Kirtag in Altaussee. Hietzinger Schuhplattler

Jedes erste Septemberwochenende ist im kleinen obersteirischen Salzkammergut der Teufel los. Tausende von Wienern hupfen in Lederhosen und Ausseerdirndln herum, Altgrafen wie Neureiche, Dichterlinge wie Medienmenschen.

 Andrea Maria Dusl für Falter 37/95.

Kirtag Altaussee.jpgAlle Jahre wieder, wenn sich zum Ausklang der Sommerfrische im kleinen Zweitausendseelennest Altaussee den hier seit Generationen urlaubenden Großbürger- und Grafenfamilien 7000 weitere Salonsteirer aus der Metropole anschließen, platzt der Ort am Fuße des Toten Gebirges aus allen Unterhosennähten.

Alle wollen vom großen Kuchen „Tradition“ naschen. Den haben die hier schon seit langem in ihren Salzkammergutvillen sitzenden altösterreichischen Magnatenfamilien zwar auch nicht selber gebacken, Graf Krethi und Komtesserl Plethi aber noch nie daran gehindert haben, in maßgeschneiderten Lodenjopperln den Einheimischen mit gespieltem Rustikalismus auf die Nerven zu gehen.

Großes und altehrwürdiges Vorbild für die bisweilen grotesken, stets aber peinlichen Formen des Wiener Verkleidungswahns ist der Nationalheld der Gegend, Erzherzog Johann. Dieser hat sich, wie an allen Ecken und Enden des Winkels auf Gedenktaferin und in Gästepostillen ausgebreitet wird, hier am 22. August 1819 in die Postmeisterstochter Anna Plochl verknallt. Mit des Erzherzogs Worten: „Ist sie mir guth?“ hat der ganze Rummel damals angefangen. Lange vor der um einiges bekannteren Romanze zwischen Franzl und Sisi in Ischl.

Schon zu Johanns Zeiten notierten die Chronisten des Salzkammergutes: „Aus der Fäulnis der Wiener Zeit unter Franz stammten auch die falschen Steyrer. Sie meinten, dem löblichen Beispiel des Erherzoges Johann nachzueifern, allein dieser Prinz hatte durch sein inniges Zusamrnenleben mit dem steyrischen Volke ein gewisses Recht auf den großen Lodenrock erworben. Die falschen Steyrer hingegen waren meist blasierte Gecken aus der Residenz.“

Seit den Tagen der Postkutschen hat sich daran nicht wesentlich viel geändert. Mit GTI und BMW kommt die „Jeunesse doree“ aus der Bundeshauptstadt auf Kurzbesuch in die Domizite der hier logierenden Eltern. Im Reisegepäck blähen sich die Koffer über Loden-Plankl-Jankern und Gexi-Tostmann-Dirndln. Wer auf sich hält, beeindruckt mitgebrachte Freunde mit uralten „Hirschledernen“. Nicht irgendwelche Lederhosen, sondern Altausseer müssen es sein, mit weißem „Bürsl“ einer kleinen weißen, aber wahnsinnig wichtigen Naht, zwei Fingerbreit überm Knie. Der Vorsprung an Einheimischkeit, der mit dieser stilistischen Marginalie gegenüber ähnlichen Produkten des Ausseerlands gewonnen wird, ist in irdischen Dimensionen nicht zu messen.

Das Alter der Hose muß dem des eigenen Großvaters nahekommen, was daran zu erkennen ist, daß das ursprüngliche Schwarz des Leders einem sandfarbenen, verschlissenen Teint gewichen ist. Mit einer Sepplhose vom Flohmarkt oder gar einer Bikerjean aus Favoriten anzutanzen gilt als Mißgriff und wird als proletenhafte Minderschätzung der hochnoblen Region und ihrer Sommerbewohner ausgelegt.

Den Gipfel der Verkleidungskunst stellt jedoch die Auswahl des richtigen Schuhwerkes dar. Die Debatte, welche Version zu welchem Zustand des Bodens paßt, ist um einiges schwieriger zu führen als die, welche violette Dirndlschürzenfarbe zu welcher Sorte grellrosa Kittel passen könnte. Der Aussee-Novize ist verblüfft, wie viele Farbnuancen der gelernte Sommerfrischler zwischen „grellrosa“ und „grellrosa“ zu unterscheiden vermag. Wirkliche Profis in dieser Disziplin sind die Bubis und Mädis aus „gutem Haus“, Hietzing und Pötzleinsdorf, natürlich nie und nimmer. Trotz redlicher und finanzintensivster Bemühungen kommen sie über den Status des „Postkartenausseers“ nie hinaus. Und so wundern sie sich Jahr für Jahr aufs Neue, wenn sie von den Einheimischen mit zugehaltenen Augen und Ohren und gegen den Wind als „Scheißweana“ entlarvt werden.

40er Kirtagszelt.jpgAlljährlicher Höhepunkt des Verkleidens und Enttarntwerdens ist der traditionelle „Altausseer Kirtag“ am ersten Septemberwochenende. Begonnen hat das Fest vor 35 Jahren relativ klein und bescheiden. Es dauerte zwei Tage, wegen des großen Erfolgs wurde jedoch in Anlehnung an den Faschingsmontag der sogenannte“Kirimontag“ dazugenommen, eine sehr raffinierte Idee der Altausseer, denen Samstag und Sonntag zu sehr verwienerten und die sich auf diese Art einen eigenen Einheimischen-Tag anhängen wollten. Mittlerweile ist auch der Kirimontag“ fest in den Händen der Horden aus der Wienerstadt.

Drehscheibe des Kirtages ist das Bierzelt, umringt von den für alpine Kirchweihfeste obligatorischen Vergnügungsattraktionen wie Schießstände, Autodromanlagen, Schaukeln und Ringelspiel. Mit der Eröffnung beginnt ein erbitterter Kampf zwischen Wienern und den Bewohnern der drei Ausseerlandgemeinden Altaussee, Grundlsee und Bad Aussee um Einlaß und Sitzplatz. Als Verstärkung der Ausseer sind auch noch Mitterndorfer, Goiserer, Hallstätter und andere Salzkammergutbewohner mit im Rennen.

Das Innere des Kirtagstempels ähnelt einer dreischiffigen Basilika. Im linken Seitenschiff blasen sich die Altausseer und Lupitscher Feuerwehrmusiker die Wangen blutig. Im rechten Seiten-Schiff bieten NebenkapelIen, die den Göttern „Nikotin“, „Pommes-frites“ und „Sprit“ gewidmet sind, Anlaß zur Einkehr. Die Apsis wird vom Hauptaltar „Alkoholfrei“ beherrscht, flankiert, von St. Mokka und St. Zirbenschnaps. Die linke Seitenapsis huldigt dem Martyrium der Heiligen Würstel, Räuchersaibling und Grillhenderl, die rechte ist den Anhängern der Volksheiligen Bier und Selbstbedienung geweiht.

40er Grillhendl.jpg250 Altausseer arbeiten sich die Hände wund, bringen an die 40.000 Biere, 6000 Hendln, 7000 Paar Bratwürstel, 14.000 Semmeln, 1500 Liter Wein und 7000 Liter Kracherl unter die Leute. Einen ersten Gipfel der Stimmung erklimmen die Festzeltbesucher während des Einzugs der 40köpfigen Delegation aus Ebensee. Der zweitägige Fußmarsch übers schneeverwehte Tote Gebirge wird unter großem Gejohle und Intonierung des „Ebenseer Fetzenmarsches“ im Zeit beendet. 14 Tage später gibt es den Gegenbesuch aus Aussee.

Absoluter Höhepunkt und größte Attraktion des Dreitagefestes in Altaussee ist der Auftritt von Emil. Emil ist der berühmteste Ausseer, fast so berühmt wie Klaus Maria, der wider die landläufige Meinung der „Zuagrasten“ tatsächlich von hier ist. Emil Strenberger ist pensionierter Müllmann, seine famose Karriere als Bierzelt-Entertainer begann vor 15 Jahren, sein lokaler Ruhm hat Phettberg’sche Dimensionen und die Wiener Freizeitsteirer versuchen so zu tun, als wären sie mit Emil groß und lustig geworden.

Kirimontag pünktlich um 21 Uhr – um diese Zeit trifft der von ihm rituell verwendete Postautobus ein, klatscht das Zeit mit Emil-Rufen den Mistkübler auf die Bühne. Sein Repertoire ist bescheiden und umfaßt die vier Megahits. „Und wenn du eine böse Schwiegermutter hast“, „Im Wald, da sind die Räuber“, „Ja, mir san min Radl da“ und „Wenn auf Capri…“
Emil freut sich das ganze Jahr auf seinen Auftritt nicht zuletzt, weil Klaus Maria Brandauer jedes Jahr hinter der Bühne steht und ihm nach vollbrachtem Sangeswerk anerkennend auf die Schulter klopft. Der Mime genießt den Rummel um die eigene Person nicht wirklich und verbringt den Kirtag hinter den Kulissen. Im Vergleich zu denen, die sich hier ins Rampenlicht drängen, strahlt sein Licht aber umso angenehmer.

Kirtag Innen.jpgZwischen all den echten Grafen, den Eltz‘ und Czernins, Merans, Harnoncours und Hohenlohe-Schillingsfürsten zeigt auch Horst Friedrich Mayer, Ritter von Küniglberg, gern die Schönheit seiner von abgewetzten Lederhosen nur notdürftig bekleideten Säbelbeine. Doch des Marinekenners Beine sind nicht die einzigen falschen Promihaxen vor Ort. Frisch gekampelt und geschneuzt, das Gamsjopperl und die jahrzehntealte Krachledeme angelegt, zieht Hannes Androsch, seine Mutter Lia am Arm und eine Truppe Ditndlträgerinnen im Schlepptau, in großer Prozession ins Zelt ein. Nichts an seinem Habitus erinnert an Floridsdorf, nichts an Sozialdemokratie und höchstens ein bißchen noch an seine Jugendtage als Kronprinz des alten Sonnenkönigs Kreisky. Alles am „Schönen Hannes“ sieht statt dessen nach gekauftem Landadel aus und fügt sich harmonisch ins Bild der hier vertretenen Seitenblicke-Prominenz.

Das Defilee und Herumgesitze bekannter Kapazunder dürfte nicht unwesentlich am ungebrochenen Erfolg Altaussees als supermegatrendige Sommerfrische verantwortlich sein.

Wie fast immer, entdeckte der Geldadel die Gegend erst, nachdem Künstler die Region für sich erobert hatten. Schon Thornas Bernhard graute in „Elizabeth 11“ vor dem angereisten Klüngel: „Schriftsteller Komponisten Komödianten/dieses ganze Gesindel“, schimpfte er“, gehen in Dirndlkleidern herum und in Lederhosen und machen sich mit Fleischhauern und Holzhackern gemein.“

Doch die Fratemisierungsversuche der Wiener fruchten wenig, die Ausseer lieben ihre Gäste nicht wirklich, tun ihnen nur schön und reiben sich die Hände. Besonders einträglich und beliebt ist alles, was dem Besucher die Illusion des alpinen Waidwerkes vermittelt. So gibt ein ausgiebiger Besuch des Armbrustschießzeltes jedem Wannabee-Wilderer die Chance, mit kleinen Armbrüsten auf kleine Scheiben zielen zu dürfen. Im direkten Wettkampf mit den real existierenden und anwesenden „Jagern“ der Gegend haben die Besucher aber keine Chance. Den von der Freiwilligen Feuerwehr Lupitsch ausgesetzten Schützenpreis – meist ein Fernsehapparat – will dennoch jeder gewinnen.

Im Zelt sitzen zumeist auch Lupitscher mit Knopferlharmonikas und spielen Marathons von Steirern und Gstanzln, meist mit schweinischen Texten. Dazu klatschen sie mehrstimmig. Das nennen sie „Paschen“. Die Wiener paschen sofort mit, worauf die „Musi“ verstummt, weil die Wiener weder Einsatz noch Lautstärke der rhythmischen Handschläge kennen und den Ausseern damit jeden Spaß verderben.

Gegen vier Uhr nachts versiegen die Bierquellen, die letzten Autodromaddicts drehen einsame Runden, Graf Krethi und Komtesserl Plethi treten den Heimweg an. Familienvilla, Ferienwohnung und Frühstückspension werden wankenden Schritts oder schlingender Fahrt angesteuert, der Tanz aus der lehmbeschmierten Lederhose und das Abwickeln der brathendlsaftverschmierten Dirndln beginnt.

Mit der Abreise der Wiener nach dem Kirtag wird es abrupt leer im Tal. Tennisplätze und Paragliding-Rampen verwaisen, Elektroboote und Erlebnisplätten werden eingewintert. Gaststätten kürzen ihre Speisekarten, und die Promenaden sind aper von urlaubenden Prominenten und Sommerfrischlern. Die Einheimischen genießen ihre Gegend und Schulkinder sprechen wieder ungeniert im Dialekt. Ein, zwei Monate lang. Bis die Schifahrer kommen. Dann beginnt alles von neuem.

