“ Streimelweger verfassten Depesche zu mir. In knappen Worten informiert sie mich darin über Titel und Autor des zu illustrierenden Textes. Jacques stellt eine telephonische Verbindung in die Falter-Redaktion her, weil aus den vorliegenden Millimetervorgaben nicht eindeutig hervorgeht, ob ich zum Anfertigen einer hoch- oder querformatigen Zeichnung eingeladen werde.

Die dritte Tasse Kaffee und mittlerweile fünfte „Partaga Superfino“ widme ich dem Lesen des beigelegten Textes. Einige stilistische und mehrere inhaltliche Inkongruenzen ignoriere ich aus Mangel an Zeit. Jacques hat inzwischen die Formatfrage geklärt und legt den Transparentblock „Diamant Extra Spezial, Nr. 105 glatt, 90/95 Gramm pro Quadratmeter, DIN A3″, den Minenblei „Faber Castell TK-Fine 9717, Stärke 0,7″ zwei Tuschestifte „Staedtler marsmagno 2° in den Stärken 0,35 und 0,18 sowie eine, auf Atomdicke zugeschärfte Rasierklinge bereit. Die Arbeit kann beginnen.

Jede von uns kann zeichnen, das meine ich ganz ernst und ohne polemischen Unterton. Wie nervenzerüttend und von Termindruck, aufgepeitscht das Zeichnen einer Falter-Zeichnung sein kann, weiß außer Rudi [Klein] und Tex [Rubinowitz] allerdings niemand. Sie selbst würden es nie zugeben. Das Zeichnen einer Falter-Zeichnung ist tausendmal anstrengender als das Verfassen eines Falter-Artikels. Ich weiß das, weil ich beides ausprobiert habe. Nichts ist so furchtbar Herz-Kreislauf-belastend, wie das Zeichnen einer Falter-Zeichnung. Einer Falter-Zeichnung sieht man nämlich sofort an, ob sie genial ist oder ein Superschas, einen Falter-Artikel muß man zumindest vorher durchlesen.

Aus einem einzigen Grund konsumiere ich die gefährlich vielen Zigaretten und die enormen Mengen an Kaffee: Jacques, der einzige mögliche Zeuge meiner Qualen soll im Glauben bleiben, meine Aufgerührtheit käme von den aufgenommenen Stimulantia. Jacques, ein Vorbild an Verschwiegenheit zieht sich daher aus Contenance in den Südtrakt meines weitläufigen Appartements zurück, um mir ja nicht das Gefühl zu geben, Mitwisser der zeichnerischen Unruhe zu werden. Der schwierigste Part im Zeichnen einer Falter-Zeichnung ist das Ausdenken der Falter-Zeichnung: Eine gedankliche Leistung, ähnlich der von Gari Kasparov im Kampf gegen Deep Blue. Aus zweieinhalb Milliarden Illustrations-Möglichkeiten muß ich die Beste auswählen. Meine Großhirnrinde leistet jetzt Schwerarbeit. Im Aschenbecher „Eins“, einem blauen Produkt, das ich einst im Stadionbad mitgehen habe lassen, liegen jetzt schon 17 Kippen, im Aschenbecher „Zwei“, einem schwedischen Designerstück, fünf ausgedämpfte und zwei brennende „Partagas Superfinos“.

Ich läute nach Jacques, es ist unser vereinbartes Zeichen, daß die Kaffeekanne Ieergetrunken ist. Mein treuer Diener bringt mir flugs frisches Coffeein und der fade Teil des Morgens kann beginnen. So anstrengend nämlich das Ausdenken einer Falter-Zeichnung ist, so einfach und bizarr unkompliziert, ja geradezu watscheneinfach ist das Zeichnen einer Falter-Zeichnung. Ich muß das ausgedachte Bild nur vom Kopf aufs Blatt projizieren und nachzeichnen. Ich male also ein Kastl in der Größe des gewünschten Formats in die Mitte vom Transparentblock und beginne links unten mit dem Anbringen von Strichlein um Strichlein, Linie um Linie, Zacke um Zacke, Kringel um Kringel. In affenartigem Tempo wandert meine „Zeichenhand“ nach rechts oben, während die „Blockhaltehand“ eigenartige Bewegung durchführt, über die ich keine willentliche Kontrolle habe, weil sie aus einem mir unbekannten Teil des Stammhirns kommt, im Einklang mit der „Zeichenhand“ jedoch fantastisch gerade, höchst leinwand verbogene oder was sonst noch an notwendigen Linien aufs Papier zaubert.

