The Channel 8 Diaries ::: Das Schiff mit den Scharlachroten Segeln

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Das Schiff mit den scharlachroten Segeln.

In dem kleinen Verkaufslokal meiner Petersburger Freundin Natalja Pershina habe ich das magische Schiff mit den scharlachroten Segeln gefunden. Das Schiff spielt eine Rolle in Aleksandr Stepanovich Grins Märchen von Asul (Asol, Asole). Das hat für mich insoferne eine paramontane persönliche Bedeutung, weil ich doch von (schwedischen) Kapitänen abstamme!

Found-Clothes-Factory.jpgNatalja hat mir ihre wunderschön märchenhaften Manufakte aus der „Gefunden-Kleider-Fabrik“ gezeigt. Gegenüber, auf einem Regal voll kleiner Seltsamkeiten, stand es: Das Schiff mit den Scharlachroten Segeln. Auf http://home.wanadoo.nl/scarletsails/
habe ich nun das Märchen von Asul gefunden.

The Channel 8 Diaries ::: Artsy Piter

Iwa-Nova.jpgDas Flex von Sankt Petersburg ist die “Fishfabrique”. In dem kleinen Club im Keller des autonomen Kulturzentrums “Pushkinskaja” spielen die angesagten Bands. Gestern war das die fünfköpfige Girl-Band “Iwa-Nowa”. Iwa-Nowa klingen so, wie die Leningrad Cowboys klingen würden, wenn sie nicht mit dem Testosteron-Wodka-Problem zu kämpfen hätten: Munter und aufgeweckt. Möglich, das man Fishfabrique eigentlich Fischfabrik schriebe, so wie den ursprünglichen Off-Off-Club in der alten, von Künstlern besetzten Pushkinskaya.

Aber eigentlich war ich ja schon vorgestern in der Pushkinskaya. Gegenüber vom Moskauer Bahnhof liegt die Einfahrt zur neuen Pushkinskya. Über ein seltsames, von Plakaten verpicktes Betongatter im Hinterhof kommt man in einen bunkerartigen Kellervorraum, der während der Belagerung im zweiten Weltkrieg wahrscheinlich tatsächlich ein Bunker war. Also da mal durch und dann gehts wieder in einen Hinterhof, an einem Türl vorbei, in dem der Petersburger John-Lennon-Gedenk-Verein tagt. In Permanenz, in eine „Give-Peace-a-Chance“-Dauerwolke eingenestelt. Wir hasten ein paar saubere Stockwerke hoch und läuten an einer Metalltüre. Ein Schuhmuseum. Schuhe und Stiefel müssen nicht ausgezogen werden. Juhu. Es gibt nichts demütigenderes, als Laschschlappen aus Frottee, zwei Nummern zu klein, mit Loch im grossen-Zeh-Bereich. Nur die Bauern ziehen ihre Schuhe aus zu Besuch. Weil ja am Bauernstiefel immer ein Teil vom Misthaufen klebt.

Oleg-Maslov.jpgDurch den Gang und ins Zimmerchen von Oleg Maslov. Oleg ist Maler und hat arbeitet in diesem Atelier. Oleg hat ein Gesicht, dem von Putin nicht unähnlich. Oleg hat sogar im Palast von Putin Dekorationen gemalt. Ob sich ihre Gesichter dort angenähert haben? Auf jeden Fall malt Oleg grosse Schinken nackter Männer, nackter Buben, nacktnackterer Frauen und nackter Raubkatzen, die in antikisierenden Tableaus arrangiert sind. Oleg wird einen der Vernissage-Künstler darstellen, die ich mir für Anastasijas schiefgehenden Uhrenklau ausgedacht habe. Oleg hat einen Malpartner, der Viktor heisst. Das ist insoferne ideal, als ich mir auch das ausgedacht hatte. Dass der Malpartner Viktor heisst, gefällt mir, weil ich mir dann für „Viktor“ keinen Namen ausdenken muss. Die webpage von den beiden liegt auf http://www.olegandviktor.com/ Klickablen Link setze ich, wenn das posten billiger ist und nicht über Handy und Satellit läuft. Und zwar jetzt >>> www.olegandviktor.com

Zu Oleg haben mich die Konenkos gebracht. Oleg mag mich und ich mag ihn, das macht alles sehr einfach. Am Boden sitzt ein feuriger Russe aus Moskau, der nur französisch spricht und crazy Masken macht. Für Luc Besson zum Beispiel. Für Taxi. Die Masken für den Überfall, sagt er. Den mag ich auch. Er heisst Gosha Ostretsov und er ist deswegen so feurig, weil er halber Georgier ist.