Abenteuer im Ostdorf

STADTREPORTAGE N. Y. 

New Yorks East Village und seine Wiener mit nützlichen Hinweisen. Ein Lokalaugenschein. 

ANDREA DUSL

Falter 39/94, Stadtleben, pag. 70f

Am Anfang war schon ein Wiener mit von der Partie. Als der Italiener Giovanni da Verrazano 1524 im Auftrag des französischen Königs Franz 1. die amerikanische Ostküste entlangsegelt, kommt er auch an der New York Bay vorbei. Johannes Battist Herberger, ein Bader und Chirurgius aus Wien-Erdberg, notiert in sein Tagebuch: „Ode Gestade, jedoch heut ein zauberisch Eilandt geschen … den Rauch aus den Hütten einiger Inder … Capitan Verzan nahm den Landstrich für die Krone in Besitz …“ Peter Minnewit aus Wesel am Rhein wird 85 Jahre später den „Indern“ ihr Manna Hatta für Klunker im Wert von 60 Gulden abkaufen und die Siedlung Nieuw Amsterdam nennen. Seither haben 60 Gulden mehrmals ihre Besitzer gewechselt, und irgendwie waren immer wieder Wiener dabei in New York, im wichtigsten Brückenkopf der Neuen Welt.

.Je downer the town, desto shener the Frau’n“, sang Hermann Leopoldi, als er hier weilte, in seiner Profession als Barpianist aus Wien. Sein Publikum war wie er durch Schicksals grausame Faust in den großen Apfel getrieben. „I’m a quiet drinker, that’s why I make such noise …“ In New York leben mehr Leopoldstädter als im zweiten Bezirk, heißt es. Kein Zweifel. Von den Schulfreunden meines Großvaters blieben vier in Wien, einer ging nach Casablanca, die anderen 29 nach New York.

Einem ungeschriebenen Gesetz der Immigration folgend, beginnt die Karriere als New Yorker mit einem neuen Namen. Klaus Höller, alpiner Modedesigner für den goiserischen Hubert und einer der am besten ausgebildeten Pfadfinder in New York, trägt drüben stolz den Namen „Fred Schispringer“, Kai Hagmüller, Architekt, unterschreibt Postkarten an die Heimat generell mit „Bruchmutter, vierte Straße*. Sophie Lillie, Architekturhistorikerin und Eiernockerlköchin für Wiener Exilanten, wird wegen ihrer vornehmen Blässe „Ruaßkäferl“ genannt. Stefan Klestil wiederum, UHBP-Sohn im West Village, begnügt sich mit ,der Präser“.

Der beste Maler der Stadt, Stefan Riedl, und seine Freundin Dusl heißen drüben „Fritz Laimgruber“ und „Freda Leopoldstecker“. Keine Ahnung, wieso. „What’s your name“, fragt dich irgendwann einer wie aus der Pistole geschossen, und egal, was du dann antwortest, honey, that’s your new name. So erklärt es sich, daß Wiener in New York leben, die „Hi“, „Was“, „Ehas Robbie“ oder schlicht „Dog“ heißen.

Den bedeutendsten Teil des Tages, der mit einem ausgiebigen Frühstück beginnt, hängt der Wiener am Telefon. Jobs aufreißen, mit den Freunden in Wien telefonieren, Termine koordinieren und verlorengegangene Banküberweisungen aufspüren. Zu Mittag ißt er wenig, und wenn, dann unterwegs. Nachmittags werden die Termine und Dates für den Abend gecheckt. Wiener leben in allen Teilen New Yorks. Die meisten allerdings im East Village, liebevoll Ostdorf genannt.

Als Reisender aus Wien nimmst du ein Taxi vom J.F.K. Airport. Taxis heißen Cabs oder „yellow Küchenschaben“ – sie sind jedenfalls einheitlich gelb und dein erstes nachhaltiges Erlebnis in der Neuen Welt. „Tompkins Square, East Village“ genügt als Destination. Die Maut beträgt zwischen 28 und 36 Dollar. Jeder Cabbie (Taxler) hat, je nach Lust, Laune und Ortskenntnissen, eine andere Anfahrtsroute parat. Die meisten fahren die knapp 45minütige Strecke aber ohne wesentliche Umwege. Es empfiehlt sich, den Stadtplan grundsätzlich im Taschl zu lassen. Auf der Straße hat er schon gar nichts verloren, da könntest du dir gleich ein Schild umhängen, wieviel Geld du in der Tasche trägst, daß deine Uhr echt ist, und andere nützliche Angaben für den nächsten Straßenräuber.

East Village, das östliche Dorf, ist etwa so groß wie Klagenfurt und ähnlich gerastert. Als seine Grenzen gelten im Norden die 14te Straße, im Westen – gegen Greenwich Village – der Broadway. Im Süden – gegen SoHo und Little Italy – liegt die Houston Street (Hausten gesprochen, nicht Justn, wie die Sängerin). Im Osten des Dorfes glitzert friedlich – richtig! – der Ostfluß, der East River, der einen Blick aufs andere Ufer, auf Brücklein (Brooklyn), erlaubt.

Klaus Höller, einer der besten Pfadfinder in New York, trägt drüben stolz den Namen Fred Schispringer

Da East Village ein Dorf ist, verfügt es über keine Mauern. In der Mitte, zwischen den Avenues A und B, liegt ein Dorfplatz, in der Landessprache Tompkins Square Park genannt. Das East Village ist Teil der Lower Eastside, einst die bevölkerungsreichste und ärmste Gegend der Welt. Über 700.000 Einwanderer, Polen, Deutsche, Juden und Ukrainer, drängten sich auf einer Fläche von knapp fünf Quadratkilometern. Hochhäuser gibt es keine im Ostdorf, das als einziger Teil Manhattans flach ist wie eine ausgelassene Luftmatratze. Die meisten Gebäude sind feuerbeleiterte Zinshäuser aus der Jahrhundertwende und knapp davor.

Seit die Mieten in den Lofts von So-Ho so schwindelerregend hoch geworden sind, daß nur mehr Tennisspielerinnen wie Steffi Graf dort leben können, hat sich die New Yorker Galerien-Schickeria im Village festgebissen. Die Mehrheit stellen aber trotzdem noch immer puertorikanische Bettgeher, Junkies und Crackheads, europäische Kunststudentinnen, Ethnos aus Afrika und: eine Handvoll Wiener. Häufigste Sprache auf den Straßen: das Spanisch der Nujorikans.

Beliebtester Beruf: Apotheker (Handel mit Kräutern und Pulvern). Apotheker, so sie nicht von außerhalb kommen, tarnen ihre einträgliche Profession meist mit einem Deli. Delis sind supermarktgroße Greißler, 24 Stunden, sieben Tage in der Woche geöffnet. Koschere Delis sind am Samstag geschlossen, außer sie halten sich einen mexikanischen Shabbesgoj.

Badeglück im Dampfe winkt in der 10ten Straße. Allerlei Gefreak, Orthodoxe aus Galizien, russische Großfürsten, dicke Türken und falsche Griechen geben sich hier den körperlichen Genüssen eines „Shvitzhaus“ hin. Solcherart gestählt, tauchen wir tiefer ein in die Alphabetstadt. (Man benützt keine Zahlen für die Avenü’s: um den Bewohnern das Schreiben beizubringen. Es nützt wenig: A, B, C und D sind die einzigen Buchstaben.) Ein absolutes Must für Loiternde und Wandersleute: ein Handtascherl von 1 x 5 bis 2 x 5000 Watt (am besten mit „Subwoofa“, der Baßtaste). Handtascherln gibt’s allerdings hier nicht zu kaufen. Dazu muß man (netter Tagesausflug) in die Kanalstraße im Süden. Beim Kauf nicht vergessen: Alle Verkäufer lügen! Die Dinger sind mindestens um ein Drittel billiger als der günstigste Deal.

Wem jetzt die Füße und die Ohren rauchen und in der Kehle schon der Sand rieselt, der lenkt seinen Schritt in Richtung auf den Tomkinsschen Park, einen idyllischen Beserlgarten, um den die wichtigsten Durstlöscher und Hang Out Facilities lauern. „7B“, nicht unklug nach der Adresse benannt, von den Wienern Pferdeschuhbar (Horseshoe Bar) genicknamed, zapft offene Biere. Das Seven B gilt als „Landmark of the Village“, weil hier einst Paulchen Neumann in einem Film den Blues raushängen ließ. Fummler schau’n vorbei in der Zehnten/Ecke B, in der Krähenbar (Crow Bar), der wärmsten Hütte im Dorf. Spezialität: Dunkelkammer; es wird gegriffen und geknallt, daß das Ledermützel nur so kracht. Profis verstecken ihr Geld im Stieferl und verwenden Schlafsäcke von Semperit. Ein Muß für Heteros ist Lucy’s – (eigentlich „Lucy’s, Blanche’s, Ludwika’s Tavern“) – in der Avenue A. Mit Blick auf den Dorfplatz führt die heimliche Mutter des östlichen Dorfes, Frau Lucy aus Krakau, eine gepflegt abgefuckte Slibovitz-Aufrißbar. „Lucy’s“ ist die optimale Hang Out Zone für Wiener mit Heimweh. „Unter sieben Lokalen keine Beislpartie“ – das gilt auch fürs East Village. Also weiter in den „Pyramid Club“ (101 Avenue A), früher Szenedisco, jetzt hauptsächlich von

„slumming“ Drag Queens und Fag Hags aus SoHo besucht. Im Nachbarhaus wartet „Babyland“, ein lustiger Club für junge Leute, die hier ihre neuesten Body und Bone Piercings spazierenführen. Unseren kleinen Hunger – die Unterlage für die nächsten Drinks – stillen wir in „Katz’s Deli“ (eigentlich: „Katz’s Koshere Wurstfabric“). „Buy a salami for your boy in the army“, das Motto dieses Lokals, kann als T-Shirt-Mitbringsel erstanden werden.

Wem der Morgen graut und die Sterne günstig stehen, der empfiehlt sich zum größten Schrottplatz des Ostdorfes, der „Gas Station“ in der 2ten/Ecke B. Wenn – weil illegal – die Polizei gerade nicht zugesperrt hat, finden hier After Hour Clubbings statt. Wenn auch dort die Lichter ausgehen und die Membranen verstummen: Gleich gegenüber der „Tankstelle“, versteckt hinter einem Spalier von loiternden Grufties, hinter einer Tresortür, die von „machine*, einem 150-Kilo-Afrikaner, bewacht wird, wartet „Save the Robot“ auf uns. Der Roboter sperrt erst auf, wenn wirklich jede andere Camera geschlossen ist. Wie’s drinnen aussieht, weiß keiner wirklich genau, weil’s jeder anders in Erinnerung hat. 

Wer jetzt noch immer nicht aufgibt, braucht dringend ein Frühstück. Die Eiweißbar „Odessa“: „1000 Eggs any style“. Feinspitze, die noch immer durchhalten, schlagen sich nach Westen durch, zum „Graben“ des Ostdorfes, dem weltberühmten St. Marks Place (eigentlich die 8te Straße). Das „Cafe Mogador“, yuppier als die anderen Frühstüxhütten, serviert hervorragende Kaffees und südfranzösisch/ nordafrikanische Eierspeisen. Hier gathern angehende Models und Nachwuchsfotografen.

St. Marks Place ist die Hauptstraße im Village, das Bad Ischl für Freaks aus aller Welt. Vom T-Shirt – „Hi, I’m Barbie, please fuck me“ – für 16 Dollar bis zum Latexmützel ohne Seh- und Mundöffnungen um 69 Dollar kann für jeden Geschmack ein Souvenir erstanden werden. Tätowierer Sean hat sich auf speibende Totenschädel, gekreuzigte Teuferln, Maßtabellen für Schwänze und andere geile Motive für Reckturner spezialisiert. Andrea from England (big tits and sweet smile), eine Schülerin des berühmten Bernie Luther aus Wien, brilliert mit schwarzweißen Peckerl in der „East Side Inc.“ (2te Str.).

„Je downer the towns, desto shener the Frau’n“, sang Hermann Leopoldi, als er hier weilte, in seiner Profession als Barpianist aus Wien.

Rund um den Markusplatz wohnen die Filmemacher aus Wien. (die Musiker und architekten in der Gegend um die 4te/Ecke B.) Der sicherste Block der Welt hingegen ist zweifellos die 3tte Straße, zwischen 1ter u. 2ter Avenü. Der Grund: Hier haben die Hell’s Angels, die berühmtesten Reckturner der Welt, ihr Hauptquartier. Technisch Interessierte können hier hervorragende Mopeds anschau’n. Vorsicht: Nicht umwerfen!

