10 Dinge, eines gelogen

Der von mir überaus geschätzte österreichische Autor und Journalist David Baum  hatte mich auf Facebook darum gebeten. Ohne Zögern machte ich bei dieser “Competition” mit und listete 10 Dinge auf, von denen zu behaupten war, dass ich sie mal getan hätte. Eines davon, so die Vorgabe, musste gelogen sein.

Ich habe/bin, so behauptete ich (und führe im Folgenden auch den Nachweis):

1. von Tabori zum Essen eingeladen worden, von Peymann nicht.
2. Rocko Schamoni in einem Theater einen Zungenkuß gegeben und erst später erfahren, wer das war.
3. einer toten alten Dame mit einer Säge aus dem Baumarkt die Schädeldecke aufgesägt.
4. in Ascona die 5-Sterne-Suite neben Sydney Pollack bewohnt.
5. in Rom bei einem Mafia-Gala-Diner Ehrengast gewesen.
6. auf einem Fest 34 weiße Spritzer getrunken.
7. mit Gerd Schröder in Köln Boogie Woogie getanzt.
8. mit den Leningrad Cowboys im Alt Wien bis in den frühen Morgen Schnaps gesoffen.
9. mich eines Nachts im Café Kunsthalle angezündet und in Flammen gestanden.
10. im Suez-Kanal geschwommen.

Die sehr sehr argen Sachen und Begebenheiten meiner Biographie konnte ich nicht in dieser Liste versammeln. Das waren Sachen, wo meine Eltern die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und den Satz: „Du hast Schande über unser Haus gebracht“ und Ähnliches, ja Schlimmeres von sich gegeben haben. Von Außenstehenden habe ich zu ausgewählten Erlebnissen meiner persönlichen Geschichte den Satz „das habe ich noch niemals erlebt“mehrmals gehört.

Ich bin übrigens untätowiert und habe noch alle Finger. Und ich hatte, dabei klopfe ich dreimal auf Holz, noch nie einen Verkehrsunfall. Bis auf den einen vor meinem Gymnasium, wo der Richter seiner Tochter die Autotüre öffnete und ich mit dem Rad gegen ebendiese Türe krachte. Der kleine Finger meiner linken Hand ist seither gefühllos.

Löse wir die Geschichten in der auf Facebook geposteten Reihenfolge auf.

1. Ich bin von Tabori zum Essen eingeladen worden, von Peymann nicht.

In den 80er Jahren arbeitete ich als Bühnenbild-Assistentin, war sehr unglücklich und wollte dringend nach London auswandern um dort vom Glück einer wirklichen Stadt zu naschen. Ich sparte und sparte Geld und sagte mir, ‚ich mache alles, um endlich aus dem grauslichen Wien rauszukommen‘.

Ich studierte den Stadtplan von London, als das Telefon schrillte. Es schrillte wie in einem schlechten Film. Und wie in einem schlechten Script war am anderen Ende ein Agent mit einem Angebot. Ob ich nicht dringend Lust hätte, ans Burgtheater zu kommen. Als Bühnenbild-Assistentin. In eine Inszenierung von George Tabori. Es gäbe allerdings einen Haken. Der Haken sei die Frau, mit der ich arbeiten sollte. Drei Bühnenbild-Assistenten vor mir seien entweder im Irrenhaus oder in der Donau gelandet. Die Frau sei unmöglich, das sei der Haken. Und schlecht bezahlt sei der Job.

Ich sagte zu und die Frau war unmöglich.
Und schlecht bezahlt.
War mein Job.

Mit George Tabori, dem Regisseur des Stücks hatte ich zuerst wenig Kontakt, ich genoss seinen Ruhm sozusagen aus der Entfernung. Ich schuftete schwer. Es war auch ein schweres Stück. Das Stück hiess ‚Mein Kampf‘ und handelte vom jungen Hitler und der Freundschaft mit seinem jüdischen Bettnachbarn im Männerheim.

Eines Tages lud ‚Dschohdsch‘ – so sprach man den Namen des Theatergottes George aus – das gesamte Team, Schauspieler, Regieassistenten, die Souffleuse und mich in ein feuriges ungarisches Lokal in der Wiener Kärntnerstraße. (George Tabori ist Ungar.)

Dort assen und tranken wir ausgiebig ungarisch und hatten viel ungarischen Spass. ‚Dschohdsch‘ kam neben mir zu sitzen und zwischen einem Paprikahuhn und einem Pörkölt erzählte er mir, er sei Geheimagent. Geheimagent im Vorruhestand. Er erzählte, wie er in den letzten Kriegsmonaten in einem Kloster in Istanbul einquartiert gewesen sei, um dort mit anderen ungarischen Intellektuellen für den britischen Geheimdienst an ungarischen Radiosendungen zu basteln.

Ein ganzes Jahr lang hätten Sie Sendungen gemacht für Ungarn. Tolle Sendungen mit tollen Geschichten. Tolle Geschichten voll Feuer und tollen Gags. Keine einzige wurde je gehört. Keine einzige. Er habe nach dem Krieg seine ungarischen Freunde gefragt, wie ihnen die Radiosendungen aus dem Kloster in Istanbul gefallen hätten. „Welche Radiosendungen?“

George wusste viel über das Agentengeschäft zu berichten. Unter anderem, daß sämtliche Geheimpost mit Zitronensaft zwischen die Zeilen von ordinären Liebesbriefen geschrieben wurde. (Ganz genau so, wie wir als kleine Mädchen unsere Geheimbriefe verschickten.)

Tabori kannte auch einen ungarischen Schuster. Den 007 der ungarischen Schuster. Dieser Schuster sei so geschickt gewesen im Umgang mit Leder, daß er die Schuppen von Krokodillederhandtaschen so raffiniert aufschlitzen konnte, dass man darin Mikrofilme unterbringen konnte. Mit den krokodilledernen Mikrofilmhandtaschen des ungarischen Schusters wurden die Agentinnen des britischen Geheimdienstes bestückt und so manche kriegsglückwendende Geheimbotschaft herumgetragen.

Als es zum Zahlen kam, im ungarischen Lokal in der Kärntnerstraße und George seine diamantene Kreditkarte zückte, erwarteten alle insgeheim, dass er die kolossale Rechnung einer hungrigen Truppe von 12 Theaterleuten mit ebendieser Kreditkarte zahlen würde. Die George-Aficionados hatten ihre Geldbörsen symbolisch in der Hand, machten aber keine Anstalten, Hundertschillingscheinchen herauszurücken. Niemand raschelte mit den Hundertschillingscheinchen und niemand sagte den berühmten Satz. Keiner von den 12 gut bezahlten Burgtheaterangstellten.

