Magic Christian

Vorgestern bin ich im südöstlichsten Zipfel von Österreich einem Zauberer begegnet. Die magische Begegnung der schwimmenden Art fand im Sportbecken der Therme Bad Radkersburg statt.

Magic Christian.jpgIn Bad Radkersburg, einem kleinen, trotz der Nähe zum Balkan von schwäbischer Sauberkeit infiziertem steirischen Städtchen war ich zugegen, um meine Mutter zu besuchen. Meine arme Mama hat sich nämlich vor ein paar Wochen bei einem Heurigenunfall die Hüfte gebrochen und gleich auch noch den Arm. Und weil der Unfall in der Steiermark passiert ist, wird sowas gleich auch in der Steiermark behandelt. Aus therapeutischen Gründen kurt sie also in dem kulturtechnisch verschlafenen, mit Vital-Hotels und Wohlfühlepensionen aber durchaus reich gesegneten Nest.

Am Rande des blankgeputzen Ortschaft, zwischen Gen-Mais-Feldern und dem Grenzfluss zu Slowenien, der malerischen Mur, befindet sich das, in der postmodernen Eleganz des späten Raiffeisenstils errichtete Erlebnisbad. Es wird von thermischem Stinkewasser gespeist, das dort eher zufällig, bei einer ansonsten vergeblichen Erdölbohrung gefunden wurde.

In solchen Fällen von Kohlenwasserstoff-Förderdesastern wird in Schnitzelland nicht lange gefackelt: Statt Ölfördertürmen und Pipelines werden eben Wellnesshäuser und Thermalschwimmbäder aus dem Boden gestampft.

Wenn das Wasser aus der Tiefe dann auch noch mit unterirdischen Stoffen belastet ist und sich damit nicht zur Abfüllung in Mineralwasserflaschen eignet, nennt man es Thermalheilwasser. Stets ist die Brühe nämlich bacherlwarm, wie das in Österreich so schön heisst, also warm wie ‚Pisse‘.
Dort war ich also, um meine rekonvaleszente Mama zu besuchen.
In Bad Radkersburg.

Vorgestern abend nun beschloss ich, der therapeutischen Anlage einen Besuch abzustatten, um im dortigen Sportbecken ein paar Dutzend Längen runterzukurbeln.

Bei Länge 7, auf der Reise vom östliche Teil in den westlichen Teil des Pools kam er mir entgegen. Die Sonne war schon tief in den pannonischen Horizont gerutscht und schickte sich an, hinter dem 2-Meter-Sprungturm zu verrosten, als die Paparazzierung geschah.
Erst sah ich eine babypofarbene, gut durchblutete, von kurzem blondem Resthaar umspielte Glatze.

Dann, einer schüchternen Katzenhaifinne nicht unähnlich, die Nase des Magiers. Die Nase mit dem magicchristanösen kleinen Höcker. So einem Höcker wie sie Boxer haben, die als junge Knilche welche auf die Nase gekommen haben, es aber boxtechnisch dann doch nicht bis in die Rosenkohlohrenfraktion geschafft haben.

Nach der Nase, schon im seitlichen Vorbeischwimmen, sah ich dann den ganzen Kopf. Und mein Verdacht, der sich schon vom Anblick der sportlichen Nase genährt hatte, bestätigte sich:

Hier schwamm Magic Christian, der grösste Zauberkünstler des Landes, rücklings, mit der Magier-Glatze voran, schnaubend wie ein altes Fischerboot, Reste von Eleganz im Kielwasser hinter sich her ziehend. Ein Schwarm Mücken folgte dem grossen Magier wie Möven einem norwegischen Fischstäbchen-Trawler.

Hier schwamm Magic Christian, der – kollegentechnisch nicht unbedenklich – enthüllte, wie Uri Geller Löffel und Gabel, ja ganze Besteckladen verbiegt, Armbanduhren fernnündlich zum Gehen bringt, und der dahinter kam, wie phillipinische Zaubermediziner ganz ohne Narkose und Skalpell himbeersaftfarbene Tempotaschentüchern aus Tumorpatienten operieren…

Magic Christian, der vier Asse so leicht aus dem Ärmel zieht wie unsereins einen Strohhalm aus dem Eiskaffee.

Und wie er da so schwamm, zauberisch eine kleine thermale Bugwelle vor sich her schiebend, dachte ich, ob er wohl für mich ein Häschchen aus seiner Schwimmhose zaubern könnte, so mit links oder ob es im Thermalbad nicht wohl eher ein kleiner weisser Biber sein müsste…
© Andrea Maria Dusl

Alfred Biolek

Vielleicht an einem Donnerstag um das Jahr 1996, eventuell im Sommer, besuchte ich mit meinem damaligen Freund Martin die Stadt der Tagtrauer, die Fadometropole Lissabon. Als wir, vom allgemeinen Gestus der Stadt durchdrungen, todtraurig durch die Strassen kletterten (Lissabon ist an einen Steilhang geschmiedet) geschah es uns, dass wir in einem Strassenlokal den Papst des Selbergekochten, Alfred Biolek sitzen sahen.

