Weiße Nächte in Piter

Piter.jpg„…welch ein Unterschied ., schrieb Nikolaj Gogol 1836, Moskau ist bis heute ein langbärtiger Bauer, Petersburg dagegen ist schon ein gewandter Europäer“. Gogols Einschätzung hat auch nach 160 Jahren nichts an Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil: Seit dem Ende des Krieges und der Perestroika ist die Stadt am Meer wieder in ihre alte Rolle, Rußlands Tor zum Westen, geschlüpft.

St. Petersburg wurde im Vergleich zu anderen Metropolen erst relativ spät erbaut. Am 16. Mai 1703 ertönt mitten in den Sümpfen, die sich die Newa und der botanische Meerbusen teilen, der Lärm von Äxten und Sägen. Wenig hier existiert noch von einem, von seinen finnischen Einwohnern verlassenen Dort. Nach holländischem Vorbild lässt Zar Peter 1. ein „Fenster nach Europa“ in milde errichten. Die neue Stadt erhält den Namen „Peterburg“ (mit holländischer Aussprache: „Pieterburg“). Mit Ausnahme der bolschewistischen Zeit, in der die Stadt der Zaren und Leningrad hieß, behält die Newametropole diesen Namen. Die Russen sprechen seit einer Abstimmung während der Perestrojka wieder von ihrer ehemaligen Hauptstadt als „Sent/Sankt Peterburg/Pieterburg“. Die Petersburger selbst nennen ihre Heimatstadt schlicht „Piter“.
Was er von Piter halte, fragen wir Andrej, den Fahrer des illegalen Taxis. „I chave no been where else. I was born chere. I love it. It is my city. Wonderful.‘

Andrej berechnet einen fairen Preis für die halbstündige Fahrt ins Zentrum. Drei Dollar, den Preis für ein billiges Menü. Das ist noch immer mehr, als die legalen Taxen verrechnen, aber eines von denen zu erwischen, gleicht der berühmten Suche nach dem Heu im Nähnadelhaufen. Außerdem ist Andrej hier vorm Hotel Pribaltiskaja, einer gewaltigen Bettenburg stationiert. Andrej war Kunststudent in den Zeiten vor der Perestrojka, aber da sei es schwierig gewesen, erzählt er uns nicht ohne Wehmut. Zuviel Regeln, fade und mühsam, und jetzt sei er eben Taxifahrer. Ob wir schon gehört hätten, fragt uns Andrej in seinem selbstgestrickten Englisch, es seien gerade viele Westeuropäer da, verrückte Leute, die mit russischen Kameras herumphotographieren. „Sure“, sagen wir, „we know“, und zücken unsere Lomos.

Andrej hätte auch gerne eine Kamera, aber wenn schon, dann eine japanische. Unsere Obsession für die „Lomo-Kompakt“ hält er für dermaßen schrullig, daß sein ungläubiges Kopfschütteln kein Ende nehmen will. Unser Argument, daß wir alle mit Nikons, Canons und Olympus-Kameras großgeworden sind, die Lomo aber eine Weltanschauung für uns sei, überzeugt den verwirrten Chauffeur schließlich zumindest in Ansätzen.

Look“, sagt Andrej, „good car, Gemany car“, und deutet auf einen Konvoi schwarzer und dunkelblauer BMW’s und Mercedes‘, die uns mit aberwitziger Geschwindigkeit überholen. „Mafia people, rich!“ .

„Don’t worry, Andrej“, we love your Lada“, streicheln wir seine komplizierte russische Seele. Unser Taxifahrer grinst wieder.
„Okay, this is Newskij Prospekt.“ Wir halten vor einem blaugestrichenen Palast auf der größten Avenue St. Petersburgs. Im dritten Stock des Gebäudes hat sich jenes Fachgeschäft für Photoapparate versteckt, auf das ein kleines Schild am Portal nur einen Hinweis für lnsider geben kann. Alte Plakate und Lomokalender hängen an den Wänden, eine Vitrine präsentiert kostbare Kameras. Unter ihnen ist ein Unterwassergehäuse für die „Lomo Kompakt“. Das Ding ist seltener als Bilder von Van Gogh, und man weiß das hier.

„Sorry, only for museum, no can buy this…., only 200 piece existing in chole russia, but when you find, bring chere, we pay you good price“, sagt der Direktor des Photogeschäftes. Der Mann ist unser Verbündeter. Er weiß, wovon er spricht, wenn er mit leuchtenden Augen und zitternden Händen zärtlich über das schwarze Gehäuse einer alten Lomo streicht. Wir werden wiederkommen, um abermals nach Lomozubehör fragen.

„Kummts, hau ma si in die U-Bahn“ schlägt ErIch vor, des is a Wauhnsinn, de U-Bahn do“. Erich, der für seine russischen Frisörkollegen Haarscheren aus feinstem Stahl mit im Gepäck hat, drängt uns zu einem Petersburger Faszinosum, das es in sich hat. Einem großen Ungeheuer gleich, saugt der Eingang zur Metrostation Menschenmassen in seinen gierigen Transportrachen. Auf vierspurigen Rolltreppen geht es 50 Meter in den Bauch der Stadt. Allein die Bahnsteige da unten sind so lang, wie bei uns die Strecken zwischen den Stationen. Mit dem schnellsten Transportmittel St. Petersburgs unterqueren wir Flüsse und Kanäle, um tief unter dem schlammigen Grund der Stadt eine andere Insel zu erreichen.