Niemand sagte: „Also ich hatte….“

In diese Theaterstille hinein wurde es in George Licht und seine gleichermaßen sonore wie zerbrechliche Bassstimme errichtete einen Satz von poetischem Realismus: „Alle hier zahlen selbst, nur ich zahle das Essen von Andrea. Sie hat kein Geld.“

Ich fand das sehr sehr ungarisch und bin daher auch sofort geschmolzen.

True Story.

***

8. Ich habe mit den Leningrad Cowboys im Café Alt Wien bis in den frühen Morgen Schnaps gesoffen.

Um das Jahr 1996 sollte die Finnische Cult-Combo ‚Leningrad Cowboys‘ auf dem legendären Wiener ‚Donauinselfest‘ auftreten. Ein Sturmtief regnete aber soviel Wasser auf das Fest, dass der Auftritt aus Sicherheitsgründen (Elektrisiergefahr an den Stromgitarren!) abgesagt wurde.

Ich war damals mit einer skurilen, semiavantgardistischen Truppe befreundet, die sich Lomographen nennen, und die behaupteten, ‚Freunde‘ der Leningrad Cowboys zu sein. In ihrem Schlepptau kam ich erst zur verregneten Stätte der Absage und dann in eine Satellitenstadt von Wien. Dort sollte ein Ersatzauftritt stattfinden. Hieß es. Vor der ‚Rockhalle‘, wie das Lokal hieß, stauten sich Hunderte erboster Leningrad-Cowboy-Fans, die alle nicht einsehen wollten, warum sie auf ihre Idole verzichten sollten.

Die Lomographen und ich kämpften uns durch die Menge und wurden schließlich an einer Glastüre vorstellig. ‚Nein‘, hieß es, ‚die Cowboys träten nicht auf und wir sollten einen Schuh machen‘. Die Lomographen gaben zu bedenken, dass sie ‚Freunde‘ der Leningrad Cowboys‘ seien, fanden damit aber kein Gehör.

Ich sprach schließlich ein paar Worte schwedisch (das man dort offensichtlich für finnisch hielt) und zeigte meinen Presseausweis, worauf wir seltsamerweise doch Einlass fanden. (Die Lomographen konnte ich als meine Assistenten ausgeben.)

Die berühmten Leningrad Cowboys saßen drinnen bei schalen Brötchen und lauem Bier in der Kantine der ‚Rockhalle‘ vor einem Fernsehapparat und verfolgten ein Fußballspiel. Ich denke es war irgendetwas in der Richtung Holland-Frankreich. Die Cowboys sahen alle eher aus wie Tankwarte und hatten ihre famosen steilen Tollen zu ordinären Pferdeschwänzen zurückgebunden. Sie sahen alles andere aus wie skurile Popstars. Sie sahen aus wie Al Bundy mit Antonio-Banderas-Frisur.

Ich wettete einen beliebigen 20er (Währung gab ich keine an) gegen einen Sieg von Holland. (Auf diese Truppe hatten sich die Finnen eingeschworen). Frankreich gewann das Fußballspiel zum großen Entäuschung der Leningrad-Cowboys und ich damit einen Original-20-Finnmarkschein, der von allen Cowboys signiert wurde. (Den Schein habe ich damals so gut versteckt, dass ich ihn bis heute suche. Als Evidenz ist er aber ohnehin völlig wertlos, weil niemand die Originalunterschriften der LC kennt.)

Um die Stimmung zu heben (sie war extrem Parterre) habe ich dann vorgeschlagen, ein paar (!) Taxis zu rufen und in ein Lokal namens ‚die Bar‘ zu fahren, um (so der Separatplan) beim dortigen Barkeeper, Herrn Horst Scheuer mit meinen neuen Freunden anzugeben. Horst war aber nicht da und so sind wir dann in das Nachbarlokal, eine Studenten-Absturz-Kneipe namens ‚Alt-Wien‘ gegangen.

Weil die Leningrad Cowboys mit ihren Privatfrisuren aber allesamt eher wie Helsinkier Tankwarte, als wie finnische Kultstars aussahen, nahm niemand im ‚Alt-Wien‘ größere Notiz von ihrem Dortsein. (Eine Freundin, der ich am Klo begegnete, wollte mir erst gar nicht glauben, sah aber dann doch nach dem Rechten und übergoss mich mit Hohn: ‚Wenn das die Leningrad Cowboys sind, dann steht bei mir grad Elvis Presley an der Theke!‘)

Die 9 bis 12 Leningrad Cowboys (ich glaube, auch die Mixer und Gitarrenkabelträger zählen da mit) tranken Unmengen von Vodka und sprachen insgesamt etwa fünf Sätze in acht Stunden. Das sei so üblich bei Ihnen erklärte mir ihre Managerin.“

True Story.

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2. Ich habe Rocko Schamoni in einem Theater einen Zungenkuß gegeben und erst später erfahren, wer das war.

Also.

Über den Ort und die Zeit des Vorfall hat Kollegin Doris Knecht berichtet. Eine Zusammenfassung der Begleitumstände schrieb sie für den Falter, im Rahmen ihrer dortigen „Wieder-Kolumnier-Posteriere“:

Doktor Ostbahn hat einmal gesagt, es sei nie zu spät für eine glückliche Jugend, ein betörender und überaus unzutreffender Satz, wie ich weiß, seit ich Kinder habe. Solange die Kinder eine glückliche Jugend haben, hat Mutter nämlich keine, muss sich also anderer Weisheiten bedienen, etwa dieser: Es ist nie zu früh für einen Gin Tonic. Oder etwas Sekt. Oder sonst Alkohol.

Auf dieser Grundlage verging kürzlich ein Abend im Rabenhof sehr vergnüglich, außerdem war Blumenau da. Bedauerlicherweise habe ich zu später Stunde einen Kulturstadtrat spontan geduzt, der verduzte Kulturstadtrat duzte zurück, und das lässt sich nun vermutlich nicht mehr rückgängig machen, ohne dass alles noch peinlicher wird als eh schon.