Nach zehn bis elf Minuten ist der ganze Spuk vorbei. Jacques bringt mir ein Frottee-Handtuch und eine neue Packung „Partagas Superfinos“. Die fertige Falter-Zeichnung muß jetzt nur mehr mit grauen Filzstiftpinseln der Marke „Соріс sketch, Cool Gray No. 3 bis No. 7″ getönt werden. Das geschieht auf der Rückseite der halb-transparenten Seite, erstens verwischen sich dabei nicht die komplizierten Tuschestrukturen und zweitens erzeugt es jenes einzigartig seidige Chiaroscuro, für das ich nicht umsonst wahnsinnig viel Kohle aufs Konto gebunkert bekomme. Das graue Gepinsel ist nach vier Minuten beendet. Mit einem Paar Scissoren schnipple ich noch verräterische Nebenzeichnungen, meist Buchstabenkombinationen, die im Wort AUTO gerne vorkommen, weg und klebe das fertige Werk auf ein billiges, aber strahlend weißes Tuschblatt.

Jacques bringt mir meine auf Hochglanz polierten Schuhe, steckt die Falter-Zeichnung in eine schwarze Mappe mit rotem Gummizug, diese in meinen Rucksack, hilft mir beim Schultern desselben und begleitet mich in den Hof. Dort wartet mein Mountain-Bike mit, von Jacques frisch aufgepumpten Reifen, kontrollierten Bremszügen und vorgewärmtem „Rennsattel schmal“. Weder einem Boten noch der Post, und auch Jacques nicht, würde ich die wertvolle Fracht anvertrauen. Ich bringe meine Falter-Zeichnung selbst im stärksten Regen persönlich vorbei. Außerdem würde ich es mir nie nehmen lassen, im Falter jenen Eindruck von Lonely-rider-is-bringing-the-hottest-news zu erzeugen, für den auch mein Freund und Nudlaug Heribert Corn – der mit der knatternden BSA – zu Recht berühmt ist. Im Falter erwartet mich Empfangs-Chef Josef Egger mit einem freundlichen „El Hamdullilah, Königin Dusula!“ und Michaela „Babsi“ Streimelweger mit einem, nur uns beiden vertrauten „Seawas, Triksi“.

Ei, Ei


Falter 20/97, 14.5.1997

Und es begab sich, daß gerade Samstag war und Nachmittag, mein Eiskasten vor Leere gähnte und seine Besitzerin mit knurrender Stimme zum Nahversorgungsimperialisten Billa schickte. Eier, waren seine Worte, hol mir Eier! Die Eiskastenbesitzerin hirschte also, wie ihr befohlen, ins Paradies der Nahversorgung, Milch und Semmerln kaufen, Putenpariser und: Eiskastens geliebte Eier. „Tierschutzgeprüft und frisch“ beschrieb sie das Etikett, von „freilebenden Hühnern“ gelegt, „aus biologischer Landwirtschaft“. Mein Eiskasten war zufrieden. Er weckte mich Sonntag spätvormittags nach ausgiebigem Kühlen mit stolzen Brummen und hieß mich, seinem Blechbauch ein Frühstücksei zu entnehmen. Sein Freund, der Herd half mir beim Kochen, die Kollegen vom Geschirr stellten Becher und Löffel zur Verfügung. Kumpel Tisch zog sein bestes Tuch an und lud Salz und Pfeffer auf seine gesellige Platte.

Die Eiskastenbesitzerin war glücklich, wie selten. Mit brillianter Technik schlug sie dem Ei die Kalotte ab und begann mit mit der Erforschung seines Inneren. Goldgelb und zäh waren seine Dotter. Und bald verspeist. Seine Dotter? Ja, natürlich: Es waren Zwillinge im guten Ei. „Ja! natürlich“ – so ist das mit Gentechnik, Hormonen und Werbeslogans: Sie machen Eiskastenbesitzerinnen unsicher.