Metro-Vosstania.jpgSo. Und weil wir uns alle mögen, nehmen mich Oleg und Gosha schnell mit zu einer seltsamen Performance. Wir haben sehr viel Spass im Shuttle-Bus, der über den Newski brettert. Eine dicke blonde Dame SMSt und lacht sich dabei fast von der Sitzbank. Erst nach ein paar Minuten werde ich feststellen, dass sie über uns lacht, über genau UNS. Weil wir uns in einem wirren Mischmasch aus Englisch, Russisch, Deutsch, Französisch und Italienisch unterhalten. Sowas hat die dicke Blonde in ihrem ganzen dicke-Blonde-Dasein noch nicht erlebt, wird sie Oleg gleich erzählen. Und weil mein Russisch dazu nicht reicht, wird es mir Gosha in seinem Anglofranzösisch explanieren. Vielleicht ging es auch um etwas ganz anderes. Wie würde man da je Sicherheit erlangen?

Die Performance in einer von Soros oder Ford restaurierten Kasematte der Sankt-Peter-und-Pauls-Festung handelt von fliegenden Handies, deren Displays im Dunklen leuchten und mit Klingeltönen zirpen, wie singende Hightech-Glühwürmchen. Während der Performance verliere ich meine Geldtasche mit dem Kleingeld und den Zeh-Rubel-Scheinen. Ich finde diese Performance sollte so einen Verlust rechtfertigen.

Am Abend kommt Anastasija zum Tee zu mir. So ist das in Sankt Petersburg. Auch ein Einzelzimmer im Oktober-Hotel kann ein Salon sein.
Ich entsinne mich, dass ich am nächsten Tag wieder was mit den Konenkos gemacht habe. Ach ja, wir waren in der südlichen Vorstadt, irgendwas mit „U“ oder „IO“, am Flohmarkt. Hier werden die Handies verkauft, die in Holland, Deutschland und bei uns „verloren“ werden. Irgendwo gibt es auch einen grossen Markt, wo die BMWs und Mercedes vercheckt werden, die in München und Berlin „verloren“ gehen. Zwischen den Handy-Pavillons sind CD- und DVD-Pavillons. Hier gibt es Hollywood-Filme auf DVD, die in den USA noch nicht einmal im Kino waren. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, meinen eigenen hier reinzustellen. Nur, um zu sehen, wie schnell er sich multipliziert.

Newski-Blue-Light.jpgAbends treffe ich Galina, die Drehgenehmigungen organisiert. Ganz gegen meine telefonische Intuition ist sie durchaus seriös und von ausserordentlicher Auffassungsgabe und radikaler Gedankenschnelle. Ich frage also nach ihrer Familiengeschichte, mal in der Annahme, ihre Leute stammten aus aus den Klaviermetropolen Odessa oder Lemberg. Stammen sie aber nicht, sie sind alle von hier. Auch der Pridnig ist hier, Klaus Pridnig der mein Regieassistent war in Blue Moon. Klaus hat jetzt eine Filmfirma in Kiev und ich finde das sehr gut. Ich finde das passt. Galina hilft ihm eine ÖMV-Motoröl-Werbung zu organisieren. In Murmansk. Weil es dort verdammt kalt ist. Klaus und ich haben uns gut verstanden. Das macht mir die Erinnerung an seine Arbeit bei mir süss, die doch oft an Unterzucker litt.

Heute war Mädchentrefftag. Erstens war ich nach langer Suche endlich bei Natalja, die in einem grossartig meschuggenen Riesenatelier im Kamenoostrovsky Prospekt lebt. Mit ihrer kleinen Tochter und ihrem Mann Kirill. Kirill macht kleine, unfassbar witzige Animationsfilme. Natalja verfolgt seit zehn Jahren ein Performance-Projekt, das „gefundene Kleider“ heisst. Mit den gefundenen Unter-Kleidern aus den 1910ern haben sie und ihre Performance-bessere-Hälfte schon den Freitod einer traurigen russischen Dichterin nachgestellt und sind dazu gemeinsam in die Moika gesprungen. So habe ich das jedenfalls verstanden.