Alfred Biolek.jpgBio hatte ein luftiges Blumenhemd in der Art der Hawaiianer, sandfarbene Bermudas und gut gepflegte Gesundheitssandalen an, war braungebrannt wie Lebkuchen und sah drein, als hätte er gerade dreimal hintereinander Geburtstag gehabt. Das kleine Metalltischchen an dem er saß, gehörte zu einer, nur in Portugal bekannten, grüngelb gestrichenen Fastfoodausspeise und er teilte sich das Dortsitzen mit einem, sicher keine 16 alten, blondgelockten Eingeborenen.

Ich war schockiert und ergriffen zugleich. Der Hohepriester des Individual-Kochens, fernab der Kölner Heimat, in einem Junk-Food-Lokal!
Ich lächelte, sagte ‚Hallo Bio‘ und erntete ein Strahlen, wie es nur ein Feld glücklicher Sonnenblumen aufzubringen imstande ist.

Alice Schwarzer

Im Jahre 1996 war ich mal auf Kurzbesuch in der nebeligen Rheinmetropole Köln. Die paar Tage waren mit Unerinnerbarem angefüllt (es ist durchaus möglich, dass es sich um eine der Lomographischen Missionsreisen handelte.)

Was mir allerdings stets in Erinnerung bleiben wird, war ein Spaziergang durch die Altstadt. Ich habe mich in der dortigen Mischung aus Metropolen-Flair und absolutem Kleinstadtmief wohlgefühlt und bin munter aber ziellos durch die Strassen geirrt.

Alice Schwarzer.gifIn einer unbelebten Seitengasse blieb ich vor einem zahnfarben angespachtelten Laden stehen und dachte bei mir: ‚Hmmmm, seltsam, dass es noch immer Frauen gibt, die mit Alice-Schwarzer-Frisuren herumlaufen. (Es handelte sich um so eine Art langer strähniger ausgewachsener Dauerwelllocken, in der Art wie wir sie uns in den frühen 70er selbst applizierten, und dann höllisch unter ständigen bad-hair-day-Erlebnissen litten.)

So eine Alice-Schwarzer-Frisur hatte diese Frau, die ich da, von hinten in dem Laden stehen sah und dazu trug sie ein schwarzes Sackkleid und schwarze Weichstoffschuhe mit Spangen (Ich nenne solche, auch in Samt zirkulierenden Schühchen ‚Anden-Espandrillos‘).

Ich denke also bei mir: ‚Seltsam dass es noch imme Leute gibt, die haargenau wie Alice Schwarzer rumlaufen und dazu auch noch stehen…‘ und dann dreht sich diese Frau um und IST Alice Schwarzer!
Ich war sehr baff und sagte ‚Hallo‘ und sie lächelte selig und dann dachte ich noch bei mir: ‚Aber warum steht Alice Schwarzer ausgerechnet in einem zahnfarbenen Laden rum der nach nichts aussieht, und in dem niemand einkauft? Mal sehen, wie der Laden heisst‘ Und da las ich, wie der Laden hiess:
EMMA.

George Tabori

In den 80er Jahren arbeitete ich als Bühnenbildassistentin, war sehr unglücklich und wollte dringend nach London auswandern um dort vom Glück einer wirklichen Stadt zu naschen. Ich sparte und sparte Geld und sagte mir, ‚ich mache alles, um endlich aus dem grauslichen Wien rauszukommen‘.

Tabori.gifIch studierte den Stadtplan von London, als das Telefon schrillte. Es schrillte wie in einem schlechten Film. Und wie in einem schlechten Script war am anderen Ende ein Agent mit einem Angebot. Ob ich nicht dringend Lust hätte, ans Burgtheater zu kommen. Als Bühnenbildassistentin. In eine Inszenierung von George Tabori. Es gäbe allerdings einen Haken. Der Haken sei die Frau, mit der ich arbeiten sollte. Drei Bühnenbildassistenten vor mir seien entweder im Irrenhaus oder in der Donau gelandet. Die Frau sei unmöglich, das sei der Haken.

Ich sagte zu und die Frau war unmöglich.

Mit George Tabori, dem Regisseur des Stücks hatte wenig Kontakt, ich genoss seinen Ruhm sozusagen aus der Entfernung. Ich schuftete schwer. Es war auch ein schweres Stück. Das Stück hiess ‚Mein Kampf‘ und handelte vom jungen Hitler und der Freundschaft mit seinem jüdischen Bettnachbarn im Männerheim.

Eines Tages lud ‚Dschohdsch‘ – so sprach man den Namen des Theatergottes George aus – das gesamte Team, Schauspieler, Regieassistenten, die Souffleuse und mich in ein feuriges ungarisches Lokal in der Wiener Kärntnerstrasse. (George Tabori ist Ungar.) Dort assen und tranken wir ausgiebig ungarisch und hatten viel ungarischen Spass. ‚Dschohdsch‘ kam neben mir zu sitzen und zwischen einem Paprikahuhn und einem Pörkelt erzählte er mir, er sei Geheimagent. Geheimagent im Vorruhestand. Er erzählte, wie er in den letzten Kriegsmonaten in einem Kloster in Istanbul einquartiert gewesen sei, um dort mit anderen ungarischen Intellektuellen für den britischen Geheimdienst an ungarischen Radiosendungen zu basteln.