Bankdirektoren erschießen sich meist selbst. Ihre blitzblanken Colts, Smith & Wessons und was sich sonst noch zum Auslöschen eignet, bewahren sie – wo sonst – in meterdicken Safes auf. Der Mann von der Straße hat´s da schwerer. Seine Knarre liegt meist bieder getarnt unter Stapeln von schlecht geführten Unterhosen im ehelichen Wäschekasten. Helmut Z. griff sich also Papas 357er Magnum und einen Stapel Munition: Denn wo eine Waffe ist, ist auch für einen Fünfzehnjährigen ein Weg.

Karl Ritter ::: Im Land der Slidegitarren

Karl Ritter, der als Prinz Karasek für Dr. Ostbahn die Stromgitarre würgte, ist ein guter Mann. Und „Dobromann“ heißt jenes Soloprogramm, das den vielseitigen Gitarristen und seine sechssaitige Dobro dieser Tage wieder einmal gemeinsam zu Gehör bringt.

Andrea Maria Dusl für Falter 12/97.

„Die Dobro … sie ist mysteriös … voll Seele …
manchmal klingt sie wie ein bloßfüßiger Junge,
der die dreckige Straße runter zum Fischteich latscht.
Dann wieder ist sie diese unglaublich
schöne Frau, die du nie kriegen wirst.“
John Fogerty

Karl Ritter.jpgZu Beginn unseres Jahrhunderts kommen fünf tschechische Brüder ins sonnige Kaliforien und verdingen sich in Ermangelung von Angeboten aus dem Tellerwäscher-Busineß als Gitarrenbauer. Der älteste des Brüder-Quintetts mit dem Namen Dopyera erfindet 1928 mehr nebenbei als gezielt eine Gitarre mit mechanischer Schallverstärkung (die elektrische Gitarre war damals nur in marginalen Ansätzen entwickelt). Um dem Kind einen Namen zu geben, schnitzen die böhmischen Entrepreneurs aus DOpyera BROthers ihren Firmennamen: Dobro. Der schnarrend metallische Klang macht seinen Weg durch die Spelunken des amerikanischen Kontinents bis in den Weihetempel nationalen Stolzes, die „Grand Old Opry“ in Nashville, Tennessee. Wie die Dobro (auf böhmisch heißt dobry „gut“) aussieht, weiß im Land der Hamburger jedes Kind, Europäern sei das Dire-Straits-Cover „Brothers in Arms“ in Erinnerung gerufen. Den unverwechselbaren Klang des sechssaitigen Aluminium-Holz-Hybrids hat Ry Cooder im Soundtrack zu Wim Wenders „Paris, Texas“ und unauslöschlich mit dem Genre Road-Movie verknüpft.
Dobromann Karl Ritter ist nicht glücklich, wenn man ihn mit Ry Cooder vergleicht, auch die Bezeichnung „Gitarrist“ hat für den Stockerauer Musiker nicht mehr als biografischen Stellenwert. Die inzwischen abgelegte Rolle des Prinz Karasek in Dr. Kurt Ostbahns Chefpartie hat ihm zwar einerseits eine breite Öffentlichkeit erschlossen, ist aber andererseits mit der Punzierung „Stromgitarrentier“ versehen. Viel gerechter wird man Karl Ritter und den Weiten seiner musikalischen Landschaft, wenn man ihn vom großen Bogen sprechen läßt. Mit einem großen Bogen hat alles angefangen. Einen großen Bogen nämlich muß der Sechsjährige beim Geigenlernen führen. Vater Ritter, „ein eher durchschnittlicher Mandolinspieler“ hält den kleinen Blondschopf zum Studium der Violine an. In Gegenwart der Mutter kann sich Ritter schon mehr entfalten: „Die Mutter war terrisch auf die Ohren, do hob i donn a Stund“ improvisiert auf da Geigen, die hat des net vastondn, da hob i des letzte Blattl von dem Notenheftl aufg’schlong und mi über irgend a Zigeunerstückl wegimprovisiert.“

