Große Stadt, kleiner Mann

Andrea Maria Dusl
Mit alten Aufnahmen von Liedern und Couplets aus deutschsprachigen Metropolen zeigt die CD-Serie „Rare Schellacks“ die Gemeinsamkeit von Wiener Dialekt und Berliner Schnauze: den Großstadthumor.

Sie hatten selten eine künstlerische Ausbildung und wechselten meist vom goldenen Boden des Handwerks auf die dünnen Bretter, die die Welt bedeuten: Volkssänger, Possenreißer, Imitatoren, Witzeerzähler, Vortrags-, Musik- und Gesangshumoristen. Im ersten Drittel unseres Jahrhunderts, zu einer Zeit, in der das Radio noch in den Kinderschuhen steckte und das Fernsehen noch nicht erfunden war, waren sie die Stimme des „Kleinen Mannes“.
Das Münchner Label Trikont hat nach den Sammlungen „Bayern“, „Oberösterreich-Salzburg“, „Wien“ und „München“ fünf weitere CDs der Serie „Rare Schellacks“ herausgegeben. Die seltenen Tonaufnahmen aus den Ballungsräumen der Metropolen Berlin, Dresden, Leipzig, München und Wien wurden digitalisiert und konserviert, aber nicht totrestauriert. Weder das Rauschen der dünnen Grammophonnadeln noch gelegentliches Knistern oder Knacksen wurde herausgefiltert. Das bewahrt dieser Serie den Charme der Genuinität.
Rare schellacks.jpgÖsterreicher, so wird gesagt, tun sich schwer mit dem deutschen Idiom. Trennt uns doch von unseren lieben Nachbarn neben der gemeinsamen Geschichte vor allem die gemeinsame Sprache. Die Emotionen, die der Klang bundesdeutscher Kehlen hierzulange gemeinhin auslöst, oszillieren zwischen Unverständnis und Ablehnung und nähren sich aus dem ebenso tief verwurzelten wie grundfalschen Bewusstsein, etwas Besseres zu sein als die Piefke. Ganz besonders gilt diese Palette an Vorurteilen für die Bewertung deutschen (Nachkriegs-)Humors.
Im Bewusstsein solcher Ressentiments hören sich die alten Aufnahmen populärer deutscher Musik spannender, näher und vor allem tiefsinniger an als so manches, was nach dieser Ära als volkstümlicher deutscher Humorgesang gelten muss. Wiener Dialekt, Berliner Schnauze, Dresdner und Leipziger Mundart und die Weisen aus München verbindet vor allem ein universeller deutschsprachiger Großstadthumor: Mit dem Ausufern der Metropolen wurde aus entwurzelten Bauern, Tagelöhnern und Arbeitern der „Kleine Mann“ – das bitterarme Zielpublikum der großen Stadt. Nicht der Geschmack der Hochkultur prägte das Bild und den Klang der Großstadt, sondern die kleinen Freiheiten der derb bis hintersinnig angelegten Couplets, der dadaistische Todernst heiterer Vorträge und die bittere Trauer, die jeder gute Witz transportiert.
In einem metaphorischen Sinn sind auch die Beispiele der Wiener Schellack-Kompilation „Zoten & Pikanterien“ trotz ihrer manchmal derben („I hab mei Freud mit die Vögln“), meist aber fein codierten („Der Pfannenflicker“ oder „Der Grillenkitzler“) und stets urwienerischen Sprache überregional, großstädtisch und unüberhörbar zeitlos.
Als herausragendes Leitfossil der Trikont-Reihe darf jedoch Karl Valentin gelten. Zusammen mit seiner kongenialen Partnerin Liesl Karlstadt wusste er aus winzigen Funken an Humor Feuerwerke an Weisheit zu entfachen und die bittere Ahnung an einen Weltenbrand in Nonsens zu verdichten. Indem er dem einfachen Volk aufs Maul schaute, sah er direkt hinein in die Köpfe und Herzen der Ängstlichen und Aufgedrehten, der Ausgeflippten und Abgewandten. Allein die Nummer „Valentin singt und lacht selbst dazu“ kann von dieser düsteren Epoche mehr als tausend Bilddokumente zeigen.
Rare Schellacks:
Wien – Zoten und Pikanterien 1906-1932.
Berlin – Großstadtklänge 1905-1950.
Sachsen – Volkssänger 1910-1932.
München – Lieder und Couplets 1901-1934.
Bayern – Szenen und Vorträge 1902-1939.
(Alle bei Trikont/Hoanzl)
„Falter“ 50/99 vom 15.12.1999 Seite 69 Kultur

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