Die beste Trafik im Village liegt an der Ecke St. Marks/Dritte Avenida. Der indische Besitzer führt neben dreihundert anderen Marken „American Spirit“, die naturbelassenste Tschick des Kontinents. Wir rauchen uns eine Spiritualette an und studieren den Falter von New York – logischerweise „Dorfstimme“ (Village Voice) genannt. Weil rauchen und lesen durstig macht, schlendern wir vorbei an „Surma – the Ukrainian Shop“, einem Zauberladen voll von Devotionalien, die’s nicht einmal mehr in Rußland gibt – geschweige denn in der Ukraine -, Richtung McSchurli, dem genialsten Wirtshaus der Welt.

Am wohlsten fühlen sich die Wiener in katholischen Bars. Nach den Polen (Lucy’s und andere Lokale) sind die Iren am katholischsten. Ehrliche und herzliche Wärme bietet „McSorley’s Old Ale House“, das älteste Bierhaus in Manhattan (established 1854). Alkohol wird hier keiner ausgeschenkt, einzig und allein Bier. Die Bohlen zwischen den handbeschnitzten Eichentischen bedecken frische Sägespäne, die schwarz patinierten Wände erzählen die Geschichte der Iren in Amerika.

Hinter einer abgegriffenen Schwingtür liegt das schönste und grünste Pissoir New Yorks das einzige, das nicht „Restroom“ heißt). Polizisten, Feuerwehrleute und Priester, IRA- und Sinn-Fein-Aktivisten, Dichter, steirische Eichen und Exilwiener schätzen die sachliche Atmosphäre dieser „Landmark of Old New York“.

Wenn den Wienern ihr Dorf zu eng wird, schauen sie schon mal rüber in die Nachbargemeinden. Auf ein Bier ins Greenwich Village, zu irgendeiner gschupften Vernissage nach SoHo oder in Begleitung von AABs (African American Bodybuilders) hinauf nach Harlem. Am liebsten treffen sie einander jedoch bei „Tony’s“, wo Little Italy am wienerischsten wird. Wo der Zigarrenqualm aus Tonys Havannas sich mit dem öligen Gestank aus geschmuggelten Whiskygebinden und den orientalischen Duftnoten der anwesenden Mafiabräute vermischt. An den Wänden der Bar – zwischen Fotografien italienischer Fußballerlegenden und Mitgliedern von Tonys umfangreicher Familie: Einschußlöcher aus den 30er Jahren. „Little Ottakring“ heißt der Tisch, an dem die Wiener sitzen und Tony Gschichtln aus der Heimat drucken. Nach ausgiebigem Herumgehänge im Kleinen Italien geht’s dann in Andy „Etienne“ Aigners rotem Schlitten zum Ostfluß auf eine nächtliche Bootspartie. Da sind sie dann grenzenlos glücklich, die Wiener. Wenn sie mit 600 Pferdchen am Heck und roten Nasen im Gesicht den tiefschwarzen East River durchpflügen und Wienerlieder singend Liberty Island umkreisen.

Die Autorin bedankt sich herzlich bei Klaus Höller für sein kompetentes Village Scouting.

Das Schweizerhaus. Der Nabel der Stadt

Das beste Bier der Welt, die knusprigsten „Stözzn“‚ und die unbestechlichsten Kellner des Praters: Das Schweizerhaus – wo sich Wien von seiner böhmischen Seite zeigt – hat eine lange Geschichte. Ein Portrait von ANDREA MARIA DUSL

In Sichtweite des Riesenrades, wo der Trubel und die Hetz der Schießbuden und Go-Cart-Bahnen, der Luftkutschen und Spiegelkabinette langsam ausdünnt, beginnt eine Welt, der lüsterne Sensationen ebenso fremd sind, wie der polternde Lärm rasender Maschinen.
Schweizerhaus Bierdeckerl.jpgDer Duft von Nußbäumen und blühenden Kastanien lockt unseren Schritt in eine Kathedrale unter den Wirtshäusern. Schlichte weiße Lettern bezeichnen diesen Ort. Unter schattigen Praterbäumen knirscht der Kies und vermischt sich mit dem Klirren dicker Gläser und dem Krachen berstender Schweinehaxen.
Bis zu 7000 Krügerl gehen hier allein an einem Sommertag über die Schank, ganz abgesehen von den Karpfen, Grillhendeln, Prager Kuttelflecksuppen oder eben schlicht den „Stözzn“ mit Senf, Kren und Brot. Hier kanns dir auch passieren, daß dein Bürgermeister neben dir sitzt und dich fragt, was der Unterschied sei „zwischen einem Schweizerhauskellner und einem Philharmoniker?“ Und dann wird er, mit seiner seidentuchumwickelten Briefbombenhand wachelnd, in dein Ohr flüstern: „Die Schweizerhauskellner haben die höhere Gage, und die Philharmoniker können im Sitzen hackeln!“ Das ist der ganze Unterschied.

Wie viele Geschichten aus dem alten Wien verlieren sich auch die Ursprünge des heute Schweizerhaus genannten Paradiesortes im Dunkel der Geschichte. Eine Schilderung der Lady Montague über den Prater, vor 1766 dem ordinären Publikum noch nicht zugänglich, entnehmen wir: „Ich war gestern in Gesellschaft des Vizekanzlers Grafen Schönhorn im Prater, einem reizenden und von vortrefflicher Weite strahlenden Park. Wir fanden es tunlich, jene große Allee wegen seiner Staubigkeit gegen den Wald zu verlassen, um in einem kleinen Wirtshause einzukehren, welches nach Auskunft meiner Begleitung ‚Zur Schweizer Hütte‘ genannt wurde. Vor Hunderten Jahren habe dort ein Einsiedler Fische und Pilze an die rastenden kaiserlichen Jagdknechte verkauft. Die Knechte seien Schweizer aus dem Sundgau gewesen, die für die Vortrefflichkeit und Ausdauer ihrer Treibkünste gerühmt waren, und es hätte sich der Name ,SchweizerHütte‘ aus jener Zeit erhalten. Der Wirt ist ein stiller Mann, welcher mit großem Geschick kleine Fische am Spieß bratet und dazu einen köstlichen Hollersaft kredenzt, von welchem wir zwei Krüge tranken …“

Jener „stille Wirt“ war ein Nachfahre des legendären Michael Ainöther, der am 1. Mai 1603 vielleicht das erste Lokal des Praters eröffnete. Über dem Eingangstor seines Wirtshauses stand: „Gott behuet dies Haus so lang, bis ein Schneck die Welt umgang. Und ein Ameis dürst so sehr, daß er’s austrinkt, ’s ganze Meer.

Noch im ausgehenden 18. Jahrhundert wurde die „Schweizer Hütte“, einer Mode der Zeit folgend, von seinem neuen Besitzer Cajetan Gasperl, einem geschäftstüchtigen Mann aus Mitterndorf im Ausseerland, in „Tabakspfeife“ umbenannt und „Zum Zwecke des süßen Qualmens“ ausgebaut. Nach Gasperls Tod verkaufte seine Witwe das Etablissement, das während der Zeit des Wiener Kongresses den Namen „Zum russischen Kaiser“ trug. Der neuen Besitzer trug den etymologischen Wurzeln des Hauses Rechnung und nannte seine Gaststätte wieder „Schweizer Meierei“.

Ein populärer Besitzer des Schweizerhauses war der Wirt vom „Alten Kühfuß“ in der Habsburgergasse, Jan Gabriel, unter dem das Wirtshaus ein Treffpunkt aller Freunde echten „Pilsners“ wurde. So mancher Firmgöd hat sich dort einen Rausch angetrunken. Ein berühmter Stammgast dieser Zeit war Albert Timmel, einer der legendären Timmelbrüder aus Ottakring, die mehr als einem festen Raufhandel des Praters Würze verliehen. Einer, der nicht trank im Schweizerhaus, war der Wärter der „Säugetierschaustellung“ im „Aquarium“: Er holte pünktlich um zehn Uhr vormittags drei Krügel für seine Affen, welche die mit sichtlichem Behagen getrunken haben sollen.

Einem „Naturgesetz“ folgend, hatte der Schweizer WeltausstellungspavilIon seinen Platz in unmittelbarer Nähe des heutigen Schweizerhauses. Vielen ist darum die Entstehung des Namens „Schweizerhaus“ aus dieser Tatsache erklärlich. Hier versagt aber die Grenzziehung zwischen Fama und Historia. Beliebtes Überbleibsel der Weltausstellungszeit blieben die sonntäglichen Konzerte der Deutschmeister.

1920 juckt einen jungen Wiener die geschäftstüchtige böhmische Nase. Der neunzehnjährige Sohn tschechischer Eltern, Karl Kolarik, übernimmt als Konzessionär das Schweiz,erhaus. Inflation und Wirtschaftskrise schütteln die junge Republik und somanchem stillen Bierzecher ist ein Besuch im Biergarten die einzige Freude. Karl Kolarik hat ein G’spür fürs Geschäft. Der gelernte Fleischer und Selcher errichtet Wiens „Erste englische Fischbratküche“ und einen Pavillon, „wo die berühmten Wiener Würsteln und Bratwürsteln vor den Gästen erzeugt werden“, wie ein zeitgenössisches Inserat stolz preist.

So nebenbei führt Kolarik eine andere Spezialität ein: Fein geschnittene Erdäpfeln, die berühmten, in heißem Fett herausgebratenen „Rohscheiben“.

Die köstlichste Delikatesse aber, das berühmte Budweiser, verdankt das Schweizerhaus einer Reise Kolariks in die böhmische Heimat seiner Eltern.
In der Nachkriegszeit des ersten Weltkrieges hatten die nationalistischen Tschechen als eine der ersten Maßnahmen ihrer jungen Republik den Bierexport verboten – weil sonst für die tschechischen Arbeiter zu wenig übrigbliebe. Dieser Maßnahme fiel die „Pilsner Bierklinik“ in der Innenstadt zum Opfer. Sie mußte auf das Gösser umsteigen und ihren Namen in „Gösser Bierklinik“ ändern. Diesem Grund verdankt das amerikanische, „Budweiser“ von AnheuserBusch seinen zweifelhaften Siegeszug. Mit dem echten Budweiser hat dieses nämlich nur den abgekupferten Namen gemeinsam.

Aber zurück ins Jahr 1926. Auf seiner Biersuche durch Böhmen stößt Kolarik auf das Budweiser, ein dunkelgelbes 12grädiges Lagerbier. Das Wasser, mit dem es gebraut wird, stammt aus 312 Metern Tiefe. Es ist Tausende Jahre alt und seidenweich, wie man als Schweizerhausbesucher mit jedem Schluck aufs neue bestätigen kann. Kolarik läßt seinen Gaumen entscheiden und kauft einen ganzen Waggon Budweiser, bringt ihn nach Wien und verleiht damit einer alten Liebe neue Triebe. Der nämlich, die die Wiener mit dem tschechischen Bier seit alten Zeiten verbindet.
Von Krieg und Gefangenschaft kehrt der Wirt mit dem guten böhmischen Bier in ein völlig zerstörtes Schweizerhaus zurück. Zwei Bäume stehen noch, mehr nicht. Die berühmten Nußbäume, in deren Schatten so mancher Sommertag seine lange Reise in die Nacht beginnt, pflanzt Kolarik 1947 mit eigenen Händen. Nußbäume ‚ weil deren Geruch die Gelsen vertreibt. Einfach, aber bis heute wirksam.

Karl Kolarik, einer der wichtigsten Wiener aller Zeiten, starb letztes Jahr im 92sten Lebensjahr. Sein Erbe führt sein Sohn indes weiter. Jan-Karl Kolarik jun. ist ein strenger Wirt. Das ist gut so, denn nur ein strenger Wirt ist ein guter Wirt. Und wenn seinen Argusaugen einer der vierzig Kellner entkommt und der dann auch noch Zeit hat und Lust und seine verschwiegene Pappn aufmacht, dann kann es passieren, daß er voller Stolz von berühmten Gästen erzählt. Von Peter Alexander und Bruno Marek, Slash von Guns ’n‘ Roses, einem sehr heimlichen Glenn Gould, einem noch heimlicheren Carlos Kleiber. Von Niki Lauda und Toni „two times“ Polster, Anton Benya, Bruno Kreisky und dem Mineralwasser trinkenden Arafat, „den kaner kennt, wenn er sein Tüchl ned aufhat“. Aber das ist eigentlich gar nicht so wichtig, meinen die echten „StelzenGeher“. Hier ist jeder willkommen, „wirklich a jeder“.

Und es mag vorkommen, daß Leut neben dir sitzen, von denen bekannt ist, daß sie eigentlich vor zwei Wochen für immer nach New York ausgewandert sind. Und dann fällt dir ein, du hast einen wichtigen Termin mit deiner besten Freundin verschwitzt, und jetzt rufst sie gschwind an ihrem Handy an vom Telefon neben der Häuslfrau. Und sie wird sagen: „Macht nichts, komm schnell ins Schweizerhaus.“ Und dann wirst sagen: „l sitz auf der Eck’n, waßt eh.“ Und dann gehst z’ruck zu dein Tisch, wo sie schon sitzt, deine beste Freundin mit ihrem Handy, vor dem goldgelben Wunderbier mit dem Hermelinkapperl drauf. Und dann wird dir die alte chinesische Weisheit einfallen: Jeder Tag, den du bist im Schweizerhaus, wird hinten an dein Leben nocheinmal drangehängt.