Ich rechtfertige erstens mein Fehlverhalten mit übermäßigem Alkoholkonsum, zweitens den Alkoholkonsum damit, dass ich als berufstätige Mutter zweier Kleinkinder sonst nicht viel zu lachen habe. Jetzt mal außer beim Vorlesen des „Grüffelo“-Bilderbuches, aber auch da zeigt mein Frohsinn nach der 94. Lektüre leicht abnehmende Tendenz. Da kommt ein bisschen Alkohol gerade recht. Auch meine schwangere Freundin Lotte, die sich gerade im Stadium hormonbedingter Totalidealisierung von Mutter-Kind-Beziehungen befindet, wird das schneller lernen, als ihr Kind gugu sagen kann.

Ein paar Flaschen „Roter-Oktober“-Bier waren beim Protest-Song-Contest also meine besten Freunde, neben Fräulein Dusl und Herrn Blumenau. Wobei ich während meiner Tätigkeit als Jurorin eher mäßig, anschließend extrem tüchtig trank, was, wie ich befürchte, nicht nur dem Kulturstadtrat auffiel, sondern auch Rocko Schamoni, der sehr dekorativ in einer Ecke lehnte und dem ich, als er mich ansprach, etwas Geschmeicheltes zurücklallte, ich weiß aber nicht mehr, was. Allerdings ging ich trotz augenscheinlichster Besoffenheit nicht so weit wie meine geschätzte Kollegin Andrea Dusl, die zum Schluss der Siegerband den Siegerpreis klaute, und das völlig nüchtern. Zu ihrer Ehrenrettung muss ich aber anführen, dass sie keine Ahnung hatte, dass es sich bei einem unbeaufsichtigten, fast leeren Karton „Roter Oktober“ um den Siegerpokal handelte, und als sie es im Taxi von mir erfuhr, bereute sie sehr, aber zu spät.

Auch ich bereute, nämlich anderntags um halb sieben, und zwar sehr schmerzhaft. Stellen sie sich nur eine völlig verkaterte Mutter zweier total munterer Kleinkinder nach viereinhalb Stunden Schlaf vor, mehr brauchen sie nicht zu wissen. Um halb zwölf trafen wir Sedlacek zum Frühstück in der Kunsthalle, da schaut der mich an und fängt dann an zu singen, jahaaa, es ist niiiiiiiie zu späääät für eine glückliche Juuuugend, und ich sage, sehr schön, Sedlacek, und jetzt halts Maul und bestell Prosecco.”

(Doris Knecht: Bitte halts Maul, erschienen in „Falter“ Nr. 10/05 vom 09.03.2005, Seite 14.)

Meiner Erinnerung nach fand der Kuß mit Rocko Schamoni im Nachhausegehen statt. Stermann und Grissemann standen da im Rummel, und die küsste ich, sehr leidenschaftlich. Besonders Grissemann, wie ich das immer tue. Neben Ster und Grisse stand noch ein Dritter und der wollte (“Aber Hallo!”) auch geküsst werden, also hab ich ihn grissemannlike zungengeküsst.

Später im Taxi monierte Frau Knecht, dass ich die Ärgste sei, weil Rocko Schamoni küssen. “Wer ist Rocko Schamoni?”, fragte ich damals noch ahnungsbefreit, worauf mir Frau Knecht alles und noch mehr über die Prominenz und kulturgeschichtliche Bedeutung von Rocko Schamoni bekanntgab.

True Story also.

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6. Ich habe auf einem Fest 34 weiße Spritzer getrunken.

Das war an einem sehr langen Frühsommertag. Ich weiß das Jahr nicht mehr und das Datum schon garnicht. Aber den Ort und den Anlass: Den Trabrennplatz in der Krieau. Der Geburtstag der Stadtzeitung Falter. Ich war zuständig für das Fest, das aus diesem Anlass dort stattfand, zuständig für das künstlerische Programm. Viele Menschen mit berühmten Namen waren da, wollten glücklich sein und betreut. Und Geld gab es auch für alle. Es gab 7 Wochen hindurch viel zu organisieren, und fast noch mehr an den Tagen des Festes. Waren es zwei, waren es drei? Es war heiß, es war leidenschaftlich, es war lang. Der Tag begann um 7 Uhr, und er endete erst nach 23 Stunden. Das Getränk der Wahl hätte Tee sein können, oder Mineralwasser, vielleicht sogar Wasser selbst. Das wäre wohl klug gewesen, und auch gesund. Aber es war Weißwein. Gespritzt. in Viertelgläsern portioniert. Am Ende eines langen Tages Reise in die Nacht waren es 34 Spritzer. Weil das alles auch körperlich anstrengend war, was ich da tat, habe ich den Alkohol wahrscheinlich weitgehend veratmet. Die Zahl selbst ist belastbar, weil ich als Zwänglerin mitzählte. Es war in einem Abschnitt meines Daseins, in dem ich auch 100 Zigaretten täglich rauchte.

True Story.

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10. Ich bin im Suez-Kanal geschwommen.

Kommen Sie mit mir, schreibende Frau, ich brauche ihre Dienste, hatte der aufstrebende Kleinfirmendirektor gesagt. Ich lade sie ein nach Kairo, meine Verlobte stammt von dort, wir werden in interessanten Hotels wohnen, die Pyramiden besuchen, auf Kamelen reiten und abends, wenn der Muezzin singt, werden wir am Firmenroman schreiben. Es wird wunderbar. Wir flogen also nach Kairo, wohnten in interessanten Hotels, ritten auf Kamelen, auf Pferden gar. Und mit dem Benjamin des Deutschen Archäologischen Instituts krochen wir in frischentdeckte Pyramiden. Gruben im Sand und tranken ägyptisches Bier. Der Muezzin schrie, und im lauen Jännerwind saßen wir auf der Hotelterrasse und erfanden die Firmengeschichte neu. Das konnte ich und dafür war ich da. Tagsüber besuchten wir die Verlobte, sahen uns Ringe an bei den Goldschmieden im Bazar und liefen durch die Stadt, auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Und immer war die Wüste da. Auch mitten in Kairo war die Wüste da. Ihr Sand war da, ihr Geruch, ihre Farbe. Die Menschen, die durch die Straßen liefen, im Grunde waren sie Wüstenmenschen. Ihre Oasis war vom Nil geborgt, ein stinkender Geselle, der nur als Mythos heroische Grandezza hatte. In Wahrheit machte er nichts her. Mehrmals zog sie mich an den Nil, hieß mich die Touretteandrea hineinzuspringen, am lautesten schrie es in mir, als wir uns im Motorkahn durch die Stadt schippern ließen. Ist es gefährlich, in den Nil zu fallen?, fragte ich den Steuermann unserer Barke.