In die Gitarre verliebt sich Ritter während einer Familienfeier. Fasziniert vom stählernen Sound der tiefen E-Saite versenkt er sich stundenlang in die Klanggebilde, die er der billigen Westerngitarre seines Cousins entlockt. Mit dem Erlös eines alten Cassettenrecorders finanziert sich Ritter seine erste eigene Gitarre, findet Anschluß an Gleichgesinnte und verbringt mit ihnen Tage und Nächte in muffigen Probelokalen. All das entspricht dem oftgemalten Bild des österreichischen Musikers, der mit beiden Händen die Nacherzählung des amerikanischen Traums von der Garagenband, die’s irgendwann einmal schaffen wird, ins kleinkarierte Tagebuch schreibt. Aber vielleicht ist Karl Ritter schon damals etwas „eigener“ gewesen als die anderen.

Mit der Kenntnis der Akkordfolgen des Schikurshits „House of the Rising Sun“ zu imponieren liegt dem Elektrikerlehrling Ritter jedenfalls so wenig am Herzen, wie die Girls mit dem knurrenden Riff zu „Smoke on the Water“ flachzulegen. (Zwischen diesen beiden Eckpfeilern spannt sich jene schmale Brücke, die die Stromgitarrehelden der Popodrom-Generation beschreiten müssen, um in Wien und Umgebung auch nur annähernd so etwas wie „an Auftrag“ zu haben.)

Die Suche nach dem Eigenen führt Ritter in fremde Schluchten. Die Expeditionen in den Saltus Zappaensis führen in über Edgar Varese (das große Über-Ich Frank Zappas) zur Zwölftonmusik. Ritter hat außer Wurstresteln und ausgegrabenen Kartoffeln nichts zu beißen, versteigt sich aber dennoch in die hohen Wände, in die ihn etwa Ernst Kreneks Musik lockt. Monate verbringt er damit, dem ersten Satz von Kreneks Dritter Symphonie eine brauchbare Transkription abzuquälen. (Die gedruckten Noten hätten in der Musikalienhandlung zweieinhalbtausend Schilling gekostet: viel zuviel für einen Suchenden ohne Geld, aber mit Zeit wie Heu.)

Den Ausflug Richtung Punk vermittelt ein Freund, der 1976 enthusiastisch von der neuen Musik aus London berichtet. „Wie geht das“, fragt sich Ritter, eben noch auf dem technischen Trip, „wie krieg‘ ich das auf der Gitarre zusammen, diese Energie, die die Clash da rüberwachsen lassen, was passiert da?“

Zur vielleicht radikalsten Reise schließlich lädt in Willi Resetarits ein, als er Ritter den „Prinz Karasek an der Stromgitarre“ in Ostbahn-Kurtis Chefpartie anbietet. In dem Maße, in dem sich Willi Resetarits in sein Alter ego Ostbahn verwandelt, muß auch Ritter in seinem Part als proletarischer Gitarrenwichser aufgehen. Kein Wunder, daß es ihn nach Jahren des Schwitzens unter Scheinwerferorgeln wieder in die Freiheit der eigenen Musik zieht. Ritter schließt sich etwa mit dem Pianisten Pernes und dem Ziehharmonikaspieler Eder von der Ausseer Bradlmusi zusammen, um „Volksmusik“ zu machen, und spielt die Filmmusik zu Nikolaus Leytners „Schwarzfahrer“ ein.

Als Ritters ambitioniertestes Projekt hingegen darf die Soloperformance „Dobromann“ gelten, die 1995 auch auf Silberdeckel geschnitten wurde und alle jene musikalischen Bilder, flüchtigen Klangskizzen und Soundaquarelle versammelt, die der Gitarrist seit dem ersten verliebten Schrammen über die E-Saite entworfen hat. Die Dobro ist dabei nur eines der Transportmittel. Während Finger und Bottleneck dem Instrument mehr an Intensität entreißen, als die Grenzen des Genres „Slide Guitar“ vorsehen, holt sich Ritter per Fußpedal noch Samples und Dubs aus dem virtuellen Raum, um das einzige zu halten, was ein Musiker sich und seinem Publikum versprechen kann – Spannung. Ritter: „Das, was im Kopf ist, umzusetzen und zu akzeptieren, was dann draus entsteht. Mit Spannung und Entspannung arbeiten, auf was draufkommen. Darum geht´s mir vielleicht. Vergiß die ganzen Blue Notes.“