Lena.jpgSo wie sich die Computernerds aller Kontinente verstehen, egal ob sie aus Venezuela, Burundi oder Dänemark kommen, so verstehen sich die meschuggenen Artisten der Welt. Das ist wie im Zirkus. Trapez ist Trapez, Feuerreifen Feuerreifen, Jonglierteller Jonglierteller. Aus meinen Begegnungen mit Oleg, Gosha, Natalja und Kirill rechne ich mir zusammen, dass ich vermutlich von aussen auch zu den meschuggenen Artisten gerechnet werden muss. Na umsonst wird die dicke Frau nicht im Transittaxi vom Bankerl gefallen sein vor Lachen.
Und grad eben habe ich dann noch Lena getroffen, die Bassistin von Iwa-Nova. Sie ist Mathematikerin. Und Bassistin. Und sie hat einen Löwen auf dem linken Oberarm. Lena mag ich sehr.

The Channel 8 Diaries ::: Piterlife

Fünf Tage sind vergangen, und es scheint mir, als hätte ich nie geschlafen, wäre schon ewig da und wäre jede noch so versteckte Strasse Petersburg mindestens achtmal abgegangen. Dem ist aber nicht so, denn ich komme immer wieder in Petersburger Weltgegenden, die ich noch nicht kenne.

Konenkos.jpgSamstag habe ich meine Freunde, die Konenkos getroffen, in ihrer mit Bildern, Büchern und Platten zugespachtelten zwei-Zimmer-Wohnung, die eigentlich Teil eines von sieben Salons einer Patrizierwohnung am Newski ist. Bei den Konenkos ist es gemütlich, es gibt Tee und viel Filmsprechen. Juri ist Filmkritiker und Festival-Katalog-Autor.

Sonntag ist Falter-Kolumnen-Schreibetag, Bilderordentag, Telefoniertag, Planungstag.

mailen und Surfen geht hier bei mir am Hotelzimmer so: Ich hol mein Powerboook aus dem Versteck, schalte bluetooth ein. Am Handy suche ich den Telefoncompany „Megaphon“ und stell auch dort bluethooth auf „on“. Dann klicke ich „verbinden“ und das Apple-Titanium wählt sich ins Internet ein.

Alle vier Minuten geht die Verbindung tschari, und das ganze von vorne. Ohne Laptop-aus-dem-Versteck-holen natürlich.

Majakovskaja.jpgMontag gehe ich kreuz und quer durch die Stadt. Im Videoladen sucht mir Juri Konenko russische Filme aus. Die DVDs kosten hier drei Euro, die CDs drei bis vier. Der lange Arm der amerikanischen Unterhaltungsindustrie endet an der russischen Grenze. Alitschna!

Dienstag treffe ich eine wunderschöne, zauberhafte Freundin. Nastja kenne ich seit sechs Jahren, sie studiert Englisch in einem IInstitut an der Moika. Die Moika ist einer der Kanäle, die Petersburg durchziehen. Um das studieren zu finanzieren, jobbt Anastasija am Chanel-Stand von einem High-Class-Laden für reiche Russinnen. Davon können sie und ihre Mama die Schulden zurückzahlen, die sie bei ihren Verwandten haben. Und die Miete geht sich auch aus. 1000 Rubel kostet die winzige Wohnung pro Monat, das sind 30 Euro. Und das ist hier verdammt viel.

Gegenüber vom Moskauer Bahnhof ist eine Metrostation, die wie ein runder Tempel aussieht. Von dort soll ich die Linie eins zur Station Polytechnetschkaya (o.s.ä.) nehmen. Ich steige in der falschen Richtung ein und muss wie beim Monopoly noch einmal über Start. Draussen in der Vorstadt, in den Plattenbausiedlungen wohnt Nastja, sie holt mich von der Metrostation ab. Wir kaufen Lachs, Tee, Kekse und Milchshake in einem sehr westlichen Supermarkt. Am Weg zu Nastjas Haus steht das Kybernetische Institut, ein Bau als hätte jemand im Computer das Sojus-Raumfahrt-Programm mit einem gotischem Kirchturm gemorpht. Am Weg nach Nastjas Hause kommen wir an einem Ziegelteich mit Strand vorbei, etwas fleckig sieht es dort aus. Dann durch ein kleines Birkenwäldchen, das sich aus den ausgebüchsten und zu gross gewordenen 60ties-Gartenbäumchen vor den zweistöckigen Häusern rekrutiert. Nastja wohnt mit ihrer Mutter, die gerade in der Bank ist und arbeitet. Die Wohnung im Erdgeschoss ist etwas abgeschrammt aber sauber wie ein junges Kätzchen.