Keineswegs, sagte dieser in seinem arabischenglischen Kauderwelsch, viele Touristen tun das. Erst gestern wieder zwei Australierinnen. Die Sache war gegessen. Zu wenig Gefahr war zu erwarten, keine Liebe schaukelte sich auf.

Einmal in der Wüste schwimmen, sagte es in mir, und der Gedanke wurde fest. Lass uns zum Mittelmeer fahren, sagte ich zum Kleinfirmendirektor, wo die Wüste ins Meer fällt. Der Nil ist ein Versager, seine Ufer sind mir zu grün. Der Kleinfirmendirektor fasste sich ein Herz und sprach bei seiner Verlobten vor. Am nächsten Tag saßen wir im klapprigen Zweitwagen der Schwiegerägypter und schossen über die Autobahn nach Port Said. Es war eine seltsame Autobahn, gebaut wie die unsrigen, man fuhr rechts, überholte links, und wenn man ein Rad wechseln musste, den Kühler nachfüllen oder die Wüste wässern, blieb man am Pannenstreifen stehen. Alle paar Kilometer kreuzten Abenteuer den Weg. Kamelkarawanen, Ziegenherden, Lastenmopeds, Traktoren, rückwärtsfahrende Busse. Unangenehm waren nur die Schlaglöcher, sie waren groß wie Swimmingpools, Frostbeulen konnten es nicht sein. Die Krater waren bösartige Fallen in einem unbekannten Konzept. Sein Sinn erschloss sich niemandem. Niemandem in unserem Wagen. Nicht viel leichter erklärte sich der tonnenschwere Block, der bei Kilometer fünfundfünfzig einsam auf der Fahrbahn lag. Wer hatte ihn hier zurückgelassen? Aus welcher Pyramide hatte man ihn ausgebaut? Waren hier die Außerirdischen am Werk gewesen? Es ist Ägypten hier, sagte die Verlobte, sie kannte sich aus, niemand weiß hier irgendetwas. Sie fuhr nicht wirklich gut, sie wedelte mehr, als dass sie fuhr. Der Verlobte strahlte sie an und sie strahlte zurück. Ich möchte jetzt aussteigen, sagte ich in solchen Momenten. In zwanzig Minuten kannst du aussteigen, sagte die Verlobte, und so geschah es auch. Ein kleines Nest wuchs aus dem Horizont, nahm in der Wüste Platz und flüsterte zu mir: Hier wirst du schwimmen, hier mitten in der Wüste. Hier werde ich schwimmen, sagte ich zu meinen Mitreisenden.

Hier kannst du nicht schwimmen, sagte die Verlobte, sie kannte sich aus. Niemand kann hier schwimmen. Es ist lebensgefährlich, es kostet deine Haut. Ich war richtig hier. Da drüben rechts, dann geradeaus, dann noch mal rechts, dann links und dann parke den Schlitten, sagte ich zur Verlobten. Und so geschah es, Ismailiya hieß der Ort. Sonnenschirme standen da, an einem kleinen Strand, in einem Bungalow gab es Tee und Kaffee. Für mich einen Tee, log ich und querte das Lokal, schritt durch die Palmen, dem Sand entgegen. Es war kein Muschelsand, es war Wüstensand, Steinsand, zerriebene Berge, fortgeblasene Pyramiden. Ich warf mein Gewand ab, entschleierte mich und stieg ins Wasser. Es war wie es sein sollte, es war Meer von Meeres Art, brackig und salin, bitter und warm. Das Meer trug mich, wie nur das Meer mich tragen konnte. Es war Meer, wie es der Vater versprochen hatte, auch wenn es mitten in der Wüste lag. Da drüben geht die Wüste weiter, sagte es in mir, da drüben am anderen Ufer, dort geht es nach Moisheland, wie weit wird das sein?, fragte es in mir, zwei Pyramiden weit vielleicht. Und ich schwamm. Schwamm nach Asien hinüber. Fast. Wäre das große Schiff nicht gekommen, Hapag-Lloyd stand in hausgroßen Lettern auf seiner Seite. Keine Welle zog sein Bug, gespenstisch still flog der Containerfrachter an mir vorüber. Ich zählte die Sekunden, die Container und wünschte, dass es zu mir sprach, das gewaltige Schiff, das mit mir im gleichen Wasser trieb. Und sie sprach zu mir mit ihrem tiefen Horn, die Rotterdam Express aus Hambuich. Moin, sagte sie, wir kennen uns.

True Story.

Erschienen in meinem Kurzgeschichtenband: “Ins Hotel konnte ich ihn nicht mitnehmen“, Metro-Verlag, Wien 2012, Seite 91ff. [Link].

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9. Ich habe mich eines Nachts im Café Kunsthalle angezündet und bin in Flammen gestanden.

Ja, ich brannte. Im wahrsten Sinn des Wortes. Nicht aus Liebe oder wegen indischem Essen. Einfach so, weil ich es konnte. Ich brannte. Lichterloh. Im alten Café Kunsthalle am Karlsplatz, an der Bar. Auf eigenen Wunsch.

Ist das wahr, oder erfunden?

Mal sehen.

Das Brennen hatte ich von Hjalmar Lindström gelernt. Hjalmar war Physiker und dachte sich Dinge mit Atomen aus, die ich nicht mal mit Legosteinen zuwege brachte. Hjalmar habe ich auf einer Fotografen-Party kennengelernt, es war drei oder vier, die Musik war auf Nachbartötungslautstärke aufgedreht und da tanzte er, Hjalmar.

Überall kannten sie Hjalmar. Der wird zu dir passen, hatten sie gesagt, Hjalmar, kein Zweifel. Paris und Kairo, Havanna und Moskau. Wohin ich auch kam, Hjalmar war schon bekannt, bevor ich kam. Und wen ich auch fragte, jeder wusste: Hjalmar ist dein Fall.

Eine leere Wohnung, leergeräumt für die Party, so war das, wenn Party war, in der Badewanne schwamm das Bier, halb untergetaucht, dazwischen für die Lahmen und Tauben: der Sprudel, für die Porschefahrer oder die mit der kranken Leber. Als Boboville jung war, war es mir gerade recht, wild und ungestüm, naiv und blaubeäugt. Die leere Wohnung, in der Küche saßen die Spachtler und strichen Brot, legten Radieschen auf oder Parmesanspäne, Salamiräder, Sardellenringe. In den Schüsseln gruben die Brotverächter, suchten nach den Schätzen im Nudelsalat. Wasser trank man nur auf Russisch, im kleinen Glas, Vodka, als gäbe es kein Morgen. Und es gab kein Morgen. Der Tag war nur der kleine, warme Streifen, auf dem man in die nächste Nacht ritt.