Ein ganzes Jahr lang hätten Sie Sendungen gemacht für Ungarn. Tolle Sendungen mit tollen Geschichten. Tolle Geschichten voll Feuer und tolle Gags. Keine einzige wurde je gehört. Keine einzige. Er habe nach dem Krieg seine ungarischen Freunde gefragt, wie ihnen die Radiosendungen aus dem Kloster in Istanbul gefallen hätten. „Welche Radiosendungen?“

George wusste viel über das Agentengeschäft zu berichten. Unter anderem, daß sämtliche Geheimpost mit Zitronensaft zwischen die Zeilen von ordinären Liebesbriefen geschrieben wurde. (Ganz genau so, wie wir als kleine Mädchen unsere Geheimbriefe verschickten.)

Tabori kannte auch einen ungarischen Schuster. Den 007 der ungarischen Schuster. Dieser Schuster sei so geschickt gewesen im Umgang mit Leder, daß er die Schuppen von Krokodillederhandtaschen so raffiniert aufschlitzen konnte, dass man darin Mikrofilme unterbringen konnte. Mit den krokodilledernen Mikrofilmhandtaschen des ungarischen Schusters wurden die Agentinnen des britischen Geheimdienstes bestückt und so manche kriegsglückwendende Geheimbotschaft herumgetragen.

Als es zum Zahlen kam, und George seine diamantene Creditkarte zückte, erwarteten alle insgeheim, dass er die kolossale Rechnung einer hungrigen Truppe von 12 Theaterleuten mit ebendieser Creditkarte zahlen würde. Die George-Aficionados hatten zwar ihre Geldbörsen in der Hand, machten aber keine Anstalten, Hundertschillingscheinchen herauszurücken. Niemand raschelte mit den Hundertschillingscheinchen und niemand sagte den berühmten Satz. Niemand sagte: ‚also ich hatte….‘

In diese Theaterstille hinein wurde es in George Licht und seine gleichermassen sonore wie zerbrechliche Bassstimme errichtete einen Satz von poetischem Realismus: ‚Alle hier zahlen selbst nur ich zahle das Essen von Andrea.‘

Ich fand das sehr sehr ungarisch und bin daher auch sofort geschmolzen.

Die Leningrad Cowboys

01-01-2001 / 14:20

Um das Jahr 1996 sollte die Finnische Cult-Combo ‚Leningrad Cowboys‘ auf dem legendären Wiener ‚Donauinselfest‘ auftreten. Ein Sturmtief regnete aber soviel Wasser auf das Fest, dass der Auftritt aus Sicherheitsgründen (Elektrisiergefahr an den Stromgitarren!) abgesagt wurde.

Ich war damals mit einer skurilen, semiavantgardistischen Truppe befreundet, die sich Lomographen nennen, und die behaupteten, ‚Freunde‘ der Leningrad Cowboys zu sein. In ihrem Schlepptau kam ich erst zur verregneten Stätte der Absage und dann in eine Sattellitenstadt von Wien. Dort sollte ein Ersatzauftritt stattfinden. Hiess es. Vor der ‚Rockhalle‘, wie das Lokal hiess, stauten sich Hunderte erboster Leningrad-Cowboy-Fans, die alle nicht einsehen wollten, warum sie auf ihre Idole verzichten sollten.

Leningrad Cowboys Sauna.jpg
Leningrad Cowboys in der Sauna.

Die Lomographen und ich kämpften uns durch die Menge und wurden schliesslich an einer Glastüre vorstellig. ‚Nein‘, hiess es, ‚die Cowboys träten nicht auf und wir sollten uns verziehen‘. Die Lomographen gaben zu bedenken, dass sie ja ‚Freunde‘ der Leningrad Cowboys‘ seien, fanden damit aber kein Gehör.

Ich sprach schliesslich ein paar Worte schwedisch (das man dort offensichtlich für finnisch hielt) und zeigte meinen Presseausweis, worauf wir seltsamerweise Einlass fanden. (Die Lomographen konnte ich als meine Assistenten ausgeben.)

Die berühmten Leningrad Cowboys sassen drinnen bei schalen Brötchen und lauem Bier in der Kantine der ‚Rockhalle‘ vor einem Fernsehapparat und verfolgten ein Fussballspiel. Ich denke es war irgendetwas in der Richtung Holland-Frankreich. Die Cowboys sahen alle eher aus wie Tankwarte und hatten ihre famosen steilen Tollen zu ordinären Pfferdeschwänzen zurückgebunden. Sie sahen alles andere aus wie skurile Popstars. Eher wie Al Bundy mit Antonio-Banderas-Frisur.

Ich wettete 20 Scheinchen (Währung gab ich keine an) gegen einen Sieg von Holland. (Auf diese Truppe hatten sich die Finnen eingeschworen). Frankreich gewann das Fussballspiel zum grossen Entäuschung der Leningrad-Cowboys und ich damit einen Original-2O-Finnmarkschein, der von allen Cowboys signiert wurde.