Im „Planetarium“ ist inzwischen die Hölle los. Neben dem „Tunnel“ ist das der heißeste Club der Stadt. Unter Tags besuchen Schulklassen den Ort, um über Sterne und Kometen, Asteroiden und Sonnenfinsternisse zu erfahren. Heute abend aber brodelt es hier von Besuchern der Lomographischen Ausstellung, von Ravehörnchens und Fernsehteams. Die Wiener und Berliner Lomographen haben dutzende Riesentafeln mit Abertausenden von Lomographien aus Wien, Berlin und Hanoi tapeziert. DJ Amira stimmt die russischen Lomofreunde und die Lomographischen Boys and Girls aus Wien, Zürich, Bedin, Paris und New York mit Easy Listening und Slow Egypt Acid auf eines langen Tages Reise in die Nacht ein. Local Hero DJ Aliosha Freud, NYCLimelightExperte DJ Spooky und DJ The WAZ Exp aus Innsbruck bringen mit Jungle und TripHop die Tanzfläche zum Kochen. Die Lomographen tanzen sich die Sohlen durch und lomographieren sich dicke Schwielen an die Aufziehdaumen.

Abgetanzt besteigen die erschöpften Lomographen ihre Russenbusse, um das Hotel anzusteuern. Die Fahrt endet bei der ersten Brücke. Die ist nämlich hochgestellt. Wie die 20 anderen wichtigsten Brücken der Stadt. Die kurze Nacht in St. Petersburg gehört nämlich den Schiffen. Zwischen 2 und 5 Uhr Morgens heißt es warten. Nicht einmal Feuerwehr und Rettung, von der Polizei ganz zu schweigen, können um diese Zeit die Ufer der einzelnen Stadtinsein überqueren. „Wenn die Brücken hoch sind, öffnen sich die Seelen“, sagen die Petersburger. Weil das so ist, öffnen sich auch die Türen ihrer Ladas, Moskwitch‘ und Wolgas. Auch die Türe unseres Busses bleibt nicht lange verschlossen. Eine kleine feine Straßenparty entsteht. Wodkaflaschen werden zwischen Unbekannten herumgereicht. Nach drei, vier Schlucken gehören auch diese Unbekannten zum engsten Freundeskreis. „That’s the magic of the White Nights“, erklärt uns Anastassija und lehnt ihr Fahrrad ans Brückengeländer. „And no one steals my bike, when the bridges are up“. Anastassija blonde Zöpfe baumeln im milden Nachtwind. Die Designstudentin ist jetzt auch Lomographin. Sie zweifelt zwar an unserem Verstand, weil es für Russen zu den ganz unglaublichen Verirrungen westlicher Menschen gehört, sich fur russische Produkte zu interessieren, die weltumspannende Qualität der Lomomania hat aber auch sie in ihren Bann gezogen.

St. Petersburg ist eine Hafenstadt. Und wie in Hafenstädten üblich, fehlt es nicht an Kaufleuten aller Art. Dima, der sich von seinen Freunden Rotnase rufen läßt, wobei nicht ganz klar ist, ob wir ihm angesichts einer ziemlichen Fuselfahne seine Geschichte mit dem Heuschnupfen glauben sollen, Dima ist Kleinhändler. Er steht am Newskij Prospekt und wartet auf Kunden. Durch den Hinterhof eines, nach Katzenscheisse stinkenden Hauses führt uns Dima in seine Wohnung. Im Kabinett seines Großvaters, des berühmten General Wassilij, wie er uns treuherzig erzählt, hat Dima sein Verkaufslokal eingerichtet. Schwarzer Kaviar, der ungeschlüpfte Nachwuchs kaspischer Störe, im DutyFreeShop nicht unter 36 Dollar zu finden, kann bei Rotnase Dima um zehn Dollar erstanden werden. Daß so nebenbei auch Admiralsuniformen, UBoot-Kommandanten-Chronographen und Eishockeydressen aus guten alten CCCP-Zeiten den Besitzer wechseln. versteht sich von selbst.

Zwei Tage später werden die Zollbeamten am St. Petersburger Flughafen nicht schlecht staunen, was die wahnsinnigen Lomographen so alles in ihren übergewichtigen Koffem auf die Förderbänder der Röntgenschleusen hieven werden. „Good buy, Lady“, ein Beamter klopft stolz auf meine Uhr, anstatt mich wegen Zollvergehens einzulochen, „zhis watch I chan say, very good, all good production from old Sovietunion!“ Sein Gesicht wird von einem breiten Grinsen verzogen. „You come again, I give you adress, my brather sell watch like zhis, but cheaper!“

Klick“ macht es da, aus fünf Lomos.

© Andrea Maria Dusl, geschrieben für die Lomographische Gesellschaft ~1996. Möglich, daß die Geschichte auch im Falter erschien.

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