Es muss drei gewesen sein, als ich den Raum betrat, die Müdigkeit kroch an meinen Schläfen hoch, Dr. Mignon, der halb Bulgare war, saß in einem Lehnstuhl und sagte: Da bist du ja! Da bist du ja, sagte er zu mir, als hätte er mich gesucht. Dabei waren wir seit sieben Wochen unterwegs, und ich war nur in der Küche gewesen, um ein Brot zu hobeln. Dr. Mignon hielt ein Kristallglas in der Hand und nippte: Da bist du ja.

Mignon war nicht alleine im Zimmer. Wir waren zu dritt in dem leeren Salon, dick wummerten die Bässe aus der Stereoanlage. Wir waren nur zu dritt, und trotzdem war der Raum voll. Der Dritte hatte schwarze Locken wie Pasolini, er trug ein weißes Hemd, das er bis zum Nabel aufgeknöpft hatte, und er tanzte wie ein Verrückter, drehte sich im Kreis, im Dreipass, in Achtern, wie ein irregewordener Kreisel taumelte er in rhythmischen Arabesken durch den Raum. Das Feuer!, sagte der Tanzende, als er bei Mignon vorbeiwirbelte, ihm das Kristallglas aus der Hand nahm, seinen Inhalt, wohl Vodka, in einem langsamen Schwung in die Kehle goss und auf seiner Umlaufbahn durch den Raum weiterfliegend, des leeren Partygrals überdrüssig geworden, den Glaspokal in einem schrägen Wurf, im Rhythmus der Mucke gegen die Wand knallte. Alles am Tanzenden war elegant, alles gelang, als wäre es sein Tagesgeschäft, durch leere Bürgerswohnungen zu rotieren und antikes Glas zu zerschmeißen.

Das Feuer, verlangte der tanzende Pasolini jetzt wieder. Mignon warf ihm ein Zippo zu, ohne zu zielen, ohne einen Gedanken an seine Bahn zu verschwenden, warf das Feuer in den Raum, und als wäre das noch nicht kewl genug, fing der Derwisch ohne jede Anstrengung den Zünder. Aber warum hatte er keine Zigarette im Mund? Jetzt fiel es mir auf, wo der Tanzende das Zippo entflammte, jetzt, wo ich das metallischsirrende Klacken hörte, hinter dem Brei an Musik, das Geräusch, das die Zippohaube machte, wenn sie nach hinten übers Scharnier klappte. Das winzigkurze Rasseln, mit dem das Feilenrad über den Feuerstein fuhr, den Funken schlug und mit einem seufzenden Fauchen und einer kleinen, blau aufleuchtenden Wolke den Docht in Brand setzte.

Jetzt sollte eine Kippe zwischen seinen blitzenden Zähnen stecken. Aber das tat sie nicht. Der Tanzende hatte keine Zigaretten, keine im Mund und keine hinter den Ohren, keine in der Hand, und die engen Taschen seiner Jeans waren flach, ganz aper jeglich schachtelnder Beule. Der
Mann, der durch den Raum wirbelte, hatte das Zippo entflammt, die Acidjazzmucke wummerte durch uns durch und dann setzte der Tanzende das brennende Etui an sein Hemd.

Gelbe Feuerlocken fraßen sich an ihm hoch.

Der Tänzer brannte.

Mignons Augen bekamen ein Leuchten, in den engen Schlitzen, die seine müden Lider noch offen hielten. Der Derwisch tanzte und brannte. Er tanzte und brannte, aber er verbrannte nicht. Das Hemd, das er trug, fiel in glimmenden Fetzen von seinem muskulösen Körper, flog durch den Raum wie glosendes Laub.

Ein Unzerstörbarer, sagte ich zu Mignon, staunend, mein Mund stand offen, hast du das gesehen? Richtig, sagte Mignon, nippte an einem neuen Glas, ein Unzerstörbarer. Hjalmar, sagte Mignon, ich wusste, ihr würdet einander begegnen. Er wird zu dir passen, sagte er, Hjalmar, er kann brennen, nur er kann das.

Du bist Hjalmar, sagte ich, ich kenne dich, sagte ich zu ihm, als er nicht mehr brannte, deine Schwester hat mir von dir erzählt. Hjalmars Augen leuchteten wie große Feuerwerkskörper, mein Blick raste über seine nassgeschwitzte Brust. Makellos war sie, unversehrt von den Flammen.

Den Kerl wollte ich zum Freund und den Kerl bekam ich dann auch zum Freund.

Ich war Hjalmar verfallen und fortan zogen wir durch die Nächte.
Zogen durch die vollgeloungeten Bars, stiefelten durch den versifften Pappbechersalon unten am Kanal, kletterten in das Kunsthallencafe, den Gegenkultur-Sottopassaggio, die Wanne vor dem Vergnügungspark, die verrottete Backsteinburg vor den Toren der Stadt. Überall trieben wir uns herum, machten die Nacht zum Tag, schliefen in der U-Bahn, in den Apartments Unbekannter, ernährten uns von Sashimi und russischen Gesängen, Mulligatawny-Suppe und gebratener Wurst. In den Pausen zwischen den Erlebnissen legte ich mich auf meinen Arbeitstisch und ließ meine Hand Zeichnungen machen für das Kartoffeldruckblatt und die lachsfarbene Tageszeitung. Es war eine Welt, die kein Datum hatte, keine Jahreszeiten, keine Tagesanfänge. Siebenhundertsiebenundsiebzig Leute waren es, die in dieser Welt lebten, und irgendwann hatte ich sie durch. Kannte jeden und jede, jede Geschichte, jedweden Traum, alles war Routine geworden, jede Nacht war der Zwilling der vorangegangenen, nur das Vogelzwitschern vor dem Aufstieg der Sonne war nicht immer gleich, daran erinnere ich mich. An das Vogelzwitschern und den Geruch der nächtlichen Straßen.

Dies alles muss erzählt sein, damit man versteht, woher ich das konnte. Das Brennen.

Denn eines Tages, es war in der Bar, in der wir immer kondensierten, tat ich es ebenfalls. Nahm das Zippo, nicht den Vodka und zündete mich an. Ganz wie ich es von Hjalmar gelernt hatte. Dass er dabeistand, tat nichts zur Sache. Aber ich denke, es gefiel ihm. Es war Brennen von seinem Brennen.