Um die Stimmung zu heben habe ich dann vorgeschlagen, ein paar Taxis zu rufen und in ein Lokal namens ‚die Bar‘ zu fahren, um beim dortigen Barkeeper, Herrn Horst Scheuer mit meinen neuien Freunden anzugeben. Horst war aber nicht da und so sind wir dann in das Nachbarlokal, eine Studenten-Absturz-Kneipe namens ‚Altwien‘ gegangen.

Weil die Leningrad Cowboys aber allesamt eher wie Helsinkier Tankwarte, als wie finnische Kultstars aussahen, nahm niemand im ‚Altwien‘ grössere Notiz von ihrem Dortsein. (Eine Freundin, der ich am Klo begegnete, wollte mir erst gar nicht glauben, sah aber dann doch nach dem Rechten und übergoss mich mit Hohn: ‚Wenn das die Leningrad Cowboys sind, dann steht bei mir grad Elvis Presley an der Theke!‘)

Die 9 bis 12 Leningrad Cowboys (ich glaube, auch die Mixer und Gitarrenkabelträger zählen da mit) tranken Unmengen von Vodka und sprachen insgesamt etwa fünf Sätze in acht Stunden. Das sei so üblich bei Ihnen erklärte mir ihre Managerin.

© Andrea Maria Dusl

35 Partagas Superfinos

ILLUSTRATION · DREI ZEICHNER
Wie eine Zeichnung entsteht
ANDREA DUSL
Falter, 4. Juni 1997, 20-Jahre-Beilage pag. 90. Zum Fest „20 JAHRE FALTER“ am 5. , 6. und 7. Juni in der Tribüne Krieau .

Ein strahlender Montagmorgen: Die Zeiger meiner sowjetischen U-Boot-Kommandantinnen-Uhr stehen auf elf Uhr zwölf und ein gut geübtes Ritual nimmt seinen Anfang. Der würzige Geruch einer vollen Kanne frischgebrühten „Alvorada“-Kaffees und ein bekanntes Rascheln wecken mich aus süssen Träumen: Mein Kammerdiener Jacques öffnet zwei Packungen meiner Lieblingszigaretten „Partagas Superfinos, Serie B, No.2″ und legt die Morgenblätter „Der Standard“, „FAZ“, „profil“, „NZZ“, und „Washington Post“ zur Lektüre bereit. Während ich unter drei vorbereiteten Schneidereien – meist „Armani“, „Lang“ oder „Schneidermeister Dick aus Gföhl“ – wähle, füllt Jacques mein „Zippo“ mit frischem Kerosin. Die Morgenmusik besteht stets aus bekannten Klängen: „Low Down“ von J.J.Cale bei bedecktem Himmel, „Crosstown Traffic“ von Jimi Hendrix bei Schneefall oder Hagel, die „Hymne der Sowjetunion“ bei strahlendem Sonnenschein wie heute.

Zur Einstimmung auf den Arbeitstag rauche ich zwei „Partagas Superfinos“, wobei mich Jacques vergebens auf die Gefahren der Nikotinsucht hinweist. Das erste Häferl Kaffee begleitet mich durch die Lektüre der Montagmorgen-Publikationen, das zweite nehme ich während des Studiums einer von Falter-Schlußredakteurin Michaela „Babsi“ Streimelweger verfassten Depesche zu mir. In knappen Worten informiert sie mich darin über Titel und Autor des zu illustrierenden Textes. Jacques stellt eine telephonische Verbindung in die Falter-Redaktion her, weil aus den vorliegenden Millimetervorgaben nicht eindeutig hervorgeht, ob ich zum Anfertigen einer hoch- oder querformatigen Zeichnung eingeladen werde.

Die dritte Tasse Kaffee und mittlerweile fünfte „Partaga Superfino“ widme ich dem Lesen des beigelegten Textes. Einige stilistische und mehrere inhaltliche Inkongruenzen ignoriere ich aus Mangel an Zeit. Jacques hat inzwischen die Formatfrage geklärt und legt den Transparentblock „Diamant Extra Spezial, Nr. 105 glatt, 90/95 Gramm pro Quadratmeter, DIN A3″, den Minenblei „Faber Castell TK-Fine 9717, Stärke 0,7″ zwei Tuschestifte „Staedtler marsmagno 2° in den Stärken 0,35 und 0,18 sowie eine, auf Atomdicke zugeschärfte Rasierklinge bereit. Die Arbeit kann beginnen.

Jede von uns kann zeichnen, das meine ich ganz ernst und ohne polemischen Unterton. Wie nervenzerüttend und von Termindruck, aufgepeitscht das Zeichnen einer Falter-Zeichnung sein kann, weiß außer Rudi [Klein] und Tex [Rubinowitz] allerdings niemand. Sie selbst würden es nie zugeben. Das Zeichnen einer Falter-Zeichnung ist tausendmal anstrengender als das Verfassen eines Falter-Artikels. Ich weiß das, weil ich beides ausprobiert habe. Nichts ist so furchtbar Herz-Kreislauf-belastend, wie das Zeichnen einer Falter-Zeichnung. Einer Falter-Zeichnung sieht man nämlich sofort an, ob sie genial ist oder ein Superschas, einen Falter-Artikel muß man zumindest vorher durchlesen.

