Das österreichische Auge

„Ich seh’ etwas, was du nicht siehst“ ist ein beliebtes österreichisches Kinderspiel. Es kann jederzeit und überall gespielt werden, das Spielfeld ist die sichtbare Umgebung, als Figuren braucht es nur die sehende Person und die ratende. Das Spiel wird verfeinert durch Hinweise auf die Qualität des zu Findenden. Diese werden durch geschickte Verrätselung ins gerade noch Erratbare entrückt. Der Spaß wechselt sich ab. Nach Problemlösung (oder auch nach Versagen) wechselt die Perspektive, der, die andere ist dran.

Das Spiel hat sich tief in den österreichischen Alltag gestülpt, die politische und mediale Bühne dominiert es wegen seiner Beliebtheit und der weit verbreiteten Kenntnis seiner wenigen Regeln sowieso. Dauernd sieht jemand, was wer anderer nicht sieht. Im (trügerischen) Wissen, dass das Spiel und seine Funktion als gesellschaftlicher Kitt nur funktioniert, wenn es das Gesehene auch wirklich gibt, genügt der Zuruf, die Frage, die Erörterung. Der Unredlichkeit von Falschspielern ist Tor und Tür geöffnet, obliegt doch die Auflösung bis an die Grenzen der Verzweiflung den Rätselnden. Im Falle des Öffentlich-Medialen führt das zum ständig schwebenden Gefühl, der Wirklichkeit zu entgleiten. Die österreichische Seele antwortet mit der Maske der Gelassenheit. Dahinter verstecken sich Angst, Unsicherheit, und die berechtigte Ahnung, der Angeschmierte, der Depp, der Blöde zu sein (Frauen sind wie immer mitgemeint).

Eine Version für österreichkundlich Fortgeschrittene gibt es auch: „Ich spiele etwas, was du nicht spielst, und das ist…“

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 14. Oktober 2023.

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