Dem Kellner ist zu danken, dass er mich mit Wasser löschte und nicht mit Vodka.

True Story.

Zu lesen in meinem Stadtroman “Boboville”, Residenz-Verlag, 2008, pagg. 32f et 179ff. [Link]

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4. Ich habe in Ascona die 5-Sterne-Suite neben Sydney Pollack bewohnt.

2002 war ich mit meinem Film „Blue Moon“ in Locarno im Wettbewerb. Feine Sache. Die Regisseurinnen waren in sehr guten Spezialhotels untergebracht, ich logierte also im Hotel Giardiono***** in Ascona, dem noblen Nachbarort. Mildes Klima, italienische Schweizer, schweizerische Italiener, gutes Essen.

Meine Suite war größer als meine Wohnung in Wien daheim, ich hatte zwei Badezimmer, Imperatrix-Size-Bett und einen extra Besprechungssalon. In der Nachbarsuite gegenüber logierte Sidney Pollack, Ehrengast in diesem Jahr. „Hi Sidney, how ya doin?“

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Es geht weiter. Wahr oder falsch? Drei Erlebnisse sind noch im Rennen. Sehen wir uns eine weitere Begebenheit aus der Welt des Jet-Sets an.

5. Ich bin in Rom bei einem Mafia-Gala-Diner Ehrengast gewesen.

Wahr oder falsch?

Im Oktober 2002 war ich mit meinem Film “Blue Moon” zu einer Leistungs-Schau der österreichischen Kinofilmproduktion in Rom eingeladen. Im Flieger saß die Produzenten-Prominenz des Landes, denn die italienische Filmbranche hatte die österreichische zur Unterzeichnung eines bilateralen Freundschaft-Vertrags eingeladen.

Als Kulturprogramm waren mehrere Kinoabende mit aktuellen Produktionen angesetzt, die aktuellste war meine, und sie hatte ja auch, was nicht so selbstverständlich war, einen italienischen Verleiher, Valerio de Paolis, der auch einen italienischen Filmstart meines Filmes plante. Kurzum, ich war, ohne irgendein Zutun, Speerspitze des heimischen Filmschaffens. Zumindest im Oktober 2002, aus italienischer Sicht.

Neben Filmvorführungen und Kulturempfängen (besonders leiwand jener zu Ehren von Blue Moon im Palazzo Colonna) gab es Pressekonferenzen, Fraternisierungsevents und allerlei Panels.

Ein Event war ein bisschen anders. Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, wer die Einladung dazu ausgesprochen hatte, aber geladen waren alle in Rom anwesenden österreichischen Produzenten, Filmemacherinnen, Konsuln, Kulturattachées and the likes. Und ich.

Der Ort dieser sehr spezifischen Begegnung war ein teures Restaurant im Zentrum Roms. An den Wänden imponierten hunderte von Bildern italienischer Film-Super-Stars. Ich habe später versucht, herauszufinden, wie das Lokal hieß, es ist mir nicht gelungen (am ehesten dürfte es das „Alfredo alla Scrofa“ in der Via della Scrofa gewesen sein). Im Bauch des Lokals gab es einen dunklen, kühlen Saal, ein Hinterzimmer für besondere Anlässe. Auch hier an den Wänden Bilder von Filmstars, dazwischen die österreichische Filmszene, bilderlos, starlos, an die 50, 60 Leute, ein halber AUA-Flieger. Sie waren mit Hilfe von Namens-Täfelchen distribuiert, an runden Tischchen platziert.

Aber wo sollte ich sitzen? Wo stand mein Namenstäfelchen? Neben dem von Jessica Hausner? Neben Franz Novotnys Täfelchen? Neben jenem von Veit Heiduschka? Nein. Ich saß, so sagte es mein Namenstäfelchen, am Tisch Nr. 1, an der Stirn des Saales, neben Commendatore Luigi (Caesare? Massimo? Salvatore?) Taliquali, presidente del consiglio delle dings. Der Name des Commendatore ist mir entfallen, Mitschreiben war verboten, fotografieren war nicht erlaubt, mein Erinnerungszentrum war durch die Kaskade der Geschehnisse gelähmt.

Ich saß also neben Luigi (Caesare? Massimo? Salvatore?) Soundso, ein Mann wie aus einem Film von Martin Scorsese. Der Presidente war 1 Meter 40 groß, stämmig, mit einem feisten breiten Oberkörper wie ein römischer Zenturio. Den Anzug hatten ihm die besten Schneider der Stadt angemessen. Aus dem Anzug ragte ein Schädel so groß wie ein Medizinball. Der Commendatore hielt mich für die beste Braut im Saal. Wie auch anders, ich saß zu seiner Rechten, und mein Name stand als erste auf einer Liste, die neben seinem Teller lag. Der Commendatore lächelte mich an, wenn er mit mir sprach, ich selber durfte das nicht. Ich durfte, das fand ich bald heraus, nicht sprechen, denn hub ich an zu sprechen, ergriff der Commendatore meinen Arm mit eisernem Griff, lächelte und schenkte mir Mineralwasser ins Glas. “Carissima” sagte er dann und lächelte sardonisch. Der Commendatore wollte, dass es mir gut ging. Ich war sein Star. Und wie es aussah, hatte er schon bei Sophia Loren, Gina Lollobrigida und Virna Lisi geübt.

Sehr bald erhob sich der Commendatore, klingelte mit einem Messer an seinem leeren Glas und hielt die Rede. Nicht eine Rede, “die” Rede. Sie dauerte 45 Minuten, wovon die ersten 35 der Adressierung vom anwesenden Zelebritäten gewidmet waren, die alle in irgendeinem Abhängigkeitsverhältnis zum Commendatore standen, uns Österreichern aber völlig unbekannt waren. Der jeweils Gelobte sah bei der ihm gewidmeten Eloge beschämt zu Boden, als wären die scharfen Blicke des Commendatore gefährliche Strahlen.

Wann immer jemand Neuer vom Commendatore gelobt, gewürdigt und mit lyrischen Blumen bedacht war, strich er mit einem goldenen Kugelschreiber den betreffenden Namen auf seinem Zettel durch. Unterbrochen wurde des Commendatores Sprechschwall nur von mir, dem Ehrengast, und immer dann, wenn ich durstig wurde, und mir Wasser einschenken wollte. Dann zerdrückte der kleine Mann mit dem schwarzen Haarkranz meinen Arm bis es knirschte, und schenkte mir ein. Unter Applikation von süßen Komplimenten, in denen das Wort “Carissima” mehrmals vorkam.