Aus einem einzigen Grund konsumiere ich die gefährlich vielen Zigaretten und die enormen Mengen an Kaffee: Jacques, der einzige mögliche Zeuge meiner Qualen soll im Glauben bleiben, meine Aufgerührtheit käme von den aufgenommenen Stimulantia. Jacques, ein Vorbild an Verschwiegenheit zieht sich daher aus Contenance in den Südtrakt meines weitläufigen Appartements zurück, um mir ja nicht das Gefühl zu geben, Mitwisser der zeichnerischen Unruhe zu werden. Der schwierigste Part im Zeichnen einer Falter-Zeichnung ist das Ausdenken der Falter-Zeichnung: Eine gedankliche Leistung, ähnlich der von Gari Kasparov im Kampf gegen Deep Blue. Aus zweieinhalb Milliarden Illustrations-Möglichkeiten muß ich die Beste auswählen. Meine Großhirnrinde leistet jetzt Schwerarbeit. Im Aschenbecher „Eins“, einem blauen Produkt, das ich einst im Stadionbad mitgehen habe lassen, liegen jetzt schon 17 Kippen, im Aschenbecher „Zwei“, einem schwedischen Designerstück, fünf ausgedämpfte und zwei brennende „Partagas Superfinos“.

Ich läute nach Jacques, es ist unser vereinbartes Zeichen, daß die Kaffeekanne Ieergetrunken ist. Mein treuer Diener bringt mir flugs frisches Coffeein und der fade Teil des Morgens kann beginnen. So anstrengend nämlich das Ausdenken einer Falter-Zeichnung ist, so einfach und bizarr unkompliziert, ja geradezu watscheneinfach ist das Zeichnen einer Falter-Zeichnung. Ich muß das ausgedachte Bild nur vom Kopf aufs Blatt projizieren und nachzeichnen. Ich male also ein Kastl in der Größe des gewünschten Formats in die Mitte vom Transparentblock und beginne links unten mit dem Anbringen von Strichlein um Strichlein, Linie um Linie, Zacke um Zacke, Kringel um Kringel. In affenartigem Tempo wandert meine „Zeichenhand“ nach rechts oben, während die „Blockhaltehand“ eigenartige Bewegung durchführt, über die ich keine willentliche Kontrolle habe, weil sie aus einem mir unbekannten Teil des Stammhirns kommt, im Einklang mit der „Zeichenhand“ jedoch fantastisch gerade, höchst leinwand verbogene oder was sonst noch an notwendigen Linien aufs Papier zaubert.

Nach zehn bis elf Minuten ist der ganze Spuk vorbei. Jacques bringt mir ein Frottee-Handtuch und eine neue Packung „Partagas Superfinos“. Die fertige Falter-Zeichnung muß jetzt nur mehr mit grauen Filzstiftpinseln der Marke „Соріс sketch, Cool Gray No. 3 bis No. 7″ getönt werden. Das geschieht auf der Rückseite der halb-transparenten Seite, erstens verwischen sich dabei nicht die komplizierten Tuschestrukturen und zweitens erzeugt es jenes einzigartig seidige Chiaroscuro, für das ich nicht umsonst wahnsinnig viel Kohle aufs Konto gebunkert bekomme. Das graue Gepinsel ist nach vier Minuten beendet. Mit einem Paar Scissoren schnipple ich noch verräterische Nebenzeichnungen, meist Buchstabenkombinationen, die im Wort AUTO gerne vorkommen, weg und klebe das fertige Werk auf ein billiges, aber strahlend weißes Tuschblatt.

Jacques bringt mir meine auf Hochglanz polierten Schuhe, steckt die Falter-Zeichnung in eine schwarze Mappe mit rotem Gummizug, diese in meinen Rucksack, hilft mir beim Schultern desselben und begleitet mich in den Hof. Dort wartet mein Mountain-Bike mit, von Jacques frisch aufgepumpten Reifen, kontrollierten Bremszügen und vorgewärmtem „Rennsattel schmal“. Weder einem Boten noch der Post, und auch Jacques nicht, würde ich die wertvolle Fracht anvertrauen. Ich bringe meine Falter-Zeichnung selbst im stärksten Regen persönlich vorbei. Außerdem würde ich es mir nie nehmen lassen, im Falter jenen Eindruck von Lonely-rider-is-bringing-the-hottest-news zu erzeugen, für den auch mein Freund und Nudlaug Heribert Corn – der mit der knatternden BSA – zu Recht berühmt ist. Im Falter erwartet mich Empfangs-Chef Josef Egger mit einem freundlichen „El Hamdullilah, Königin Dusula!“ und Michaela „Babsi“ Streimelweger mit einem, nur uns beiden vertrauten „Seawas, Triksi“.

Abenteuer im Ostdorf

STADTREPORTAGE N. Y. 

New Yorks East Village und seine Wiener mit nützlichen Hinweisen. Ein Lokalaugenschein. 