………………..
Biergarten, Restaurant Schweizerhaus, 1020 Wien, Prater 116; Kein Ruhetag, tägl. von 10 bis 23 Uhr. Von 9. März bis 31. Oktober.

© Andrea Maria Dusl
Erschienen in Falter 20/94 Seite 64-65

Türme

Die hervorragenden 10

Andrea Dusl, Essay, Ikarus 1989, pagg. 119ff.

Der Turm als Instrument, Gottes Nähe zu spüren, mußte nicht erst erfunden werden. Schon seit Urzeiten baut die Menschheit zu Kult- und Aussichtszwecken erregt Phallisches. Andrea Dusl hat für IKARUS die zehn wichtigsten Türme beschrieben und gezeichnet.

ALS DIE BABYLONIER damit begannen, aus Lehmziegeln und Erdpech ihren Turm zu errichten, haben sie – so Moses in der Genesis – noch eine gemeinsame Sprache. Aber Gott beschloß, die Himmelsstürmer, die sich an das Unerreichbare heranwagten, wieder auf die Erde zu holen. „Er verwirrte ihre Sprache, sodaß keiner mehr die des anderen verstand.“

Die einer gemeinsamen Zunge Beraubten zerstreute er von dort über die ganze Erde. Ihren Turmbau stellte er ein. Daß der Turmbau vor allem mit dem lieben Gott zu tun hat, beweisen die Kirchtürme des Abendlandes genauso wie die Mina- rette der Mohammedaner oder die über Knochenfragmenten des Buddha aufgetürmten Stupas.

Das Empire Building: Ecke Fifth Ave./34th Street; 60.000t Stahl, 10 km Wasserleitung, 5.630 km Telefonkabel, 72 Fahrstühle, 381 m hoch, mit Antennenturm 448,7 m

Die Frage, ob denn Türme und Menhire, die phallischen Obelisken und Siegessäulen nicht bloß Männlichkeitssymbole eines Kulturgrenzen sprengenden Weltpatriarchats seien, muß nicht gestellt werden: Natürlich sind sie es. Türme werden zwar nicht nur unbedingt für, aber ausnahmslos von Männern errichtet. Welcher Sohn Adams den ersten Turm gebaut hat, läßt sich nicht feststellen. Aber: Der Turm als Instrument, Gottes Nähe zu spüren, mußte nicht extra erfunden werden. Schon seit Urzeiten haben die Menschen olympische Höhen zu Kultzwecken bestiegen oder aus der Ferne verehrt. Wo es keine Berge gab, wurden welche gebaut. Wenngleich die Pyramiden der Ägypter und die Zikkurate der Sumerer nicht gerade dem entsprechen, was wir mit dem Wort „Turm“ bezeichnen würden, müssen sie als solche verstanden werden.

Die etymologischen Wurzeln des deutschen „Turm“ (spätalthochdeutsch: „torn“) führen über den Umweg des französischen „tour“, dem die Angelsachsen ihr „tower“ verdanken, zum lateinischen „turris“. Aber auch die Römer haben das Wort nur von den Griechen entlehnt.

Ihr „tursis“, das eine befestigte Stadt, aber auch ein von Mauern umgebenes Haus bezeichnete, schlägt eine sprachliche Brücke zu den nicht indogermanischen, aber Burgen und Städte bauenden Etruskern, dem Volk der Türme.

Den Tursi, Tursci, E-Truski, wei die Vorfahren der Toskaner, Tuscaner von den den Turmbau nicht betreibenden Griechen und Latinern genannt wurden, verdankt auch das „Tyr“rhenische, Thyrsenische Meer seinen Namen.

Die Turmstädte der Toskana, von deren früherem Aussehen uns San Gimignano noch ein eindrucksvolles Bild gibt, stehen also in einem Gebiet uralter Turmbautradition.

„Pyrgos“, das eigentliche griechische Wort für Turm, zeigt in eine ganz andere Richtung: Die uralte Silbe „pyr“ bezeichnet auch alles, was mit dem Feuer zu tun hat. Ein altes Rätsel der Sprachforscher, nämlich, was der Turm mit dem Feuer zu tun hat, läßt sich indes ganz leicht lösen: Die Kunstberge des Zweistromlandes, die sumerischen und Babylonischen „Türme“, wurden aus Ziegeln gebaut. Die werden bekantlich im Feuer gebrannt.

Daß ein Turm selten allein steht, scheint eine Regel zu sein, die auf einer Mittelmeerinsel ganz gewaltige Ausmaße angenommen hat. Die Nuraghen Sardiniens, 150 vor unserer Zeitrechnung errichtete, runde Steintürme, wurden von einem Hirtenvolk zu vielen Tausenden erbaut.

Der Wettstreit um den höchsten Turm ist aktueller denn je. New York und Chicago haben ihn noch nicht ausgefochten. Den um den schönsten hingegen haben die gotischen Dombaumeister der Alten Welt längst und für alle Zeiten gewonnen.

Die Türme des Ostens, die Pagoden und Stupas, haben sich aus Erdhügeln zu mehr als hundert Meter hohen, komplizierten Steinkaskaden entwickelt.

Wo der schönste steht, wo der älteste, welcher am berühmtesten ist und welcher am wahnsinnigsten, soll im folgenden beantwortet werden.

1

Der Berühmteste.

Der schiefe Turm von Pisa

Der wohl bekannteste Turm aller Zeiten ist auch einer der schönsten. Wie wenig seine Neigung allein das Archetypische seiner Erscheinung ausmacht, zeigt ein Vergleich mit anderen „schiefen Türmen“. Die „Torre degli Asinelli“ und die „Torre Garisenda“, zwei Bologneser Geschlechtertürme, haben kaum lokale Bedeutung.

„Piazza dei Miracoli“, Platz der Wunder, heißt die noch heute am Rande Pisas gelegene Wiese des Dombezirks. Wenn das Meer – heute nicht mehr in unmittelbarer Nähe der Stadt wie noch zu Zeiten der Seerepublik – Pisa in einen zartschwebenden weißen Morgenschleier hüllt, mag man sich in ein orientalisches Märchen versetzt vorkommen. Gäbe es die berühmte „Torre Pendente“, den schiefen Turm, nicht, wäre Pisa allein für seinen weißmarmornen Dom und das Spitzengeflecht des Baptisteriums vom Nimbus der Einzigartigkeit bestrahlt. 3 Millionen sind es jährlich, die den nicht ungefährlichen Aufstieg auf den stark geneigten Turm wagen, mehr als zehn, die von einer der sechs ungesicherten Gallerien in den Tod springen.

Den Dom und den Campanile finanzierte das mächtige Pisa einst mit der reichen Beute, die seine Flotte 1063 den Sarazenen Palermos abnahm. Mit dem Bau des Turms beginnt Bonanno Pisano 1173, aber schon nach fünf Jahren – drei Geschosse waren bereits ausgeführt – erzwangen Bodensetzungen eine Einstellung des Baus. Erst ein Jahrhundert später, die geplante Höhe von 100 Metern konnte nicht mehr angestrebt werden, führte Giovanni di Simone die Arbeit weiter, die Neigung des – heute 56 m hohen – Turms glich er durch eine Krümmung in die Gegenrichtung aus, weswegen der Turm oft respektlos „die Bohne“ genannt wird. 1,5 mm wandert der weiße Turm jährlich dem Abgrund seines Umsturzes entgegen. Obwohl dieser „point of no return“ für die nächste Zukunft nicht erreicht wird, leben die Pisaner in ständiger Angst, eines Tages zur Stadt der „torre caduta“, des gefallenen Turms, zu werden.

Das Unaussprechliche einmal angenommen: Die Pisaner würden es wohl den Venezianern gleichtun, deren Campanile 1902 eines frühen Morgens ohne Vorankündigung einstürzte.

Sie würden ihn wieder aufbauen, „com’era e dov’era“, wie er war und wo er war.

2

Der Einträglichste.

Der Eiffelturm

So unbestritten der Eiffelturm heute Bestandteil von Paris ist, so gespalten war das Urteil der Zeitgenossen über den Stahlgiganten. „Eine widerliche Säule aus verschraubtem Blech“ nannten die entrüsteten „Schriftsteller, Maler, Bildhauer und Architekten“ des bis dahin unversehrten Paris das Turmgerippe, „ein Beweis für den Triumph des Stahls über Ziegel und Stein“ war er für den Brückenbauer Gustave Eiffel. Ganz in der Tradition antiker Baumeister, die auch für ihre Bauten persönlich hafteten, errichtete Eiffel, der den Wettbewerb um die Errichtung eines Aussichtsturms für die Weltausstellung 1889 gewonnen hatte, die turmgewordene Eisenbahnbrücke.

Für die Stahlgerippe wurden 1700 Pläne gezeichnet, auf 3629 Zeichnungen waren die 18.038 Teile detailliert und millimetergenau vermaßt. Hunderttausende Winkel wurden ohne Computer berechnet, 2.500.000 Nieten von Hand geschlagen, aber schon nach zwei Jahren und vier Monaten, am 15. Mai 1889, war der Triumph der modernen Technik fertiggestellt.

Trotz der Begeisterung während der Weltausstellung – mehr als zwanzigtausend, zwei Millionen insgesamt, hatten seine Aussichtsplattform gestürmt – riß die Kritik an dem „Schandmal von Paris“ nicht ab, und noch 1900 wurde ernsthaft verlangt, den Turm abzubrechen.

Finanziell war der Riesenspitz alles andere als ein Desaster: Bereits nach einem Jahr – Eiffel waren die Einträge der ersten zwanzig Jahre zugesagt worden – hatte er die Kosten seiner Errichtung durch Eintrittsgelder wieder hereingebracht. Noch heute, im Zeitalter des Mondfluges und der vielhundert Meter hohen Funktürme, gilt der Eiffelturm als technisch vorbildliches Bau-werk; die Ausbiegung des Turmkopfes beträgt selbst bei Stürmen nicht mehr als 7 cm. Die Ausbiegung durch Wärme während eines heißen Sommertages ist mit 15 cm etwa doppelt so groß.

Die Aussicht vom 300 Meter hohen Turm erlaubt an klaren Herbsttagen einen Blick in die Vergangenheit: bis nach Chartres mit seinen gotischen Kirchtürmen.

3

Der Biblische.

Der Turm von Babylon

„Auf, sagten sie, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel…“ (Moses, Genesis 11,3) – Aber der Herr verwirrte ihre Sprache und sie zerstreuten sich über die ganze Erde..

Als Herodot 460 v. Chr. das von Xerxes zerstörte Babylon besuchte, konnte er nur mehr von den Ruinen des gewaltigen Kultberges berichten. Seit biblischen Zeiten umgibt den Turm von Babel der Mythos der Einzigartigkeit. In Wahrheit war er jedoch kein außergewöhnliches oder einmaliges Bauwerk. Die ersten Zikkurate (semitisch: die „Hochragenden“) entstanden 2000 Jahre vor dem babylonischen Turm; bekannt sind die von Ur, Uruk und Nippur, als deren Wiederholung wurde der Turm zu Babel zwischen 2057 und 1753 v. Chr. erstmals kleiner errichtet, mehrmals zerstört, aber immer wieder am selben Ort aufgebaut. Nebukadnezar II. (605-562 v. Chr.) baute Babylon zur größten und prächtigsten Stadt der Welt aus. Von den sieben Stufen des Turms entsprachen die gewaltigen beiden untersten der Sonne und dem Mond, die nachfolgenden vier und der Tempel Marduks, des höchsten Gottes der Babylonier, den fünf Planeten.

Der berühmteste Turm ist schief, der utopischste wäre „one mile high“, der schönste aber steht in Wien.

Den mit blauglasierten Ziegeln und goldenen Zinnen gekrönten Tempel durften nur hohe Priester betreten. Ein goldener Tisch mit den köstlichsten Speisen Sündenbabels und eine Liegestatt standen bereit, Jungfrauen erwarteten Tag und Nacht die irdischen Vertreter Gottes, um mit ihnen die Zeit zu teilen. Als Alexander der Große 331 die Stadt besetzte, war sie zwar noch immer die schönste und größte, der Turm jedoch zerstört. Dem Plan, Babylon zur Hauptstadt seines Weltreiches auszubauen und den Turm wiederzuerrichten, setzte nur Alexanders früher Tod eine Ende.

Unser heutiges Bild vom Aussehen des Turms verdanken wir dem Deutschen Robert Koldewey, der die noch heute sichtbaren, fußballfeldgroßen Grundmauern zu Beginn unseres Jahrhunderts entdeckte. Seinen Rekonstruktionen zufolge standen die goldenen Betten der Mardukpriester auf einem gewaltigen, aber recht soliden Untergrund: nicht weniger als 85 Millionen Lehmziegel!

4

Der Wolkenkratzer.