Blue Moon

Ein Gespräch mit Andrea Dusl, Wiener Zeitung, 22. Nov. 1996

Das Café Lapinski in der Wiener Marc-Aurel-Straße atmet den Charme von Bars in Brüssel, Paris oder Stockholm. Andrea Dusl hat größere Augenringe als andere Mitdreißigerinnen. Noch dunkler als diese Spuren der letzten Nacht ist nur ihre St. Petersburger Kapitänsjacke. Im Café Lapinski ist es nicht kalt, dennoch hat Dusl den Kragen hochgestellt.

Auf ihre Empfehlung löffeln wir Muligatawny, eine indische Suppe, die Dusl zur Geschmacksverstärkung mit einer unglaublichen Dosis von Chillipaste verschärft.

„Wiener Zeitung“: Sie schreiben, zeichnen, lomografieren, jerzt machen sie Film, was sind sie eigentlich, Journalistin, Illustratorin, Lomografin oder Filmemacherin?

Andrea Dusl: Ich weiß es selbst nicht. Es hat sich einfach ergeben. Das eine hat sich aus dem anderen ergeben. Um ein Sprichwort abzuwandeln – ich tanze nicht auf vielen Kirtagen, es ist eigentlich alles ein einziger Kirtag.

„W.Z.“: „Blue Moon, die Abenteuer von Steinyo Pichler“ ist einer von elf Filmen, die Michael Glawogger in seinem Film „Kino im Kopf“ porträtiert. War das ihre erste cinematografische Arbeit?

Andrea Dusl: Eigentlich nicht. Die Geschichte hat vor einigen Jahren mit einer Fotografie begonnen. Rainer Egger und ich sind zum Pferderennen gegangen. Ich habe mit einer alten Canon und einem ganz langsamen Schwarzweiß-Diamaterial fotografiert. Eines dieser Bilder (siehe großes Bild oben) hat in mir eine Flut von Geschichten ausgelöst. Das sollte mein Held sein, der Mann auf dem Foto, der über die Schulter zur Seite sieht. Also sind Rainer und ich am nächsten Wochenende in die Slowakei gefahren, um Geschichten für diesen Mann zu finden. Aus den Erlebnissen, die wir dort hatten, hat sich die Geschichte für einen Film herausgelöst. Ich habe zunächst kurze Szenen geschrieben, zweiminütige Episoden, so eine Art filmischer Schnappschüsse schwebte mir da vor.

„W.Z.“: Haben Sie versucht, diese Skizzen zur Förderung einzureichen?

Andrea Dusl: Zwei von ihnen. Ich nannte das Ding „In 80 Tagen um die Welt, Tag 1 und Tag 2″. Die Stadt Wien stellte mir 20.000 Schilling zur Verfügung. Das Material schenkte mir Michael Synek, zwei Rollen 35 mm, schwarzweiß. Mein Compañero Peter Zeitlinger, der beste Kameramann, den ich kenne, lieh sich eine alte Wochenschau-Arri. Wir fuhren los, ein kleines Team von professionellen Filmmenschen und ich. Wir drehten vier Minuten Spielfilm.

„W. Z.“. Wie ging’s dann weiter?

Andrea Dusl: Peter Zeitlinger und ich haben das Material in einem obskuren Hinterzimmer in fünf langen Nächten geschnitten, vertont und um – für meine damaligen Verhältnisse – ungeheuer viel Geld kopieren lassen. Mit diesen zwei kleinen Filmen habe ich dann Subventionen für vier weitere Episoden aufstellen können.

„W. Z.“: Sind das die Szenen, die in „Kino im Kopf“ zu sehen sind?

Andrea Dusl: Nein. Aus diesen zwölf Minuten Film hat sich erst die Idee zum Roadmovie „Blue Moon“ entwickelt. Die Geschichte einer Odyssee in den Osten, der Sehnsucht nach Frauen, nach dem Meer. Ich bin mit meinem Hauptdarsteller nach Polen, in die Slowakei und die Ukraine gefahren. Dort hat sich unsere Geschichte erst geschrieben. Dieses Drehbuch gibt es, das wollen wir verfilmen.