ANDREA DUSL

Falter 39/94, Stadtleben, pag. 70f

Am Anfang war schon ein Wiener mit von der Partie. Als der Italiener Giovanni da Verrazano 1524 im Auftrag des französischen Königs Franz 1. die amerikanische Ostküste entlangsegelt, kommt er auch an der New York Bay vorbei. Johannes Battist Herberger, ein Bader und Chirurgius aus Wien-Erdberg, notiert in sein Tagebuch: „Ode Gestade, jedoch heut ein zauberisch Eilandt geschen … den Rauch aus den Hütten einiger Inder … Capitan Verzan nahm den Landstrich für die Krone in Besitz …“ Peter Minnewit aus Wesel am Rhein wird 85 Jahre später den „Indern“ ihr Manna Hatta für Klunker im Wert von 60 Gulden abkaufen und die Siedlung Nieuw Amsterdam nennen. Seither haben 60 Gulden mehrmals ihre Besitzer gewechselt, und irgendwie waren immer wieder Wiener dabei in New York, im wichtigsten Brückenkopf der Neuen Welt.

.Je downer the town, desto shener the Frau’n“, sang Hermann Leopoldi, als er hier weilte, in seiner Profession als Barpianist aus Wien. Sein Publikum war wie er durch Schicksals grausame Faust in den großen Apfel getrieben. „I’m a quiet drinker, that’s why I make such noise …“ In New York leben mehr Leopoldstädter als im zweiten Bezirk, heißt es. Kein Zweifel. Von den Schulfreunden meines Großvaters blieben vier in Wien, einer ging nach Casablanca, die anderen 29 nach New York.

Einem ungeschriebenen Gesetz der Immigration folgend, beginnt die Karriere als New Yorker mit einem neuen Namen. Klaus Höller, alpiner Modedesigner für den goiserischen Hubert und einer der am besten ausgebildeten Pfadfinder in New York, trägt drüben stolz den Namen „Fred Schispringer“, Kai Hagmüller, Architekt, unterschreibt Postkarten an die Heimat generell mit „Bruchmutter, vierte Straße*. Sophie Lillie, Architekturhistorikerin und Eiernockerlköchin für Wiener Exilanten, wird wegen ihrer vornehmen Blässe „Ruaßkäferl“ genannt. Stefan Klestil wiederum, UHBP-Sohn im West Village, begnügt sich mit ,der Präser“.

Der beste Maler der Stadt, Stefan Riedl, und seine Freundin Dusl heißen drüben „Fritz Laimgruber“ und „Freda Leopoldstecker“. Keine Ahnung, wieso. „What’s your name“, fragt dich irgendwann einer wie aus der Pistole geschossen, und egal, was du dann antwortest, honey, that’s your new name. So erklärt es sich, daß Wiener in New York leben, die „Hi“, „Was“, „Ehas Robbie“ oder schlicht „Dog“ heißen.

Den bedeutendsten Teil des Tages, der mit einem ausgiebigen Frühstück beginnt, hängt der Wiener am Telefon. Jobs aufreißen, mit den Freunden in Wien telefonieren, Termine koordinieren und verlorengegangene Banküberweisungen aufspüren. Zu Mittag ißt er wenig, und wenn, dann unterwegs. Nachmittags werden die Termine und Dates für den Abend gecheckt. Wiener leben in allen Teilen New Yorks. Die meisten allerdings im East Village, liebevoll Ostdorf genannt.

Als Reisender aus Wien nimmst du ein Taxi vom J.F.K. Airport. Taxis heißen Cabs oder „yellow Küchenschaben“ – sie sind jedenfalls einheitlich gelb und dein erstes nachhaltiges Erlebnis in der Neuen Welt. „Tompkins Square, East Village“ genügt als Destination. Die Maut beträgt zwischen 28 und 36 Dollar. Jeder Cabbie (Taxler) hat, je nach Lust, Laune und Ortskenntnissen, eine andere Anfahrtsroute parat. Die meisten fahren die knapp 45minütige Strecke aber ohne wesentliche Umwege. Es empfiehlt sich, den Stadtplan grundsätzlich im Taschl zu lassen. Auf der Straße hat er schon gar nichts verloren, da könntest du dir gleich ein Schild umhängen, wieviel Geld du in der Tasche trägst, daß deine Uhr echt ist, und andere nützliche Angaben für den nächsten Straßenräuber.

East Village, das östliche Dorf, ist etwa so groß wie Klagenfurt und ähnlich gerastert. Als seine Grenzen gelten im Norden die 14te Straße, im Westen – gegen Greenwich Village – der Broadway. Im Süden – gegen SoHo und Little Italy – liegt die Houston Street (Hausten gesprochen, nicht Justn, wie die Sängerin). Im Osten des Dorfes glitzert friedlich – richtig! – der Ostfluß, der East River, der einen Blick aufs andere Ufer, auf Brücklein (Brooklyn), erlaubt.

Klaus Höller, einer der besten Pfadfinder in New York, trägt drüben stolz den Namen Fred Schispringer

Da East Village ein Dorf ist, verfügt es über keine Mauern. In der Mitte, zwischen den Avenues A und B, liegt ein Dorfplatz, in der Landessprache Tompkins Square Park genannt. Das East Village ist Teil der Lower Eastside, einst die bevölkerungsreichste und ärmste Gegend der Welt. Über 700.000 Einwanderer, Polen, Deutsche, Juden und Ukrainer, drängten sich auf einer Fläche von knapp fünf Quadratkilometern. Hochhäuser gibt es keine im Ostdorf, das als einziger Teil Manhattans flach ist wie eine ausgelassene Luftmatratze. Die meisten Gebäude sind feuerbeleiterte Zinshäuser aus der Jahrhundertwende und knapp davor.