Das Empire State Building

Wie weit in den Himmel hinein das höchste Haus der Welt ragt, wurde den New Yorkern an einem nebligen Novembermorgen des Jahres 1945 bewußt, als ein B-52-Bomber, vom Kurs abgekommen, ins 78. und 79. Geschoß des Empire raste, sieben Wände durchschlug, und 16 Menschen ums Leben kamen. Die Standfestigkeit des Riesenturms blieb unbeeinträchtigt.

Der Baubeginn – mit dem Aushub beginnt man 1930 – fällt in eine Zeit weltwirtschaftlicher Kreditschwierigkeiten, und umso erstaunlicher ist die Tatsache, daß das Stahlskelett in nicht mehr als 23 Wochen hochgezogen wird. Dreitausend Arbeiter sind täglich am Werk, unter ihnen viele Indianer von den Stämmen der Irokesen und Mohikaner; deren völlige Schwindelfreiheit macht sie zu hochqualifizierten Facharbeitern. Am 11. April 1931 ist das bis heute am schnellsten errichtete Hochhaus fertig und bleibt 42 Jahre das höchste Gebäude der Welt. Erst die beiden Zwillingstürme des World Trade Center übertreffen in den siebziger Jahren seine 381 mit 415 und 417 Metern. Die derzeit höchsten Gebäude sind der „Cn Tower“ in Toronto, ein Fernsehturm, der 555 Meter in den Himmel ragt, und der als das höchste Haus geltende, 443 Meter hohe Sears Tower, eine unelegante turmgewordene Scheußlichkeit, die eher dem Bilanzprogramm eines Second-Hand-Atari entsprungen zu sein scheint als dem Reißbrett eines Architekten.

Der Kampf um das höchste Gebäude, den traditionell die Städte New York und Chicago ausgefochten hatten, hat an Bandbreite gewonnen: Auch Houston/Texas und Phoenix/Arizona beteiligen sich mit Turmprojekten gewaltiger Höhe an dem Wettstreit, „wer kann am höchsten…“.

Seit Donald Trump in die Fußstapfen von Howard Hughes getreten ist, meldet sich auch New York wieder an die Front zurück: Mit seiner Television City, deren höchster Turm fast 600 Meter erreichen soll, will der New Yorker Multimilliardär endgültig Klarheit in die Frage bringen, wo der höchste Wolkenkratzer der Welt wirklich zu Hause ist.

Am Michigansee planen die Chicagoer unbeeindruckt weiter

„ihr“ World Trade Center. Unklar ist noch, ob es 701 oder 726 Meter hoch werden soll.

Der schönste aller Wolkenkratzer ist ohnehin das Chrysler Building, eine Art-Deco-Spitze, die sich mit den schönsten gotischen

Kirchtürmen messen kann.

Das „Ding an sich“, auch darüber kann kein Zweifel sein, bleibt das Empire, für dessen Schlichte, aber kompetente Eleganz das Wort „cool“ neu erfunden werden müßte.

5

Der Schönste.

Der Stephansturm in Wien

Als die Türken 1529 Wien belagerten, ging es nicht nur darum, das Abendland im heiligen Krieg zu erobern, sondern auch darum, ein das Maß ihrer Vorstellungen sprengendes Bauwerk in ihren Besitz zu bringen: das höchste und prächtigste Minarett der Christenheit, gekrönt von einem gewaltigen goldenen Apfel.

Heinrich II. Jasomirgott, der seine Residenz einst nach Wien verlegte, ließ eine hier bereits bestehende Kapelle zur Kirche umgestalten. (An der Stelle des Doms war immer schon ein Heiligtum gestanden, ein keltischer, später ein römischer Tempel.)

1359 legte der Habsburger Rudolf der Stifter die Grundsteine zu Langhaus und Südturm. Trotzdem sollte es bis 1433 dauern, bis Hans von Prachatitz den zu seiner Zeit höchsten Turm der Welt vollendete. Rätselhaft bleibt die Tatsache, daß er mit 137 Metern exakt die Höhe des seit ewigen Zeiten höchsten Bauwerks, der Cheopspyramide, erreichte. 1439 löste ihn der ausgebaute Straßburger Münsterturm mit 143 Metern als höchster Turm ab. Die Vierungstürme von Rouen (150 m) und Beauvais (153 m), ein Jahrhundert später erbaut, übertrafen Wien und Straßburg, stürzten aber bald ein oder brannten ab. (Die Höhe, die der hölzerne Spitzturm der alten St. Paul’s Kirche in London mit 149 Metern gehabt haben soll, wird stark angezweifelt.)

Siebzehn Jahre nach Vollendung des Südturms schritt das abendländische Wien an die Erbauung eines zweiten, noch höheren Turms, der jedoch später das Schicksal des Prager Veitsturms teilen sollte: Beide blieben Turmstümpfe. (Der Veitsturm war schon über 140 m hoch, als er einstürzte.) Der „Steffl“, wie ihn die Wiener liebevoll nennen, entging nicht nur der Zerstörung durch türkisches und napoleonisches Geschützfeuer, sondern auch dem satanischen Plan einer SS-Einheit, den Dom und seinen Turm lieber zu sprengen, als ihn dem Feind zu überlassen. Als die Bombenangriffe auf Wien zunahmen, hatten sich regelmäßig Tausende Wiener Frauen statt in den Luftschutzkellern im Dom versammelt, um die Bombenschauer regelrecht „abzubeten“.

Wie erfolgreich ihnen das gelang, zeigt eine Karte der Bombentreffer der Inneren Stadt: Rund um den Dom liegt eine Perlenkette von Einschlägen. Den Dom selbst traf keine einzige Bombe. (Den Brand des riesigen Dachs, eines Meisterwerks gotischer Zimmermannskunst, löste der Funkenflug von den brennenden Grabenkaufhäusern aus.) Der Turm blieb unversehrt und gilt nach wie vor als das „schönste Minarett der Christenheit“.

1. Der babylonische Turm, ca. 562 v. Chr. fertiggestellt, 80 m.  2. Die Cheopspyramide, 147 m.  3. Der Pharos von Alexandria, 280 v. Chr. erbaut, 1326 eingestürzt, ca. 140 m. 4. Der schiefe Turm von Pisa, 1173-1350 erbaut, 56 m. 5. Der „Steffl“ in Wien, ca. 1359-1433 erbaut, 137 m. 6. Die Schwedagon Pagode in Rangun, 11.-15. Jh. erbaut, ca. 100 m. 7. Das Empire State Building in New York, 1930/31 erbaut, 381 m hoch, mit Antenne 449 m. 8. Der Eiffelturm in Paris, 1887-89 erbaut, 300 m, mit Antenne 320 m. 9. Der Manglaturm in Siena, 1338-49 erbaut, 102 m. 10. Der Salzturm von Aussee, 15. Jh., nie erbaut, 162 m. 11. One Mile High Tower, 1956 geplant, 1584 m (im Maßstab der Zeichnung würde er 100 cm über den Blattrand hinausragen).

 

 

6

Der Stolzeste.

Die „Torre del Mangia“ in Siena

Von den Türmen der Toskana ist er der stolzeste. Obwohl er an einer der niedrigsten Stellen der Stadt errichtet wurde, überragt er alle anderen Türme der Stadt. Die Ähnlichkeit mit dem Turm des Palazzo Vecchio in Florenz ist kein Zufall: Bis in die Antike zurück führt die Rivalität zwischen Florenz und Siena, dem etruskischen Saiena. Ihren Höhepunkt erreichte diese Erbfeindschaft in den fortwährenden Fehden ghibellinischer Sienesen und guelfischer Florentiner. 1314 krönten die Bürger der Arnostadt den monolithischen Block ihrer Rathausfestung mit einem zinnenbewehrten, 300 Fuß hohen Turm. So weit waren die stolzen Sienesen noch nicht. Dreizehn Jahre hatten sie zwar an ihrem wesentlich eleganteren Palazzo Publico gebaut, aber weitere 24 sollten vergehen, bis den Florentinern mit einem ungeheuren Turmprojekt geantwortet wurde: ein 333 Fuß (102 m) hoher Turm, höher und schlanker als der der Florentiner.

Nicht weniger als acht Architekten planten den gigantischen Menhir. Als die Stadtregierung das kühne Projekt zum ersten Mal sah, wollte sie nicht glauben, daß ein Bauwerk dieser Höhe werde halten können, die Künstler mußten beteuern, daß er in Ewigkeit stehen werde. Erst unter der Abgabe schriftlicher Ehrenworte, der Turm werde nicht einstürzen, wurden die Baumeister mit der Errichtung der Torre beauftragt. Das Ehrenwort wurde nicht gebrochen, der Turm, in elf Jahren hochgezogen, ist inzwischen 640 Jahre alt und denkt nicht daran einzustürzen. Seinen Namen bekam er vom Glöckner „Mangiaguadagni“, der auf ihm mit einem Hammer die Stunden schlug. Die große Glocke von 1666 ist der Maria Assunta geweiht und wird im Volksmund „Sunto“ genannt.

Zweimal im Jahr bewacht der Mangiaturm das wohl berühmteste Pferderennen der Welt, den Palio, der in seinem Schatten auf der muschelförmigen Piazza del Campo ausgetragen wird.

7

Der Goldenste.

Der große Stupa in Rangun

Der Bau der Swedagon-Pagode im burmesischen Rangun geht nach der Legende auf Siddharta Gautama, wie Buddha mit richtigem Namen hieß, zurück. Schon im elften Jahrhundert hatte die Riesenglocke eine Höhe von 90 Metern, immerhin die Höhe des babylonischen Turms, erreicht. Der Ursprung der Stupas geht bis in älteste Zeiten zurück, vorerst waren sie primitive Grabhügel, die, immer reicher und kostbarer, meist über Reliquien des Buddha errichtet wurden. Das sanskritische Wort „stupa“ entstammt der indoeuropäischen Sprach-Ursuppe; selbst in den entferntesten Gegenden Europas taucht das Wort auf. Es reicht vom altisländischen „stupa“- „emporragen“ – bis zum englischen Wort „steep“ für „steil“, auch unsere Worte „steif“ für „emporragend“ und die „Stufe“, die ja auch „nach oben“ führt, sind also mit den Türmen Buddhas verwandt.

Die Kostbarkeit der Swedagon-Pagode als religiöses Heiligtum kann nicht festgestellt werden, der Wert ihrer 8688 Goldplatten soll jedoch den der Bank von England übersteigen. Die Spitze des Stupa ist mit 5448 Diamanten belegt, 2317 Rubinen, ungezählten Saphiren und Topasen. Den Gipfel krönt ein zehn Meter hoher Schirm, dem Sonnenschirm des Papstes vergleichbar, an dessen 7 vergoldeten Stangen 1065 goldene und 420 silberne Glocken hängen. An der Spitze des Schirms wiederum ist ein riesiger Smaragd angebracht, der die letzten und ersten Sonnenstrahlen einfängt.

8

Der Wahnsinnigste.

Der Salzturm von Aussee

Man schreibt das Jahr 1495, Christoforo Colombos Entdeckung des falschen Indiens liegt erst drei Winter zurück, Maximilian I. ist zwar deutscher König, aber noch nicht Kaiser, da stoßen die Spaten dreier Salinenarbeiter auf eine versunkene Welt.

An der uralten Paßstraße, die vom Pötschen, einem kleinen Sattel zwischen Oberösterreich und der Steiermark, nach der prosperierenden Salzstadt Aussee führt, läßt Hans Herzheimer die Fundamente für einen Stadel ausheben. Herzheimer ist Salzverweser, im besten Mannesalter, der mächtigste und ideenreichste Mann des Tales. Der von seinen Arbeitern herbeigerufene Herzheimer merkt schnell, daß die Steinmauern, die sechzehn Fuß in die Tiefe führen, mehr getragen haben müssen als ein schlichtes Bauernhaus. Die römischen Inschriften und einige Reliefsteine sind in einer Sprache geschrieben, die selbst dem des Lateinischen kundigen Herzheimer unverständlich bleiben. Die geheimnisvolle Entdeckung soll sein ganzes Leben verändern. – Die Ausgrabung wird vorerst mit einem riesigen Stadeldach überdeckt und geheimgehalten.

Obwohl ihn seine Geschäfte als Berater von Friedrich III. und als Kriegsgefährte des jungen Maximilian mehr als beanspruchen, keimt ein Plan von utopischen Dimensionen. Bei den auf seinen Gründen ausgegrabenen Mauern, so schließt er nach Gesprächen mit Dombaumeistern, Ingenieuren und humanistischen Gelehrten, denen er sein Geheimnis nicht enthüllt, müsse es sich um die Fundamente eines gewaltigen – aus welchen Gründen auch immer – nicht gebauten keltisch/römischen Turms handeln.

Seine Frau Margarethe hat ihm statt eines Stammhalters elf Töchter geboren, die er – noch immer ohne Sohn, aber inzwischen zu einem frühkapitalistischen Finanzmagnaten fuggerschen Ausmaßes geworden – in die besten Häuser Österreichs vermählt.