„W. Z.“. Wurden die Szenen für „Kino im Kopf“ extra gedreht?

Andrea Dusl: Ich habe drei exemplarische Szenen aus meinem Buch ausgewählt und umgeschrieben, damit sie, auch aus dem Zusammenhang gerissen, ihre Geschichte erzählen können. Leider sieht man in „Kino im Kopf“ nicht mehr viel davon. Die Stimmung, das Spiel, der Rhythmus unserer Arbeit ging in der Montage verloren. Wir haben unsere Geschichte nicht wiedererkannt.

„W.Z.“ Sind sie enttäuscht?

Andrea Dusl: Enttäuscht? Nicht wirklich. Ich habe es befürchtet. Beim ersten Sehen war ich allerdings entsetzt. Unsere Arbeit, die fertigen Szenen, das war alles noch wunderbar. Das war noch unser Film.

„W. Z.“: Wie geht es weiter mit „Blue Moon“?

Andrea Dusl: Ich war gerade in Paris, dort sind sie sehr interessiert an solchen Geschichten Sie ist nicht mehr nur im Kopf, sie ist auch auf Papier und in den Köpfen anderer und, wenn nicht alle Stricke reißen, bald auch auf Leinwand. 

Vorerst jedoch sind nur Bruchstücke von „Blue Moon“ in dem Film „Kino im Kopf“ zu sehen, der zur Zeit im Metro-Kino in Wien läuft.

Regie und Kamera: Michael Glawogger. Schnitt: Christof Schertenleib, Musik: Armin Pokorn, Ton: Ekkehart Baumung.

Andere Teile für Kino im Kopf“ lieferten Ip Wischin, Willy Puchner, Carl Andersen, Christoph Mayr, Viktor Tremmel, Hans Weingartner, Hans Hermann Fink, Susanne Strobl, Richard Blue Lormand, Peter Budil und Boris Schafgans.

Mitgewirkt haben Rainer Egger, Gabriela Skrabakova, Andreas Sobik, Tex Rubinowitz, Thomas Kussin, Johannes Silberschneider, Barbara de Koy u. v. a.

Zu den Abbildungen:
oben: Rainer Egger als Steinyo Pichler
unten links: 1988, Hotel Modra, Slowakei
unten rechts: 1996, am Stadtrand von Odessa

Weiße Nächte in Piter

Piter.jpg„…welch ein Unterschied ., schrieb Nikolaj Gogol 1836, Moskau ist bis heute ein langbärtiger Bauer, Petersburg dagegen ist schon ein gewandter Europäer“. Gogols Einschätzung hat auch nach 160 Jahren nichts an Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil: Seit dem Ende des Krieges und der Perestroika ist die Stadt am Meer wieder in ihre alte Rolle, Rußlands Tor zum Westen, geschlüpft.

St. Petersburg wurde im Vergleich zu anderen Metropolen erst relativ spät erbaut. Am 16. Mai 1703 ertönt mitten in den Sümpfen, die sich die Newa und der botanische Meerbusen teilen, der Lärm von Äxten und Sägen. Wenig hier existiert noch von einem, von seinen finnischen Einwohnern verlassenen Dort. Nach holländischem Vorbild lässt Zar Peter 1. ein „Fenster nach Europa“ in milde errichten. Die neue Stadt erhält den Namen „Peterburg“ (mit holländischer Aussprache: „Pieterburg“). Mit Ausnahme der bolschewistischen Zeit, in der die Stadt der Zaren und Leningrad hieß, behält die Newametropole diesen Namen. Die Russen sprechen seit einer Abstimmung während der Perestrojka wieder von ihrer ehemaligen Hauptstadt als „Sent/Sankt Peterburg/Pieterburg“. Die Petersburger selbst nennen ihre Heimatstadt schlicht „Piter“.
Was er von Piter halte, fragen wir Andrej, den Fahrer des illegalen Taxis. „I chave no been where else. I was born chere. I love it. It is my city. Wonderful.‘