Seit die Mieten in den Lofts von So-Ho so schwindelerregend hoch geworden sind, daß nur mehr Tennisspielerinnen wie Steffi Graf dort leben können, hat sich die New Yorker Galerien-Schickeria im Village festgebissen. Die Mehrheit stellen aber trotzdem noch immer puertorikanische Bettgeher, Junkies und Crackheads, europäische Kunststudentinnen, Ethnos aus Afrika und: eine Handvoll Wiener. Häufigste Sprache auf den Straßen: das Spanisch der Nujorikans.

Beliebtester Beruf: Apotheker (Handel mit Kräutern und Pulvern). Apotheker, so sie nicht von außerhalb kommen, tarnen ihre einträgliche Profession meist mit einem Deli. Delis sind supermarktgroße Greißler, 24 Stunden, sieben Tage in der Woche geöffnet. Koschere Delis sind am Samstag geschlossen, außer sie halten sich einen mexikanischen Shabbesgoj.

Badeglück im Dampfe winkt in der 10ten Straße. Allerlei Gefreak, Orthodoxe aus Galizien, russische Großfürsten, dicke Türken und falsche Griechen geben sich hier den körperlichen Genüssen eines „Shvitzhaus“ hin. Solcherart gestählt, tauchen wir tiefer ein in die Alphabetstadt. (Man benützt keine Zahlen für die Avenü’s: um den Bewohnern das Schreiben beizubringen. Es nützt wenig: A, B, C und D sind die einzigen Buchstaben.) Ein absolutes Must für Loiternde und Wandersleute: ein Handtascherl von 1 x 5 bis 2 x 5000 Watt (am besten mit „Subwoofa“, der Baßtaste). Handtascherln gibt’s allerdings hier nicht zu kaufen. Dazu muß man (netter Tagesausflug) in die Kanalstraße im Süden. Beim Kauf nicht vergessen: Alle Verkäufer lügen! Die Dinger sind mindestens um ein Drittel billiger als der günstigste Deal.

Wem jetzt die Füße und die Ohren rauchen und in der Kehle schon der Sand rieselt, der lenkt seinen Schritt in Richtung auf den Tomkinsschen Park, einen idyllischen Beserlgarten, um den die wichtigsten Durstlöscher und Hang Out Facilities lauern. „7B“, nicht unklug nach der Adresse benannt, von den Wienern Pferdeschuhbar (Horseshoe Bar) genicknamed, zapft offene Biere. Das Seven B gilt als „Landmark of the Village“, weil hier einst Paulchen Neumann in einem Film den Blues raushängen ließ. Fummler schau’n vorbei in der Zehnten/Ecke B, in der Krähenbar (Crow Bar), der wärmsten Hütte im Dorf. Spezialität: Dunkelkammer; es wird gegriffen und geknallt, daß das Ledermützel nur so kracht. Profis verstecken ihr Geld im Stieferl und verwenden Schlafsäcke von Semperit. Ein Muß für Heteros ist Lucy’s – (eigentlich „Lucy’s, Blanche’s, Ludwika’s Tavern“) – in der Avenue A. Mit Blick auf den Dorfplatz führt die heimliche Mutter des östlichen Dorfes, Frau Lucy aus Krakau, eine gepflegt abgefuckte Slibovitz-Aufrißbar. „Lucy’s“ ist die optimale Hang Out Zone für Wiener mit Heimweh. „Unter sieben Lokalen keine Beislpartie“ – das gilt auch fürs East Village. Also weiter in den „Pyramid Club“ (101 Avenue A), früher Szenedisco, jetzt hauptsächlich von

„slumming“ Drag Queens und Fag Hags aus SoHo besucht. Im Nachbarhaus wartet „Babyland“, ein lustiger Club für junge Leute, die hier ihre neuesten Body und Bone Piercings spazierenführen. Unseren kleinen Hunger – die Unterlage für die nächsten Drinks – stillen wir in „Katz’s Deli“ (eigentlich: „Katz’s Koshere Wurstfabric“). „Buy a salami for your boy in the army“, das Motto dieses Lokals, kann als T-Shirt-Mitbringsel erstanden werden.

Wem der Morgen graut und die Sterne günstig stehen, der empfiehlt sich zum größten Schrottplatz des Ostdorfes, der „Gas Station“ in der 2ten/Ecke B. Wenn – weil illegal – die Polizei gerade nicht zugesperrt hat, finden hier After Hour Clubbings statt. Wenn auch dort die Lichter ausgehen und die Membranen verstummen: Gleich gegenüber der „Tankstelle“, versteckt hinter einem Spalier von loiternden Grufties, hinter einer Tresortür, die von „machine*, einem 150-Kilo-Afrikaner, bewacht wird, wartet „Save the Robot“ auf uns. Der Roboter sperrt erst auf, wenn wirklich jede andere Camera geschlossen ist. Wie’s drinnen aussieht, weiß keiner wirklich genau, weil’s jeder anders in Erinnerung hat. 