Herzheimer finanziert mit den Erträgen seiner Bergwerke vorerst die erfolglosen Kriegsunternehmungen seines Ritterfreundes Maximilian; der Gedanke, keinen Sohn in die Welt gesetzt zu haben, läßt den inzwischen menschenscheuen Eremiten immer mehr Geldmittel in sein Turmprojekt umleiten. Immer neue Entwürfe eines über 150 Meter hohen, das gesamte Wissen seiner Zeit enthaltenden Turms fertigt er an. Eine astronomische Uhr gibt er in Auftrag, riesige Mengen von Elfenbein, Zirbenholz, ja selbst Gold hortet er in seiner kleinen Stadtburg, und er läßt Dutzende marmorne Säulen anfertigen.

Als Herzheimer 1532 als verarmter Greis stirbt, hinterläßt der „Howard Hughes“ der beginnenden Neuzeit ein niemandem zugängliches Chaos an Entwürfen und Berechnungen. Sein Erbe wird in alle Winde zerstreut. Der Turmstumpf, von dem schon sieben Meter stehen, wird im Laufe der nächsten zwei Jahrhunderte als Steinbruch verwendet und fast ganz abgetragen. Auf dem Hügel, den es heute noch gibt, wird später der Dichter Nikolaus Lenau sitzen, ihn, ohne den Grund zu kennen, als bevorzugten Ort aufsuchen, um seinen Weltschmerz zu kurieren.

Das Blut Herzheimers, der so gerne einen Sohn gehabt hätte, trugen seine elf Töchter indes in die vornehmsten Familien. Es rauscht in den Adern der Trauttmansdorff, Schwarzenberg, Thurn und Harrach.

9

Das Weltwunder.

Der Pharos von Alexandria

Für die Griechen und Römer der Antike war der Turmbau kein Thema von besonderer architektonischer Bedeutung. Ihre Türme waren Wachtürme, die, wenn überhaupt, kaum die Höhe der Festungsmauern überstiegen. Mit der Idee des Turms wurde ein Grieche allerdings im biblischen Babylon infiziert: Der wiedererrichtete babylonische Turm sollte Alexander des Großen neue Reichshauptstadt zum Mittelpunkt der Welt machen.

Den in Babylon nicht durchgeführten Plan trug Sostratos, Alexanders Generaladjunkt, nach dessen Tod Satrap, nach Ägypten.

Auf der kleinen Insel Pharos, die Alexandria, der ersten Gründung Alexanders, vorgelagert ist, ließen Ptolmäus I. und sein Nachfolger Ptolmäus II. eines der Weltwunder der Antike errichten. Eine 340 Meter im Quadrat messende Terrasse sollte das ungeheure Gewicht aufnehmen und der gigantische Steinturm in drei übereinander sich erhebenden Türmen gebaut werden. Ein viereckiges, 70 Meter hohes Grundgeschoß trug einen 38 Meter hohen zweiten Turm, dem eine runde Spitze aufgesetzt war: Deren kegelförmiges Dach trug eine Statue des Meeresgottes Poseidon, nach anderen Bericht eine des Zeus.

Die Fassade des Pharos war mit blendend weißen Marmorplatten verkleidet, seine Höhe überstieg mit mehr als 140 Metern die eines anderen Weltwunders in nächster Nähe: der Pyramiden von Gizeh, mehr als 2000 Jahre vor ihm von ägyptischen Steinmetzen errichtet. Das Leuchtfeuer in seiner Spitze ist vermutlich erst 400 Jahre nach seiner Erbauung eingerichtet worden.

Als der Wunderturm 1326 bei einem Erdbeben einstürzte, hatte er 1606 Jahre gestanden und war nicht nur Vorbild der islamischen Minarette: Die Dombaumeister des christlichen Abendlandes hatten das Wissen der Alexandriner Bauhütte in ihren geheimen Logen über Jahrhunderte weitergegeben.

Ein Beweis dafür ist der Gipfel gotischer Turmbaukunst, der Wiener Stephansturm: Er ist bis in kleine Details der mit gotischem Vokabular neuerbaute Pharos.

Welche Kontinuität über Kontinente und Jahrtausende!

Aus den Resten des eingestürzten Leuchtturms wurde 1480 ein Fort gebaut, das bis auf wenige Änderungen heute noch zu besichtigen ist.

10

Der Utopischste. 

Frank Lloyd Wright’s One Mile High Tower

„Ein Schwert mit einem Griff, so breit wie die Hand, fest im Boden verankert, mit der Klinge nach oben gerichtet … Würde mein Entwurf kunstgerecht ausgeführt, stünde das Gebäude länger als die Pyramiden…“ 

Als Frank Lloyd Wright 1956 sein spektakuläres Zukunftsprojekt eines über 1600 (!) Meter hohen, außerordentlich spitz zusammenlaufenden Turms vorstellte, befand er sich selbst schon längst im Olymp der Architektur. Warum das Projekt nicht verwirklicht wurde – technisch war es durchaus möglich – bleibt ebenso rätselhaft wie die Tatsache, daß einer der schärfsten Kritiker von Hochhäusern eine Nadel von solch gewaltiger Höhe geplant hatte.

Das turmartige Riesengelände, das mehr als viermal so hoch gewesen wäre wie das zu seiner Zeit absolut höchste, das berühmte Empire State Building, hätte nach den Vorstellungen seines Schöpfers vorwiegend Wohnzwecken dienen sollen.

Eines ist sicher: Wäre er gebaut worden, der „Illinois Mile High“ wäre auf jeden Fall von allen Türmen der schönste geworden. Und viele hätten ihn gesehen: Der (im wirklichen Sinn) Wolkenkratzer wäre noch in unglaublichen 173 km Entfernung sichtbar gewesen. Den noch immer offenen Wettstreit um der Welt höchstes Gebäude hätte Chicago damals wohl für ewige Zeiten für sich entschieden.

Wien am Inn

Andrea Dusl
Essay, FORVM, Oktober 1986, pagg. 37ff.

Dem Weichbild der Wienerstadt steht eine Schönheitsoperation ganz besonderer Art bevor. Die Umwandlung ihres größten, berühmtesten und in diesem Sinn eigentlich einzigen Fließgewässers in ein Fäkaliensammelbecken mit benachbarter Badegelegenheit. Die letztere, in Ergänzung zum Gänsehäufl – immerhin dem ältesten Strandbad Europas – besteht schon. Wie der Stau verhindert werden kann, steht auch schon fest. Wien wird an den Inn gelegt. A. D.

Papa Erwin Dusl.

„Letzte Donaumetropole, bevor sie Budapest erreichen“ steht auf einem Nußdorfer Straßenschild. Das kann nur ein Wiener geschrieben haben. Der Wiener ist nämlich ein böser Mensch, auf alles ist er bös‘, am meisten natürlich auf sich selbst. Und des Wieners Lieblingstugend ist dementsprechend der Haß. Wenn aber der Wiener etwas mehr haßt als sich selbst und die anderen Bewohner seiner taubenverschissenen Stadt oder eben diese selbst, die seinen Haß gebiert, ihn hegt und pflegt, dann ist es das Wasser. Nichts haßt der Wiener mehr als das Wasser.

Im Wienerwald entspringen gut zwei Dutzend Bäche, die einmal alle durchs heutige Wien flossen. In jedem Heurigenort „draußt'“ ereilt sie das gleiche

Schicksal: Kaum an der Stadtgrenze angekommen, mutieren sie zu Känälen. Unterirdisch und verdrängt in jedem Sinn des Wortes, fließen sie einem anderen Kanale zu, dem Donaukanal. Auf ihrem Weg durch Wien bilden sie eines der ausgedehntesten Kanalsysteme der Welt, das immerhin so berühmt ist, daß Millionen Westmenschen Wien mit

dem Dritten Mann identifizieren so wie Australien mit dem Känguruh. Den Donaukanal, angereichert durch Wiens Abwässer und Bäche, halten sie dann auch für die Donau, so wie sie ihre Filme vor der Votivkirche verschießen, die sie für den Stephansdom ansehen. Bei der Urania, wir werden die wahre Bedeutung dieses Wortes noch erkennen, stößt der korsettierte Wienfluß dazu, gemeinsam geht’s jetzt an Erdberg und Simmering vorbei, Richtung Winterhafen, der regulierten Donau zu, die dann noch ein wenig umkämpften Auwald sieht, bevor sie im neuen österreichisch-ungarischen Stausee bei Nagymaros endet.

Die Geschichte der wienerischen Wasserverdrängung1 ist älter, als man zunächst vermuten könnte. Die große – wahrhaft barbarische – franzisko-josephinische Monumentalverdrängung, vulgo Generalregulierung, steht erst am Ende einer langen Reihe von Bach- und Flußverlegungen. Inwieweit ein Zusammenhang besteht zwischen dem Regulierungswahn Franz Josephs und der Tatsache, daß er der einzige barttragende Imperator Augustus habsburgischen Stammes ist, kann hier nicht völlig geklärt wer-den. Beides, Barttragen und Wasserverdrängen, könnte neurotischen Ursprungs sein:

Der Bart des Kaisers hatte unter dem Kinn eine breite Schneise, die Franz-Joseph-Bartrasur. Diese mag dem Habsburger notwendig geworden sein, um dem gesellschaftlich untragbaren Fauxpas des Bartbeschmutzens beim Essen und Trinken zu begegnen. Der auf Jugendportraits evidente Überbiß des Kaisers erklärt nicht nur diese kaiserliche Unpäßlichkeit, sondern nährt auch die nicht enden wollende Zahl der Gerüchte über eine eventuell unstandesgemäße, nichthabsburgerliche Abstammung Franz Josephs. (Über deren Richtigkeit ich mich eines Urteils enthalten muß.)

Immerhin – wäre Franz Joseph Träger der Habsburgerlippe gewesen, würden sich diese Überlegungen erübrigen. Auch Franz Josephs neurotisches Getue um die nicht standesgemäßen Liaisonen seiner nächsten Verwandten, die ja in allen Fällen katastrophalen Ausgang nahmen, wäre so erklärbar. Um nicht noch bürgerlicher zu werden, oder umgekehrt ausgedrückt, um womöglich der eigenen Existenz als Fehltritt der bayerischen Mutter (was FJ durchaus nicht gewußt, aber geahnt haben könnte) auf dem Wege der Auffrischung durch anderes Königsblut zu begegnen, war ihm jedes Mittel der Durchsetzung von „standesgleichen“ Verbindungen recht. Franz Josephs Nachkommen hielten sich, bar solcher Abstammungsneurosen (ohne es zu wissen), aber lieber unter ihresgleichen, den weniger kaiserlich-königlichen auf. FJ selbst hat nicht nur die landfrische Sisi zur Kaiserin gemacht, sondern war ein passionierter Verehrer der bürgerlichen Frauen2.

So steht also der Vermutung nichts im Wege, daß das Antlitz des imperialen Wien Emanation des francisco-josephinischen Gesichtsschmuckes ist. Bekanntlich haben ja in Wien die kleinsten Ursachen durchaus die größten Wirkungen. Die historische Größe Franz Josephs wird durch diese Überlegungen nicht geschmälert.

Aber Franz Joseph war nicht der erste Bachverleger. Schon Herzog Leopold VI., der als Babenberger dem entspricht, was FJ I als Lothringer Habsburger war – Leopold hatte Wien zur größten Stadt des römischen Reichs gemacht -, verlegte großzügig. Unter seiner Herrschaft wurde Wien endlich vom lästigen Ottakringerbach, der über Minoritenplatz und Tiefen Graben der damals noch nahen Donau zufloß, befreit. Das enge Wien brauchte Platz, und so wurde der Bach aus der Stadt gelegt und sein Wasser nach Osten zur Wien und ihren vielen Mühlen geleitet. Auch Als und Ulrichsbach wechselten wiederholt das Bett. Nach jeder größeren Überschwemmung wurden Wiens Bäche durch Bettverlegung bestraft. Da die Wiener Bäche ja eigentlich Gebirgsbäche sind – sie entwässern das gesamte östliche Wienerwaldgebirge -, wundert es kaum, daß sie bei Unwettern zu reißenden, alles verheerenden Strömen wurden.

Dem zarten Wienfluß kann man, heute noch, während eines Gewitters beim Anschwellen zu imposanter Größe zuschauen. Zuletzt hat diese Eigenschaft der Wien eine Türkenbelagerung zum Guten gewendet. Gedankt hat man es ihr im Grunde weder damals noch heute. Im Gegenteil. Auch hier ist es die Stadtgrenze, von wo an auch die Wien im Gewande des Kanals fließen muß. Sie muß auch, kaum in Sichtweite der Wienerstadt, flugs unter die Erde, um angesichts soviel Imperialen nicht durch allzu Alpines, Bäuerliches aufzufallen. Erst hinterm Kursalon Hübner, im sogenannten Stadtpark, fließt die Wien wieder oberirdisch, im hohen Korsett, versteht sich.