Nastja bringt uns mit dem Shuttle-Bus rüber auf die Petrograder Insel. In so einem Shuttlebus – ein mittelgrosser Kastenwagen von Transit-Grösse haben genau 11 Leute Platz. Die Passagiere sitzen wie in einem kleinen fahrenden Kaffeehaus. In der „Englischen Bäckerei“ gibt es die besten Mehlspeisen und Torten Europas. Ich lüge jetzt nicht: Die besten von Europa. Der Laden sieht aus wie eine Kleinstadtkonditorei, aber vor den Mehlspeisen hier kann der Demel einpacken.

Nastja-Lounge.jpgAm Abend landen wir wieder am Newski in einem ultraschicken loungoiden Fortgehcafé. Dunkelbrau und weiss. Design dieser Güte würde man in Paris und Manhattan vermuten. Nicht in Russland. (Bild kommt noch!)

Dazwischen: Recherche in Apotheken, Apotheken, Bussen, Apotheken, Busen, Apotheken, Metrostationen, Brückenwärterhäuschen. Meine Ixus ist nach 700 Bildern randvolll. Und meine Hirn schwappt über von Nastjas Russlandbetriebsanleitung.

Mittwoch morgen treffe ich die Konenkos unten in der Hotelhalle, feuchter Regen hängt über der Stadt. Wir fahren zum Kaufhaus Gostiny Dvor und den Innenstadtparks um für die „Talking People“ in „Channel 8“ zu recherchieren. Mein Plan: Ich möchte an zwei Tagen 100 Leute interviewen, auf der Strasse, in Parks, in Geschäften. Vom kleinen Kind bis zur Babuschka, vom Bomsch (so heissen hier die Sandler) bis zum General. Wir sprechen mit 45 Leuten, und da sind schon arge Schicksale dabei, harte Sachen, aber auch aberwitzige und schreiend unspektakuläre Alltagsschicksale.

Morgen kommen die nächsten 54 dran. Uff. Tippen auch noch. Und alles muss durch mein kleines Handy durch um auf der Comandantinaseite zu landen!

Goodbye Salzgries

„Heisse Wiese“ – von Perr Heter, Wolfgang Kralicek und Andrea Maria Dusl

„Der Nachruf auf das Café Salzgries gehört jedenfalls zu den Dingen, die ich mir gerne in meine verbale Schatzkiste stecken möchte“

(Lotte Krisper-Ullyett in ihrem Blog)

[…] Wäre Wien bis auf alle Grundmauern verschwunden und nur dieser Ort geblieben [Anm. eben das zugesperrte Café Salzgries], man hätte die Stadt wiedererrichten können aus den Geschichten, die hier erlebt wurden, aus dem Personal, das es bevölkerte, aus der Sprache, die hier gesprochen wurde. […]

In deinem Paralleluniversum wurde eine Sprache gesprochen, die mit dir verstummen wird. Wo sonst wird man ein „Knochenbad“ oder einen „Fleischtee“ bestellen können, wenn man Rindsuppe essen will? Wo wird man nach dem Fahrplan verlangen, wenn man die Speisekarte begehrt? Wo wird man nach „Gas und Strom“ rufen können, wenn man die Rechnung will? Und wo wird man diese dann mit „Eisenscheinen“ (Münzen) begleichen können? Wo soll die „Gewürzschaukel“ oder auch die „Mineraliensammlung“ (Salz & Pfeffer), der „Depressive“ (Kren), das „Fleischildefonso“ (Lasagne), der „aufgetrennte Pullover“ (Spaghetti) oder die „heisse Wiese“ (Spinat) gereicht werden? Auch exotische Getränke wie der „Kinderfernet mit Gletscher“ (Coca-Cola on the rocks), die „Hochobette“ (großes Obi gespritzt), die „Hofenkaltschale“ (Seidel), das „Astl“ (Zweigelt) oder der „Gießhübl“ (Weißer Spritzer) gehörten in deinen Räumen zum Standardsortiment.