Andrej berechnet einen fairen Preis für die halbstündige Fahrt ins Zentrum. Drei Dollar, den Preis für ein billiges Menü. Das ist noch immer mehr, als die legalen Taxen verrechnen, aber eines von denen zu erwischen, gleicht der berühmten Suche nach dem Heu im Nähnadelhaufen. Außerdem ist Andrej hier vorm Hotel Pribaltiskaja, einer gewaltigen Bettenburg stationiert. Andrej war Kunststudent in den Zeiten vor der Perestrojka, aber da sei es schwierig gewesen, erzählt er uns nicht ohne Wehmut. Zuviel Regeln, fade und mühsam, und jetzt sei er eben Taxifahrer. Ob wir schon gehört hätten, fragt uns Andrej in seinem selbstgestrickten Englisch, es seien gerade viele Westeuropäer da, verrückte Leute, die mit russischen Kameras herumphotographieren. „Sure“, sagen wir, „we know“, und zücken unsere Lomos.

Andrej hätte auch gerne eine Kamera, aber wenn schon, dann eine japanische. Unsere Obsession für die „Lomo-Kompakt“ hält er für dermaßen schrullig, daß sein ungläubiges Kopfschütteln kein Ende nehmen will. Unser Argument, daß wir alle mit Nikons, Canons und Olympus-Kameras großgeworden sind, die Lomo aber eine Weltanschauung für uns sei, überzeugt den verwirrten Chauffeur schließlich zumindest in Ansätzen.

Look“, sagt Andrej, „good car, Gemany car“, und deutet auf einen Konvoi schwarzer und dunkelblauer BMW’s und Mercedes‘, die uns mit aberwitziger Geschwindigkeit überholen. „Mafia people, rich!“ .

„Don’t worry, Andrej“, we love your Lada“, streicheln wir seine komplizierte russische Seele. Unser Taxifahrer grinst wieder.
„Okay, this is Newskij Prospekt.“ Wir halten vor einem blaugestrichenen Palast auf der größten Avenue St. Petersburgs. Im dritten Stock des Gebäudes hat sich jenes Fachgeschäft für Photoapparate versteckt, auf das ein kleines Schild am Portal nur einen Hinweis für lnsider geben kann. Alte Plakate und Lomokalender hängen an den Wänden, eine Vitrine präsentiert kostbare Kameras. Unter ihnen ist ein Unterwassergehäuse für die „Lomo Kompakt“. Das Ding ist seltener als Bilder von Van Gogh, und man weiß das hier.

„Sorry, only for museum, no can buy this…., only 200 piece existing in chole russia, but when you find, bring chere, we pay you good price“, sagt der Direktor des Photogeschäftes. Der Mann ist unser Verbündeter. Er weiß, wovon er spricht, wenn er mit leuchtenden Augen und zitternden Händen zärtlich über das schwarze Gehäuse einer alten Lomo streicht. Wir werden wiederkommen, um abermals nach Lomozubehör fragen.

„Kummts, hau ma si in die U-Bahn“ schlägt ErIch vor, des is a Wauhnsinn, de U-Bahn do“. Erich, der für seine russischen Frisörkollegen Haarscheren aus feinstem Stahl mit im Gepäck hat, drängt uns zu einem Petersburger Faszinosum, das es in sich hat. Einem großen Ungeheuer gleich, saugt der Eingang zur Metrostation Menschenmassen in seinen gierigen Transportrachen. Auf vierspurigen Rolltreppen geht es 50 Meter in den Bauch der Stadt. Allein die Bahnsteige da unten sind so lang, wie bei uns die Strecken zwischen den Stationen. Mit dem schnellsten Transportmittel St. Petersburgs unterqueren wir Flüsse und Kanäle, um tief unter dem schlammigen Grund der Stadt eine andere Insel zu erreichen.

Im „Planetarium“ ist inzwischen die Hölle los. Neben dem „Tunnel“ ist das der heißeste Club der Stadt. Unter Tags besuchen Schulklassen den Ort, um über Sterne und Kometen, Asteroiden und Sonnenfinsternisse zu erfahren. Heute abend aber brodelt es hier von Besuchern der Lomographischen Ausstellung, von Ravehörnchens und Fernsehteams. Die Wiener und Berliner Lomographen haben dutzende Riesentafeln mit Abertausenden von Lomographien aus Wien, Berlin und Hanoi tapeziert. DJ Amira stimmt die russischen Lomofreunde und die Lomographischen Boys and Girls aus Wien, Zürich, Bedin, Paris und New York mit Easy Listening und Slow Egypt Acid auf eines langen Tages Reise in die Nacht ein. Local Hero DJ Aliosha Freud, NYCLimelightExperte DJ Spooky und DJ The WAZ Exp aus Innsbruck bringen mit Jungle und TripHop die Tanzfläche zum Kochen. Die Lomographen tanzen sich die Sohlen durch und lomographieren sich dicke Schwielen an die Aufziehdaumen.