Die anwesenden österreichischen Produzenten hassten mich. Die anwesenden österreichischen Filmemacher hassten mich. Die anwesenden österreichischen Kulturattachés hassten mich. Sie hassten den Ort, die Veranstaltung und sie hassten das Nichtvergehen der Zeit. Den aufkommenden Hunger. Den Durst. Die Stimmung war eisig.

Wer je den Film “Some Like it Hot” von Billy Wilder gesehen hat, wird die Szene erinnern, in der die Teilnehmer an der “10th Annual Convention – Friends of Italian Opera” den Ausführungen von “Little Bonaparte”, Vorsitzenden der “Organisation” lauschten.

Was auch immer der offizielle Name der Sache hier im Bauch von Rom war, die Bezeichnung “Mafia-Gala-Diner” entsprach in jedem Aspekt den Geschehnissen und ihren Hintergünden.

True Story.

***

Noch im Rennen waren damit noch zwei Erlebnisse, behauptete ich doch 3., einer toten alten Dame mit einer Säge aus dem Baumarkt die Schädeldecke aufgesägt zu haben, und 7., mit Gerd Schröder in Köln Boogie Woogie getanzt.

Wie war das mit Gerd Schröder? Habe ich den je kennengelernt? Ist die Geschichte wahr oder falsch?

Als Österreich noch sozialdemokratische Regierungschefs hatte, gab es ein jährlich wiederkehrendes gesellschaftliches Ereignis, das sich „Kanzlerfest“ nannte. Zu so einem Sommergarten-Kanzlerfest waren etwa 5000 Künstler und Politiker, Kaufleute und Journalisten eingeladen. Und die beste Freundin und ich.

Die beste Freundin und ich waren einerseits aus schlichter Neugier dort und andererseits deshalb, weil wir uns Einladungen zuschanzen hatten lassen, die eigentlich für wichtigeres Publikum als uns gedacht waren.

Die beste Freundin und ich trugen Casual Cocktail Wear, der mode- diktatorisch nach Schuhen schrie, die für Kieswege und Rasenziegel völlig ungeeignet sind. Die beste Freundin und ich standen daher den ganzen langen Abend mehr, als dass wir gingen. Auch um in Stöckelweite der Tische mit den köstlichen Häppchen der teuren Caterer zu bleiben.

Hinter den Tischen mit den köstlichen Häppchen der teuren Caterer wogte ein Fliederbusch im kühlen Frühsommerabend. Und hinter dem wogenden Fliederbusch standen große Männer mit dicken Hälsen, dunklen Sonnenbrillen und mit Kabeln im Ohr. Und hinter diesen saß der Kanzler der Republik Österreich, der Sozialdemokrat Viktor Klima, und plauschte mit Dichtern und Denkern, mit dem Mahr-Hansi, mit dem Heller-Franzi und mit einem kleinen, breiten Kerl. Viktor Klima hatte zwar oft den Mahr-Hansi bei sich, aber selten große Männer mit dicken Hälsen und auch keine kleinen, breiten Kerle. Während wir also so sannen, was es wohl mit diesen Männern auf sich haben mochte, ging plötzlich enorm viel Licht an, auf der Kanzlerseite unseres Fliederbusches.

Fernsehlicht.

Die beste Freundin und ich wurden nervös wie Goldfische, wenn ihnen das Wasser knapp wird, und versuchten, ein Plätzchen an einem der weniger prominenten Fliederbüsche zu finden. Vergeblich. Fernsehen ist schneller als Beste Freundinnen (BF) in Casual Cocktail Wear und untragbaren Pumps. BF und ich lachten in Kameras. Licht blendete, und irgendwie roch es nach glimmender Lunte. Etwas ganz, ganz Dickes lag in der Luft.

BF und ich sahen einander an, und ein Gedanke brannte durch unsere Hirne: Nicht wir, lieber Gott, bitte nicht wir! Und während wir so beteten und Gedanken in unseren Hirnen brannten und Licht sich in unser dezentes Make-up grub, sahen wir ihn. Einen kleinen Mann, mehr breit als hoch: Gerhard Schröder. Lebend. In Echtzeit.

Von Kameras beäugt, von Tausenden Kilowatt Licht bestrahlt und von Henkern mit Kabeln im Ohr beschattet. Und dann ging alles ganz schnell.
Der damalige Mittelpunkt der deutschsprachigen Politik stand vor uns. Ein kleiner Mann, mehr breit als hoch, mit einem Lächeln aus Keramik, mit einer Stimme wie der Synchronsprecher von Sean Connery. Das Lächeln kam näher, eine Hand packte zu wie ein Schraubstock, zerdrückte die meine wie ein Bündel frisch gekochten Spargels, und die Synchronstimme von Sean Connery sagte:

„Gerd Schröder. Guten Abend. Wie gehts?“

So war das. BF und ich brauchten zwei Jahre, bis wir unsere Hände wieder verwenden konnten.

True Story, erschienen in: „Fragen Sie Frau Andrea, Fantastische Kolumnen„, Falter Verlag Wien, 2003, pagg. 184f.

Aber: Sollte ich Gerd Schröder nochmal in Köln treffen und mit ihm Boogie tanzen? Gibt es zwei True Stories mit Gerd Schröder und mir?

***

Das Finale.

3. Ich habe einer toten alten Dame mit einer Säge aus dem Baumarkt die Schädeldecke aufgesägt.

1992 oder 1993. Ich studierte Medizin. Vorklinik. Der erste große Tanker des Studiums, der Sezierkurs II. Das bedeutete fünf Tage in der Woche von 9 bis 5 im Seziersaal zu stehen, elf Wochen lang. Elf Wochen lang mit fünf anderen, zu sechst also, an einer menschlichen Leiche, Präparat genannt.

Dem Anlass entsprechend waren strenge Verhaltensregeln einzuhalten. Weiße Mäntel, gepflegtes Äusseres, Anwesenheitspflicht. Mitarbeitspflicht. Es gab Zwischenprüfungen, es herrschte anatomische Genauigkeit. Lachen und witzeln bedeuteten den Rausschmiss. Lippenstift und Fotografieren war verboten, Musik aus dem Walkman sowieso, lackierte Fingernägel ebenso. Zu Mittag aßen wir Leberkässemmeln in der Kantine des Anatomischen Instituts. Das Haus roch nach Formalin, die Leiche roch nach Formalin, unsere Finger rochen nach Formalin, und nach zwei Stunden Arbeit mit Skalpell und Pinzette waren sie taub. Nie werde ich den Geruch vergessen. Aber die Arbeit lehrte mich, Ehrfurcht vor dem menschlichen Körper zu haben.