Der Donaukanal hingegen, die wenigsten Wiener wissen das, ist wirklich ein Kanal, er sieht nicht nur so aus. Zwar war hier immer schon ein Donauarm von beachtlicher Stärke geflossen, zeitweise sogar der Hauptstrom, aber seit dem Mittelalter drängte dieser Arm nach Norden. Maria am Gestade unter der Salzgries sowie der Einkehrgasthof Salzamt markieren noch heute das damalige Donauufer. Im sechzehnten Jahrhundert drohte dieser Arm jedoch zu versanden, und es wurde der elegant dammbegleitete, in der Breite allerdings reduzierte Donaukanal [ausgehoben.]

Der Hauptstrom jenseits des Augartens fiel, wie schon gesagt, der römisch-imperialen Begradigungswut des echtesten aller Wiener, Franz Joseph, zum Opfer. Vom einstigen Donauurwald blieben nur die schon früher angelegte barocke Perversion zum Thema Wald, der Augarten und ein zum Volks- und Wurstelpark degradierter, jetzt der jagdparadiesischen Größe beraubter, zwickelförmiger Prater.

Von der Donau und ihren zahlreichen fischreichen Armen blieb, wie ein zerschnittenes Glied auf dem Schlachtfeld, die sogenannte Alte Donau mit ihren schrebergartenschwangeren Ufern Neubrasilien und Arbeiterstrandbad übrig, dazu ein paar ausgedehnte Kleinstarme in der Lobau und der Nachenweiher Heustadlwasser im Prater, in dem jetzt das Wintersalz der Südosttangente fließt. In der Simmeringer Heide soll es noch den geheimnisvollen Seeschlachtbach geben. Von allem noch fast unberührt, fließt im Süden Wiens die Liesing, die ihre Virginität wahrscheinlich nur ihrer Lage jenseits des Zentralfriedhofs verdankt, und die via Schwechat beim heutigen geographischen Topos „Erdgasbrücke“ in die hier schon (weil Stadtgrenze) einigermaßen krumme Donau mündet.

Die Wiener Bäche und Flüsse können dem Wiener also offenbar keine größere Freude machen, als möglichst schnell wieder Wien zu verlassen oder ihr Fließen prompt einzustellen. Sind sie doch alle Fremde in Wien. Wo Zuschütten nichts half, wurden sie überdacht, wo dies die Breite unmöglich machte, begradigt oder gestaut. Das Inundationsgebiet, beliebter Fußballplatz früherer Bubentage, an dem sich, wenigstens zu Überschwemmungszeiten, vermehrt Wasser oder der seltene Eisstoß aufhalten durfte, ist mittlerweile auch verschwunden. Statt dessen gibt es die Neue Donau, einen Stausee, der bei Bedarf geflutet wird, das Wasser zwar dann bakteriologisch für ein Monat versaut, aber dafür Inundation von Stadtgebiet nicht mehr zuläßt. Wiens wichtigstes Gewässer hingegen ist, zumindest im Selbstverständnis der Wiener, der Hochstrahlbrunnen, der dem russischen Denkmal des unbekannten Soldaten3 seine Ehre erweist. Hier uriniert die Wienerseel‘ von unterirdisch auf das ferne Rußland. Dahinter sitzt Fürst Kari in seinem wunderbaren Palais. Es soll später noch die intuitiv richtige Erfassung des Zusammenhangs Donau – Wasser – Rußland aufgegriffen werden.

Mehr als die Wiener kann man gar nicht gegen das Wasser tun, so scheint’s. Die Stadtväter und ihre elektrischen Berater waren nicht faul in letzter Zeit. Nach dem Debakel von Hainburg soll ein anderer Stausee durchgeboxt werden. Der größte und schönste, der sich denken läßt. Die Donau, und zwar die beinamenlose, fließende, und ihre Schwester, die Neue, sollen gestaut werden. „Wien am Stausee“ heißt die brillante Idee; an einem Sporthotel am Handelskai, in den Mauern eines monumentalen Getreidespeichers, wird schon gebaut. Nur – die cloaca maxima wird auch die gesamten Abwässer aller Wiener Toiletten enthalten. Nennings „Klosee“ wird Wirklichkeit.

Wie können wir das verhindern, was hier, nach all dem, was bereits geschehen ist, mit der Donau angestellt wird? Ganz einfach:

Wien wird an den Inn gelegt!

Im Lande eines anderen Franz Joseph4, im bayerischen Passau, fließen drei Flüsse zusammen. Die schwäbische Donau, der rätische INN und die kleine bayerische Ilz. Für die Tiroler war es seit jeher ein offenes Geheimnis: Nicht der INN fließt hier in die Donau, sondern genau umgekehrt: diese nämlich in den breiteren und wasserreicheren INN. Der Inn verliert seinen Namen an die Donau! Dies war aber nicht immer so. Wie so oft ist auch diese Geschichtslüge römischen Ursprungs.

Passau. Nicht der Inn fließt hier in die Donau, sondern umgekehrt, diese in den breiteren und wasserreicheren Inn.

Schon die antiken Geographen haben bei der Erwähnung der großen Flüsse nach deren Ursprung gefragt und mehr oder weniger bestimmte Meinungen dazu aufgestellt. Herodot nimmt als Ursprung des heute Donau genannten Hister die Stadt Pyrene „im Lande der Kelten“ an. Diese Angabe mutet dunkel und mehrdeutig an, immerhin denken wir bei der Silbe PYR unweigerlich an die Pyrenäen in einer ganz anderen Ecke Europas. Die antiken Autoren bezeichneten aber auch die Alpen so, der uralte Stamm PYR lebt noch in unserem Gepyrge und verwandten Wörtern fort. Gänzlich gelöst ist der Zweifel, wenn wir die römerzeitliche Bezeichnung für den BRENNERpaß heranziehen: mons pyrenaeus. Auch im steirischen Pyhrn, dem Pyhrnpaß, dem großen Pyhrgas und dem Großen Priel im Toten Gepyrge lebt dieser, wahrscheinlich vorindogermanische, Stamm fort. Schließlich hieß die perfekte Abstraktion des Themas BERG, der künstliche Kult-und Grabberg, ägyptisch Pyramide. Mit Pyrenäen war wahrscheinlich allgemein das Gebirge gemeint. Das griechische PYR (für Feuer), von dem Feuer, Furor und ähnliche Wörter abstammen, aber auch unser BRand, ist hier interessant, spannt sich doch der Bogen von Pyrenaeus zu Brenner für ein und denselben Paß.

In diesem uralten Gepyrge entspringt also unser Inn: in den von den hier seit Urzeiten wohnenden Rätern5 so genannten Alpen. Als Inntal dürfte in antiker Zeit das Tal bis zum Malojapaß hinauf betrachtet worden sein; dieses Tal hieß damals wie heute Engadin oder Eniatino (aus rätoromanisch en co de ina, lateinisch „in capite de eni“, also „Am Kopf des Inn“, soviel wie: „Land beim Ursprung des Inn“).

Wenn wir dem INN oder dem EN flußaufwärts durch das schweizerische Unter- und OberengadIN folgen, gelangen wir, an Samaden, dem Hauptort des Oberengadin vorbei, nach SanMurezzan (St. Moritz) und dem gleichnamigen, vom Inn durchflossenen Sec. Dann folgen der kleine Campfersee und schließlich Silvaplaner- und Silsersee (Lej da Segl) mit dem Paßort Maloggia an seinem westlichen Ende. Den Ausfluß aus dem Lej da Segl nennen die Rätoromanen „Chieau d‘EN“, Kopf des Inn, und deuten damit an, daß sie hier den Beginn des Inn ansehen. Damit befinden sie sich in Gesellschaft der antiken Autoren, die als Flußursprünge Seen bevorzugten, „aus deren sicherem Behältnis, von den kleinen Gewässern gespeist, der Fluß seinen Ausgang nimmt“. (Strabo hat den Bodensee als Ursprung des Rhein betrachtet.) Welcher der Zuflüsse des Silser Sees als Inn betrachtet werden kann, ist lange Gegenstand verschiedenster Deutungen gewesen. Die von den Bernina-Gletschern (Bernina=Pyrnena=Berg der Flüsse) gespeisten Bäche münden in die östliche Breitseite des Silser Sces. Einzig die vom Lunghinogsee unterhalb des Piz Lunghino kommende Ova d‘OEN gießt sich knapp an der Wasserscheide zwischen Adria und Schwarzmeer bei Maloggia, dem äußersten Ende des Engadins, in den Silser See und gilt heute als der junge Inn.

Das Wort Inn, römisch Oenus, griechisch Ainos, rätoromanisch En, dem wir mit dem Lauf des Inn (selbst nach Passau) noch oft begegnen werden, entstammt einem keltoillyrischen, wahrscheinlich aber noch älteren an, en, in mit der Bedeutung „fließt“. Hiezu gehört auch das irisch-keltische am, Wasser, Fluß.

Die indogermanische Präposition an, anu bedeutet allgemein ein „an„, an einer schrägen Fläche hinauf. Auch das sanskritische sindh, Strom, Fluß, von dem sich der Indus und die Hindus, die Bewohner dieser Flußlandschaft, ableiten, gehört zu diesem Urstamm „in„. Wenn man den Begriff Strom, Fluß, Bach noch weiter abstrahiert von „fließen“, als auch von „hinansteigen“, kommt man zu In-Sein, im Sinne von Innesein, drinsein (im Tal, im Gelände, in der Erde).

Von allen Flüssen keltisch-illyrischer Nomenklatur trägt der Inn das Urwort für Fluß bar jeder Ergänzung durch Suffices. Wer hätte dem Inn solches zugetraut! Der Fluß, oder „das INN„, wie die Inntaler sagen6, muß also länger sein als die 510 Kilometer von Lunghino bis Passau. Einzig der Indus noch trägt seinen Namen so stolz und beinamlos. So große andere keltische Flüsse wie die Rhône (röm. rhodanus), der Rhein (rhenus), die Seine (antik. senona) und die, zugegebenermaßen kürzere, aber doch recht prominente Themse (tamesa) bescheiden sich damit, nicht d e r Fluß zu sein.

Wie kommt es nun, daß der Fluß der Flüsse bei Passau (Castra Batava) seinen Namen an die Donau verliert? 15. v. Chr. besetzt Rom zur Sicherung seiner Nordgrenze das schon seit einem Jahrhundert in einem Königreich keltischer Stämme geeinte Noricum, vermutlich kampflos. (Im Grunde typisch für unsere Verhältnisse, auch 1938 war es ja nicht anders.) Die heutige Donau wird Grenze des römischen Reichs, der Unterlauf des heutigen Inns jene der Provinzen Raetia und Noricum. Ab dem heutigen Wien, das in antiker Zeit noch die Grenze zwischen den keltischen Norikern und den schon thrakischen PannONiern markierte, hieß der Fluß Hister oder Ister, thrakisch Istros, wobei sich hier sprachlich der Volksstamm der Histri oder Istri (vide das dalmatinische Istrien!) für die mutuelle Namensspendung anbietet7.

Der Inn fiel der Notwendigkeit einer kontinuierlichen Flußbenennung entlang der römischen Nordgrenze zum Opfer. Auch die römische Neurose des Gerademachens mag hier eine Rolle gespielt haben. Die Sprachgrenze, die hier, ähnlich wie beim heutigen Eisernen Vorhang, sofort entstehen mußte, förderte diese Entwicklung. Die antiken Geographen tradierten diesen Sachzwang im Grunde bis in heutige Zeit, und so heißt es eben von Passau bis zum Schwarzen Meer „Donau“ und nicht mehr „das Wasser“, INN. Keltisch-norische Geschichtsschreibung aus dieser Zeit könnte uns natürlich in dieser Frage weiterhelfen, doch die Kelten waren kein Schreibervolk. Woher stammt aber dann der Name Donau für den ganzen Fluß, der im übrigen erst vom Zusammenfluß von Breg und Brigach an, bei Donaueschingen, so heißt?

Etymologisch gesehen ist Donau aus dem sarmatischen DAN, DON (Fluß, Strom) entstanden, so wundert es auch kaum, daß es im Osten fast keinen größeren Fluß gibt, dessen Name sich nicht davon herleitet. Der Don (griechisch Tanais, tartarisch Tuna, Duna (!), der Urs-Don (weißer Fluß), der Kisil-Don (Goldfluß) fallen natürlich zuerst ins Auge. Aber auch der Donez, ein Don-Zufluß, gehört hierher. Hingegen sind Dnjestr (Danaster) und Dnjepr (Danapris) schon schwieriger zu erkennen. Alle erwähnten Flüsse sind (für europäische Verhältnisse) recht beachtlich in ihrer Größe8, womit indogermanisch „dan“ für starkfließendes Gewässer auch zutrifft.