Gehegt und gepflegt haben deine Sprache, die als „Salzgriesisch“ in die Geschichte eingehen wird, „Perr Heter“ (Herr Peter) und eine gleichermaßen eingeschworene wie ausgschamte Stammkundschaft, die sich in hingebungsvoller Treue um ihn scharte. […]

Im Falter 7/04, „Tiefschlag für Wien“, S. 70

Vienna Metroblogging

ViennaMetblog.gifWien ist anders und trotzdem ein bisschen wie Atlanta, Boston, Chicago, London, Los Angeles, New York, San Francisco, Seattle und Washington. Wien hat nämlich auch ein Metroblog. Die Logbuch-Städte sind untereinander verlinkt und vernetzt.

Die urbanen Stratigraphen Aki Beckmann, Daniela Zaremba, David Dempsey, Georg, Günther Friesinger, Heinrich Hinterhalt, Johannes Grenzfurthner, Karin Harrasser, Marie Ringler, Michael Zeltner, Philipp Drössler, Thomas König und Tom Enzi – teilweise Mitglieder des Künstlerkollektivs monochrom lesen auf, was in Wien liegt, steht oder sonstwie fallengelassen wird.

Vienna.Metblogs

Michail Gorbatschow

Gorbatschow.gifAnfang dieses Jahrtausends habe ich einen Film gemacht, in dem Josef Hader und Detlev Buck auf der Suche nach einer ukrainischen Taxifahrerin die Länder des ehemaligen Ostblocks bereisen. Zur Deutschlandpremiere von „Blue Moon“ war ich in Berlin eingeladen. Als der ganze Trubel vorbei war, blieb mir noch ein halber Tag, den ich dazu verwenden wollte, im Ostteil der Stadt nach einem offiziellen Porträt jenes Mannes zu suchen, der dafür verantwortlich war, dass dieser Film überhaupt gedreht werden konnte: Michail Gorbatschow. Ohne Glasnost, ohne Perestroika, ohne Michail Gorbatschow wäre die kleine Andrea nie nach Bratislava gefahren, nie hätte sich der Eiserne Vorhang geöffnet, nie wären Lviv, Kiev und Odessa erblüht, ewig wären sie unentdeckte Disteln geblieben in einer öligen und traurigen Steppe.

Wo wir auch hingingen, meine Berliner Entourage und ich, es gab jeglichen Ostplunder. Sowjetische Fellmützen, DDR-Trainingsanzüge, Schupo-Uniformen, Fahnen und Plakate aus der Zone, Rotkäppchensekt, ja sogar Möbel aus dem siebten Himmel, wie man Honeckers Büroetage im Palast der Republik nannte, fanden wir, nicht aber ein Präsidentenporträt des Generalsekretärs der KPdSU. Nicht die Ikone Europas.

Nebel legte sich über die Stadt, der Abend graute, und bald saß ich müde und erschöpft, aber ohne ostalgisches Souvenir in der Maschine nach Wien. Die Anschnalllichter waren gerade ausgegangen, Kaffee wurde gebrüht, und die Stewardessen schickten sich an, Käsebrötchen auszuteilen, als ich eine Erscheinung hatte.

Ganz vorne in der Maschine stand ein gemütlicher Mann mit weißem Glatzenkranz. Er hatte seine Jacke ausgezogen, weiß wie sein Haar leuchtete sein gut gebügeltes Hemd zu mir herüber. So müsste Michail Gorbatschow jetzt wohl aussehen, wenn man ihn träfe, aber wer träfe denn schon Michail Gorbatschow? In einer Maschine von Berlin nach Wien, an einem nebeligen Novemberabend, während in der Touristenklasse gerade Kaffee und Käsebrötchen ausgeteilt würden?

Während also in der Touristenklasse gerade Kaffee und Käsebrötchen ausgeteilt wurden, fragte es in mir, woran man wohl Michail Gorbatschow erkennen würde, wenn man ihn träfe in einem Flugzeug über dem Himmel von Berlin. Und da antwortete es in mir, dass man Michail Gorbatschow vermutlich an jener seltsamen dunkelroten Hautverfärbung auf dem Scheitel seiner Stirne erkennen würde, die, eine seltsamen, Koinzidenz der Geschichte darstellend, ausgerechnet die Umrisse des US-amerikanischen Bundesstaates Kalifornien nachzeichnete.

Und während ich all dies dachte, drehte sich der gemütliche Mann mit dem weiß leuchtenden, überaus gut gebügelten Hemd um! Mir fiel vor Schreck das Käsebrötchen aus der Hand. Der Mann mit dem gemütlichen weißen Hemd hatte Kalifornien auf der Stirn. Rot und deutlich. An genau dem Abend, an dem ich auf der Suche nach einem Porträt dieses Mannes ganz Ostberlin durchforstet hatte, sollte er in derselben Maschine wie ich sitzen, Kaffee aus derselben Kanne trinken, Brötchen mit demselben laschen Käse essen. Der Erfinder der Welt, wie wir sie jetzt kennen, der ehemals mächtigste Mann der Welt. Michail Gorbatschow in derselben Maschine wie ich.