Elf Wochen, also 55 Tage lang, arbeiteten wir an der uns gänzlich unbekannten Leiche eines Menschen, der sich der Anatomie zur Verfügung gestellt hatte. Unsere Leiche, unser Präparat, wie wir sagten, war der Körper einer alte Dame. Eine nette Omi und ein guter Mensch, denn alle, die sich der Anatomie zur Verfügung stellten, machten dies freiwillig und nur aus einem Grund: Der Universität dabei zu helfen, gute Ärzte auszubilden, die ihr Wissen der Heilung von Patienten zur Verfügung stellten.

War es Woche 10 oder Woche 11? Ich weiß es nicht mehr. Das Leben, das Studium hatte keine üblichen Anhaltspunkte. Das Leben, das Studium war von einem kleinen blassblau broschierten Heftchen bestimmt, der Anleitung zum Sezieren eines ganzen Körpers.

Situs cavi cranii.

Wie musste man vorgehen? Es stand minutiös beschrieben in dem kleinen blassblauen Heftchen. Es war nach einigen Wochen der Arbeit am Präparat schon etwas abgegriffen, roch nach Formalin. Was stand da im Heftchen, was war zu tun, an diesem datumslosen Freitag?

„Vorbereitung“ stand da: „Medianspaltung der Galea aponeurotica über der Kalotte mittels Schnitt von der Augenbrauenhöhe bis zum Hinterhaupt. Ablösung mit dem Periost. Abtrennung des M. temporalis vom oberen Ursprungsrand bis zur Höhe der Oberkante des Ohrmuschelansatzes. Abtrennung des Schädeldachs durch Sägeschnitt oberhalb der Augenbrauen und des Ohres.

Sodann: Entfernung der Nackenmuskeln und Freilegung der knöchernen Hinterhauptschuppe. Beiderseits Sägeschnitt von retroaurikulär zum lateralen Rand des Foramen magnum.“

Und schließlich: „Entfernung des Schädeldachs. Studium der harten Hirnhaut.“

Wir waren zu sechst und wir waren fleißig. Präparierten frei, sahen, betasteten, setzten Schnitte, legten frei, lernten dabei, mussten vorher auswendig gelernt haben, was zu tun war. Auch wenn es schon Routine war, dies war eine spezielle Region.

Situs cavi cranii.

Es war es so weit, wir holten den gestrengen Assistenten, Dr. Nadelsaus (er hieß natürlich anders). Mit geübtem Blick besah er unser anatomisches Freilegungswerk. Der gestrenge Assistent war zufrieden, der nächste Schritt durfte angegangen werden. An den anderen Tischen waren sie schon soweit und hatten das Spezialwerkzeug ausgefasst. Das machten wir jetzt auch, aber da war nur mehr eine einzige Knochensäge, Edelstahl, teuerstes, feinstes Material aus der Spezialmanufaktur. Die letzte freie Knochensäge im Saal. Unsere.

Und so huben wir an mit dem Werk: Entfernung des Schädeldachs. Beiderseits Sägeschnitt von retroaurikulär zum lateralen Rand des Foramen magnum.

Aber die Säge schnitt nicht, die Säge war meier, das Sägeblatt stumpf und weich wie ein Buttermesser vom Ponyhof. Ein neues Sägeblatt wollte eingespannt werden. Aber da gab es kein neues Sägeblatt. Im gesamten Anatomischen Institut gab es kein Knochensäge-Sägeblatt. Die Uhr tickte, der Zeitplan, ansonsten in 15-Minuten-Schritten getaktet, entglitt.
Einer an unserem Tisch erbot sich, Sägeblätter für die butterweiche Knochensäge bei seinem Onkel im Unfallkrankenhaus zu erfragen. Chancenlos, wusste der Assistent, Dr. Nadelsaus, Sägeblätter dieser Art, dürfe man nur bestellen, megakompliziert, nicht vor Montag in drei Wochen, bei der Spezialfirma irgendwo in Schwaben, nach Erlaubnis vieler Stabsstellen im Institut, in der Fakultät, im Rektorat. Das Gehirn von Anatom Nadelsaus rauchte, und dann sagte ich in das Ticken der Uhr und das Verkohlen des Assistentengehirns:

„Dann kaufe ICH eine Säge.“

Und das machte ich dann auch. Setzte mich ins Taxi und fuhr in den nächsten Baumarkt. Die Uhr tickte, die Zeit galoppierte, und ich mit ihr durch die Regalschluchten. Wo waren die Sägen?

Wo
waren
die
verdammten
Sägen?

Schöne Metallsägen.
Mit scharfen Blättern.

Nirgends waren die. Die verdammten Metallsägen, schön, mit scharfen Blättern waren ausverkauft.

Ich tat, was jede getan hätte, um ihre Ehre zu retten, um die Ehre ihres Sezierkurstisches zu retten, um die ganze Menschheit zu retten:
Ich nahm ich eine 16-Euro-40-Säge vom Hänger, oranger Griff, Modell Fuchsschwanz.

Mit dem Taxi zurück in den Seziersaal. Assistent Nadelsaus rollte mit den Augen. Ich sagte: Aber sie ist scharf. Nadelsaus nickte. Was war zu tun? Das Heft sagte: Entfernung des Schädeldachs. Beiderseits Sägeschnitt von retroaurikulär zum lateralen Rand des Foramen magnum.

„Wer sägt?“ Schere-Stein-Papier verbot der Anstand.

„Ich säge“, sagte ich, und das tat ich dann auch.

So habe ich im Anatomischen Institut der Universität Wien in der Währingerstraße, an einem ins Wochenende kippenden Freitag einer alten toten Dame die Schädeldecke aufgesägt.

True Story.

Mit Schröder habe ich nie getanzt.

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Die Original-Postings mit vielen Kommentaren der Facebook-Gemeinde gibt es hier [https://www.facebook.com/andreamariadusI/posts/2565820913524406?]
und hier (Finale) [https://www.facebook.com/andreamariadusI/posts/2588623077910856?] nachzulesen.


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