Wer jetzt noch immer nicht aufgibt, braucht dringend ein Frühstück. Die Eiweißbar „Odessa“: „1000 Eggs any style“. Feinspitze, die noch immer durchhalten, schlagen sich nach Westen durch, zum „Graben“ des Ostdorfes, dem weltberühmten St. Marks Place (eigentlich die 8te Straße). Das „Cafe Mogador“, yuppier als die anderen Frühstüxhütten, serviert hervorragende Kaffees und südfranzösisch/ nordafrikanische Eierspeisen. Hier gathern angehende Models und Nachwuchsfotografen.

St. Marks Place ist die Hauptstraße im Village, das Bad Ischl für Freaks aus aller Welt. Vom T-Shirt – „Hi, I’m Barbie, please fuck me“ – für 16 Dollar bis zum Latexmützel ohne Seh- und Mundöffnungen um 69 Dollar kann für jeden Geschmack ein Souvenir erstanden werden. Tätowierer Sean hat sich auf speibende Totenschädel, gekreuzigte Teuferln, Maßtabellen für Schwänze und andere geile Motive für Reckturner spezialisiert. Andrea from England (big tits and sweet smile), eine Schülerin des berühmten Bernie Luther aus Wien, brilliert mit schwarzweißen Peckerl in der „East Side Inc.“ (2te Str.).

„Je downer the towns, desto shener the Frau’n“, sang Hermann Leopoldi, als er hier weilte, in seiner Profession als Barpianist aus Wien.

Rund um den Markusplatz wohnen die Filmemacher aus Wien. (die Musiker und architekten in der Gegend um die 4te/Ecke B.) Der sicherste Block der Welt hingegen ist zweifellos die 3tte Straße, zwischen 1ter u. 2ter Avenü. Der Grund: Hier haben die Hell’s Angels, die berühmtesten Reckturner der Welt, ihr Hauptquartier. Technisch Interessierte können hier hervorragende Mopeds anschau’n. Vorsicht: Nicht umwerfen!

Die beste Trafik im Village liegt an der Ecke St. Marks/Dritte Avenida. Der indische Besitzer führt neben dreihundert anderen Marken „American Spirit“, die naturbelassenste Tschick des Kontinents. Wir rauchen uns eine Spiritualette an und studieren den Falter von New York – logischerweise „Dorfstimme“ (Village Voice) genannt. Weil rauchen und lesen durstig macht, schlendern wir vorbei an „Surma – the Ukrainian Shop“, einem Zauberladen voll von Devotionalien, die’s nicht einmal mehr in Rußland gibt – geschweige denn in der Ukraine -, Richtung McSchurli, dem genialsten Wirtshaus der Welt.

Am wohlsten fühlen sich die Wiener in katholischen Bars. Nach den Polen (Lucy’s und andere Lokale) sind die Iren am katholischsten. Ehrliche und herzliche Wärme bietet „McSorley’s Old Ale House“, das älteste Bierhaus in Manhattan (established 1854). Alkohol wird hier keiner ausgeschenkt, einzig und allein Bier. Die Bohlen zwischen den handbeschnitzten Eichentischen bedecken frische Sägespäne, die schwarz patinierten Wände erzählen die Geschichte der Iren in Amerika.

Hinter einer abgegriffenen Schwingtür liegt das schönste und grünste Pissoir New Yorks das einzige, das nicht „Restroom“ heißt). Polizisten, Feuerwehrleute und Priester, IRA- und Sinn-Fein-Aktivisten, Dichter, steirische Eichen und Exilwiener schätzen die sachliche Atmosphäre dieser „Landmark of Old New York“.

Wenn den Wienern ihr Dorf zu eng wird, schauen sie schon mal rüber in die Nachbargemeinden. Auf ein Bier ins Greenwich Village, zu irgendeiner gschupften Vernissage nach SoHo oder in Begleitung von AABs (African American Bodybuilders) hinauf nach Harlem. Am liebsten treffen sie einander jedoch bei „Tony’s“, wo Little Italy am wienerischsten wird. Wo der Zigarrenqualm aus Tonys Havannas sich mit dem öligen Gestank aus geschmuggelten Whiskygebinden und den orientalischen Duftnoten der anwesenden Mafiabräute vermischt. An den Wänden der Bar – zwischen Fotografien italienischer Fußballerlegenden und Mitgliedern von Tonys umfangreicher Familie: Einschußlöcher aus den 30er Jahren. „Little Ottakring“ heißt der Tisch, an dem die Wiener sitzen und Tony Gschichtln aus der Heimat drucken. Nach ausgiebigem Herumgehänge im Kleinen Italien geht’s dann in Andy „Etienne“ Aigners rotem Schlitten zum Ostfluß auf eine nächtliche Bootspartie. Da sind sie dann grenzenlos glücklich, die Wiener. Wenn sie mit 600 Pferdchen am Heck und roten Nasen im Gesicht den tiefschwarzen East River durchpflügen und Wienerlieder singend Liberty Island umkreisen.

Die Autorin bedankt sich herzlich bei Klaus Höller für sein kompetentes Village Scouting.