Ich schrieb ein kleines Briefchen an den gemütlichen Genossen zehn Schritte vor mir: „Lieber Genosse Präsident“, schrieb ich auf eine Blue-Moon-Postkarte, die eine Stewardess depeschieren sollte, „vielen Dank für Glasnost und Perestroika. Vielen Dank, dass Sie den Eisernen Vorhang geöffnet haben. Wenn das nicht geschehen wäre, hätte sich die Welt nicht verändert. Nie hätte ich diesen Film gedreht, nie wäre ich nach Berlin zu seiner Premiere geflogen, und nie wäre ich jetzt und hier in dieser Maschine.“

Die Antwort kam postwendend:
„Gern geschehen,
Michail Gorbatschow!“


© Andrea Maria Dusl
geschrieben am 24.04.2003 um 20:04 Uhr

Hermann Nitsch

In Wien gibt es einen berühmten Haareschneider, den allseits bekannten Szenefriseur Erich Joham, in ‚der Szene‘ schlicht ‚Der Erich‘ genannt. Der Friseursalon von Erich Joham nennt sich Er-Ich. ‚Zum Erich‘ gehen alle, ich betone alle Wiener Prominenten. Ich glaube, es gibt niemanden von relevanter, ja nicht einmal von selbsterklärter Prominenz, der noch nicht bei Erich Haareschneiden war. Der Erich ist so unbestritten, weil er vom Fürsten Schwarzenberg abwärts alle gleich behandelt werden. (Für Erich sind auch Sandler prominent)

Erich schneidet nicht mal ausserordentlich gut Haare. Seine Fähigkeiten liegen auf einem anderen, viel wichtigerem Gebiet: Erich kann ausserordentlich gut haarschneidereden. Besser als alle Haarschneideredner der sonstigen Welt. Erich ist der Dalai Lama der Frisur.

Nitsch.jpgEines Jahres fand nun statt, dass eine Sendung mit Herrn Erich produziert wurde, in der er Prominenten die Haare schnitt und dabei mit ihnen haareschneidredete. Der Fernsehsender versprach sich Einschaltziffern davon, dass Nichtprominente Prominenten beim Haaregeschnittenwerden und Erich beim Haareschneidreden zusahen.

Meine Aufgabe bestand darin, mit einem Mikro hinter den Kulissen einer grellbunten Friseurdekoration in einem kleinen Studio in der Wiener Schönbrunnerstrasse zu sitzen und Herrn Erich per Ohrstöpsel live Regieanweisungen zu geben, was er haareschneidredenmässig so von sich geben sollte. Erich litt nämlich stets unter mindestens 42,7¡ Lampenfieber und war haarscheideredentechnisch nicht auf dem gewohneten Damm, ja ohne Hilfe von aussen fast so etwas wie sprachlos. Keine gute Ausgangslage für professionelles Dalai-Lamamässiges Haarschneidereden. (Die Idee für die Einflüstereien kam übrigens direkt von Erich selbst, der mir diesbezüglich absolut vertraute. Insoferne war ich die poetische Krücke des Herrn Erich und mit dieser Krücke unterm Arm lief er die 100 Meter Haare regelmässig unter 19,8 Sekunden )
So kam es, dass Niki Lauda, Hermes Phettberg und sogar der noch lebende Falco von mir regieanweisungsmässig haarschneidefernberedet wurden.
Eines der Haarschneideopfer war Hermann Nitsch!

Weil Hermann Nitsch’s weisser Bart aber nicht viel Coiffure verträgt, schnippselte Erich nur an den Rändern herum, im Indochinabereich der Nitsch’schen Bartgeografie sozusagen und etwas an den Hebriden. Dazu schwafelten wir drei (Nitsch wusste nicht, dass ich per Ohrstöpsel dabei war) über Schubert, Weisswein und die Liebe.

Nach der Sendung kroch ich über den Boden und sammelte exklusive weisse Barthaare von Hermann Nitsch ein, die ich in kleines Kuvertchen aus Küchenrollenpapier einschlug und seither an einem geheimen Ort bewahre.