Abgetanzt besteigen die erschöpften Lomographen ihre Russenbusse, um das Hotel anzusteuern. Die Fahrt endet bei der ersten Brücke. Die ist nämlich hochgestellt. Wie die 20 anderen wichtigsten Brücken der Stadt. Die kurze Nacht in St. Petersburg gehört nämlich den Schiffen. Zwischen 2 und 5 Uhr Morgens heißt es warten. Nicht einmal Feuerwehr und Rettung, von der Polizei ganz zu schweigen, können um diese Zeit die Ufer der einzelnen Stadtinsein überqueren. „Wenn die Brücken hoch sind, öffnen sich die Seelen“, sagen die Petersburger. Weil das so ist, öffnen sich auch die Türen ihrer Ladas, Moskwitch‘ und Wolgas. Auch die Türe unseres Busses bleibt nicht lange verschlossen. Eine kleine feine Straßenparty entsteht. Wodkaflaschen werden zwischen Unbekannten herumgereicht. Nach drei, vier Schlucken gehören auch diese Unbekannten zum engsten Freundeskreis. „That’s the magic of the White Nights“, erklärt uns Anastassija und lehnt ihr Fahrrad ans Brückengeländer. „And no one steals my bike, when the bridges are up“. Anastassija blonde Zöpfe baumeln im milden Nachtwind. Die Designstudentin ist jetzt auch Lomographin. Sie zweifelt zwar an unserem Verstand, weil es für Russen zu den ganz unglaublichen Verirrungen westlicher Menschen gehört, sich fur russische Produkte zu interessieren, die weltumspannende Qualität der Lomomania hat aber auch sie in ihren Bann gezogen.

St. Petersburg ist eine Hafenstadt. Und wie in Hafenstädten üblich, fehlt es nicht an Kaufleuten aller Art. Dima, der sich von seinen Freunden Rotnase rufen läßt, wobei nicht ganz klar ist, ob wir ihm angesichts einer ziemlichen Fuselfahne seine Geschichte mit dem Heuschnupfen glauben sollen, Dima ist Kleinhändler. Er steht am Newskij Prospekt und wartet auf Kunden. Durch den Hinterhof eines, nach Katzenscheisse stinkenden Hauses führt uns Dima in seine Wohnung. Im Kabinett seines Großvaters, des berühmten General Wassilij, wie er uns treuherzig erzählt, hat Dima sein Verkaufslokal eingerichtet. Schwarzer Kaviar, der ungeschlüpfte Nachwuchs kaspischer Störe, im DutyFreeShop nicht unter 36 Dollar zu finden, kann bei Rotnase Dima um zehn Dollar erstanden werden. Daß so nebenbei auch Admiralsuniformen, UBoot-Kommandanten-Chronographen und Eishockeydressen aus guten alten CCCP-Zeiten den Besitzer wechseln. versteht sich von selbst.

Zwei Tage später werden die Zollbeamten am St. Petersburger Flughafen nicht schlecht staunen, was die wahnsinnigen Lomographen so alles in ihren übergewichtigen Koffem auf die Förderbänder der Röntgenschleusen hieven werden. „Good buy, Lady“, ein Beamter klopft stolz auf meine Uhr, anstatt mich wegen Zollvergehens einzulochen, „zhis watch I chan say, very good, all good production from old Sovietunion!“ Sein Gesicht wird von einem breiten Grinsen verzogen. „You come again, I give you adress, my brather sell watch like zhis, but cheaper!“

Klick“ macht es da, aus fünf Lomos.

© Andrea Maria Dusl, geschrieben für die Lomographische Gesellschaft ~1996. Möglich, daß die Geschichte auch im Falter erschien.