Der Inn/Ister dürfte seinen Namenswechsel den nomadisierenden Sarmaten verdanken, die ihren heimatlichen Flußnamen Don (der antike Grenzfluß zwischen Europa und Asien, zwischen Skythen einerseits und Saramaten andererseits) hierher gebracht haben dürften. Daraus wurde dann römisch Danuuius, Danubius

Oberengadin. Wo der Inn beginnt.

und über ahd. Tuonouw und mhd. Tuonouwe schließlich unser heutiges Donau9.

Wenn nun INN/Hister vom sarmatischen Donau nur überlagert wurde, müßte der Stamm IN, AN entlang des Flußlaufes noch vorhanden sein.

Im rätoromanischen Engadin sind diese Komposita mit in, an, en natürlich am leichtesten zu finden. Der erste große Innzufluß nach San Murezzan ist der Flaxbach (die Bernina), etwas weiter flußabwärts stößt das Val Susauna mit seiner Fortsetzung im Val Funtauna ans Engadin, bei Sur-Ens (soviel wie Oberinn) etwas unterhalb vom Ort Ftan (oder fetan), schon im Unterengadin, fließt die Uina in den Inn, im österreichischen der aus dem Samnaun kommende Schergenbach.

Etwas bekannter sind natürlich die Stanzertaler Rosanna und die Paznauner Trisanna, die kurz, bei Grins und Stanz, als Sanna fließen, bevor sie bei Landeck in den Inn münden.

Im Oberinntal finden sich solch eine Menge von Orten, die IN, AN, EN enthalten, daß nur die bekanntesten erwähnt sein mögen.

Zams, Wenns, Imst (lat. umiste), Tarrenz, Stams, bei Kematen das Sellrain. Innsbruck kann hier nur insoferne angeführt werden, als es seinen Namen natürlich vom Inn hat. Das lateinische OEN/pons ist aber erst die Ubersetzung des deutschen Innsbruck und nicht umgekehrt. Das antike Oenipons lag bei Rosenheim, wo aus pons Oeni direkt das heutige Pfunzen entstanden ist. Hingegen leitet sich Wilten vom römerzeitlichen Veldidena (Inntal) ab.

Die Fluß- und Ortsnamen des Unterinntales auf Tiroler Boden sind heute fast alle bayerisch/schwäbischen Ursprungs. Aber, wie unschwer zu erkennen ist, steckt natürlich auch in Wattens, Terfens und Stans das alte en. Der Jenbach ist sogar eine germanisch-keltische Tautologie. Im bayerischen Voralpengebiet verlieren sich die Hinweise auf keltische Flußnamen. Fast wäre man versucht, doch den Inn in die Donau fließen zu lassen, wäre da nicht die eindeutig keltische (schon norische), rechtsufrige Antiesen bei Schärding. Die Salzach, eine keltische Isonta, von der die den Pinzgau einst bewohnenden AMbisonten ihren Namen haben. Aber auch hinter Passau besinnt sich der Inn auf seine Ursprünge: Schon kurz nach Aufnahme der Donau finden wir die, aus dem Norden kommende linksufrige Ranna (vgl. die Orte Oberanna, Niederanna und Rannariedl).

Etwas weiter flußabwärts macht die Donau eine Schlinge, in der sie ihre Laufrichtung um 180 Grad ändert. Allen Sarmaten zum Trotz hat sich dort der Ort Innzell (!) gehalten. Von da ab wird’s nur noch keltischer; der Innbach, wie der Tiroler Jenbach eine Tautologie. Natürlich steckt in auch in Linz (römisch lentia, keltisch Lenta), auch der keltische Rhein (renos) hat s e i n Linz gegenüber der Ahrmündung. Keltisch sind natürlich auch die Traun (truna) und die Anisa (die heutige Enns, römisch anesus). Auch die linksufrige Naarn ist keltisch (vgl. dazu den nordschottischen Küstenort Nairn, westlich von Aberdeen). Auch den Kamp findet man an Rhein und Inn, das keltische cambo bedeutet wie das lateinische campus Tal, Ebene, Niederung. Die Krems (cremisia) ist der westfälischen Ems (Amisia) verwandt, während die Traisen kein Zwilling der Tirolerischen Trisanna ist.

Der keltisch-illyrischen Siedlung Vedunia, vedunis (Waldbach) (auf dem Leopoldsberg?) verdankt Wien seinen keltischen Namen. Auch der heutige Kanal, die einstige Wien, ist solch ein vedunia, Waldbach, aus dem über Wieden unser Wien (Vienna), auch die Variante Favianis wurde. Das in der Schule gelehrte VINDOBONA, an dem wir als Kinder schon hart kiefeln mußten, ist aus vedunia bona entstanden.

In unserem römisch aufgepfropften Donauwahn haben wir uns die Sicht auf den Inn jahrhundertelang durch vinDOboNA verstellen lassen. Ohne Zweifel fließt aber auch durch Wien schon lange der schöne Inn so wie durch Innsbruck und Linz, womit er zu einem geradezu reinösterreichischen Fluß wird. Mosaiksteinchen am Rande sind Enzersdorf und Rodaun (der keltische Waldbach Rodanna) und der nicht zufällig gewählte Name UrANia10 für den Ort des Zusammenflusses von Wien und Inn. Mit etwas Phantasie ließe sich auch Carnuntum heranziehen, bei Hainburg wäre es zu schön, aber sie ist die schon im Nibelungenlied besungene Heimburc, die Burg des Haimo. Hinter Wien betreten wir schon skythisch-thrakisches Sprachgebiet, weshalb der Inn endgültig Hister und dank sarmatischem Einfluß in allen Slawensprachen Don, Donau heißt.

Bei der Rückbesinnung auf den alten Namen des – Wien ja schon gar nicht mehr richtig durchfließenden – Stromes, stoßen wir natürlich auf hürdenreiches Terrain. Österreich badet in einer Keltenrenaissance. Nicht alle diese Aktivitäten entbehren allerdings der Tarnung. Keltensymposien und Druidenlehrgänge sind natürlich nicht zu übersehen, aber auch auf dem Gebiet der Kunst wird’s immer keltischer. Der „Wiener Aktionismus“ und das Orgien-Mysterientheater Nitschs sind in Wahrheit norisch-keltische Kulthandlungen. Unverblümt offen keltisch-kultisch ist das Projekt „Minus Delta T“ zweier österreichischer Künstler, einen tonnenschweren norischen Menhir mit Hilfe eines Lastwagens bis ins sarmatische Tibet zu bringen; Die Baumverehrung der österreichischen Grünen, die sich politisch von der deutschen Schwesternpartei unterscheidet, ist Rückbesinnung auf keltisches Erbe.

Kein Wunder, daß sich die Sarmaten Benya und Brezovsky12 hier querlegten, galt es doch, den kultischen Auwald und den verhaßten DON in die Schranken zu weisen.

Wenden wir uns aber wieder Wien zu. Hat nicht das keltische Element im mittelalterlichen Wien sich hartnäckig dagegen gesträubt, auch nur einen einzigen Topos der Inneren Stadt mit der sarmatischen Don-Silbe zu beflecken? St. Stefan11, auf einem alten heidnischen Heiligtum erbaut und die nach Noricum führende Kärntner Straße (via Carantana), sowie der beliebte Kultort Helden-(Kelten-)platz sind beredte Zeugen alten Keltentums.

Sonst hat sich natürlich noch einiges Keltisches in Wien gehalten. So zum Beispiel der Wiener Traditionalismus des „nur ned Hudeln“, den wir genauso unverbrämt im tiefsten Gallien wiederfinden. Auch die manische Menhir-Verehrung der ebenso zahlreichen wie uninteressanten Wiener Denkmäler – sie sind in der Form fast ausschließlich phallischen menhir-(Mann hier-) artigen Charakters – ist keltisches Kulturgut. Die Druiden Wiens sind in den hehren, geheimnisumwobenen Ständen der Rechtsanwälte und Ärzte, die nirgendwo wie in Wien solche Verehrung genießen, zusammengeschlossen. Meine Verehrung, Herr Hofrat Dr. Druide, Handkuß an die Gemahlin. Die Wiener Politiker führen dagegen ein eher weltliches Dasein sarmatisch-demokratischen Zuschnitts.

Die Contradictio des sarmatischen Menhirs, des Denkmals vom russischen Befreier, wußten die Wiener auch geschickt hinter dem noch nicht urinierenden Hochstrahlbrunnen aufzubauen. Sarmatisch nach wie vor ist aber die Wiener Pferdeverehrung der Fiaker und natürlich der sarmatischen Hofreitschule, die allerdings kaum von den Wienern selbst besucht und verehrt wird. (Hingegen ist der sarmatische Diplom-Nomade Waldheim ein bekannter Pferdefreund.)

Die Rückbenennung der Donau und des Hister in INN stellt uns vor einige Hindernisse. Kein Problem dürfte der Lauf der Donau von Passau an sein. Bis Passau fließt ja jetzt schon der Inn mit eigenem Namen, also auch auf freistaatlich bayerischem Gebiet. Die kurze Strecke von knapp drei Kilometern, vom Zusammenfluß von Donau und INN bis zur österreichishen Staatsgrenze, dann noch unter Donau zu führen, würde sich bald als politischer Treppenwitz erweisen. Im Ungarischen müßte man allerdings der Tatsache ins Auge sehen, daß mit den Sarmaten nicht zu scherzen ist, ab da wird der Inn, wie einst Hister, doch Donau heißen müssen.

Die Umbenennung der Donau bis Passau hinauf in Inn und deren Fortführung bis ins Engadin, hat durchaus europäische Dimension: Die Ursprünge der Flüsse Rhein, Rhône, Inn und des Pozuflusses Ticino liegen auf einer nur 90 Kilometer langen, fast geraden Linie entlang der großen europäischen Wasserscheide und entwässern so Europa in allen Himmelrichtungen: in die Nordsee (Rhein), das schwarze Meer (Inn), das Mittelmeer (Rhône) und in die Adria (Po). Die Donauursprünge Breg und Brigach entspringen hingegen weit abseits, jenseits des Bodensees im badischen Rheinknie.

Die heute bei Wien regulierte Donau könnte in den alten, vielarmigen INN rückverwandelt werden . . . In drei, vier Generationen mit regelmäßigen Überschwemmungen könnte wieder ein prächtiger Innwald entstanden sein. Bis dahin sollte die Alte Donau in diesem Sinne ihren Namen beibehalten, ebenso die Neue Donau, das ehemalige Inundationsgebiet (dessen Name, typisch für die wienerische Umstandsmeierei, ja auch keltischen Sehnsüchten entspringt: Inun-dationsgebiet, vergleiche hiezu auch die UNo-City). Für die schiffbare, heutige Donau schlage ich den vorläufigen Namen „sogenannte Donau“ vor, der Donaukanal ist ja jüngst ganz offiziell, wenngleich etwas klein-laut, in kleine Donau umgetauft worden. Diese ist aber, hier kann es keine Kompromisse geben, unter alter INN.

Bei der Planung des Stausees Wien waren natürlich sarmatische Flußverdränger am Werk (Ihre Kollegen in der Sowjetunion überlegen ja sogar ernsthaft, den sibirischen Ob nach dem südlichen Kasachstan zu verlegen. Mit 5000 km Länge ist er immerhin der sechslängste Strom der Erde). Daß aber Wien am Inn liegt, hat der alte Kelte Zilk längst geschnallt. Indem er nämlich den Kanal in die Kleine Donau verwandelt hat.

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1 „Wien ist ein Schiff„, André Heller, 1985.
2 Wie kürzlich entdeckt, nicht nur Katharina Schratt, sondern auch Anna Nahowsky.
3 Auch „Der unbekannte Plünderer“ genannt.
4 F.J. Strauß, auch er verlegt gern Bäche oder legt welche an. Etwa den Rhein-Main-Donaukanal.
5 lat. Raetia, zu kelt. rait = Gebirgsgegend; Räter, Rätier = der Gebirgler, Älpler, auch Vindeliker (davon augusta vindelicorum, Augsburg) das heißt „die Glücklichen, die Schönen, genannt. Ihre Herkunft ist trotzdem noch dunkel.
6 Mündliche Mitteilung von Prof. M. Scardanelli, Wilten.
7 aus Ister, Hister wurde über Vister, Oister unser Ostarrichi (das karol. Vistarrichi) und daraus Austria. (Also Histerreich)
8 (Dnjepr 2200 km Länge, Don 1970, Dnjestr 1352, Donez 1055) zum Vergleich die Elbe mit 1164 km.
9 ungar. Duna, tschech. Dunaj, serb./bulg. Dunay, rum. Dunarea, russisch Dunai.
10 Urania, die Muse der Astronomie – eine keltische Disziplin. Die Sternwarte mit ihrem Menhirförmigen Ausguck: a gael landmark.
11 Mit dem gotischen Riesen-Menhir, dem Stefansturm.
12 Das durch seine Reiter und Bogenschützen berühmte iranische Nomadenvolk der Sarmaten wird schon von Herodot in der Namensform Sauromaten östlich des Dons erwähnt; sie breiteten sich allmählich weiter nach W bis zur unteren Donau aus und verdrängten de Skythen Südrußlands.