Kittröhren und Stollen

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 30/2020 am 22. Juli 2020.

Liebe Frau Andrea,
ich kann mir folgende Strophe von Karl Hodinas „Herrgott aus Stan“ nicht erklären. Da heißt es: „mei Kittröhrl und meine Stoll’n“, die die anderen Buben ihm stehlen wollten. Kein Ureinwohner in meinem Umfeld kann mir das erklären.
Allerbesten Dank, 
Samu Casata, per Email

Lieber Samu,

in einem der bekanntesten Wienerlieder der nachklassischen Epoche, 1962 entstanden, besingt der Akkordeonist, Maler und Autobahnraststättengestalter Karl Hodina (1935-2017) seine Kindheit als sentimentaler Wiener Lausbub.

„In Ottakring draußt in an uroidn Haus,/ in den Hof in da Speckbochagossn,/ do is glahnt ganz vastaubt,/ seiner Zierde beraubt,/ a Hearrgott aus Staa, so valossn./ I hob eahm entdeckt/ und ois Kind duat vasteckt,/ mei Kittrearl und meine Stoin,/ denn die gressarn Buam woan/ auf die Stoin wia di Narr’n,/ a’s Kittrearl hädns ma gstoin.“ Hodina besingt die Hinterhof-Figur als Freund und Beschützer seiner Preziosen. Er findet seinen einstmals „einzigen Trost“ nach Jahren wieder, lange nach Abriss des Hauses, in einem neuen, veränderten Ottakring, zerbrochen auf der Straße. Noch „rechtzeitig“, um die Steinfigur zu retten und zusammenzukleben.

Was aber sind „Kittrealn“ (Kittröhrchen) und was jene „Stoin“ (Stollen), in die besonders die älteren Buben aus Hodinas Kindheit so vernarrt waren? Im Nachkriegswien waren frischverglaste Fenster erste Zeichen des Wiederaufbaus. Mit dem noch feuchten Kitt (einer geschmeidig knetbaren Masse aus Schlämmkreide und Leinöl) formten Schulbuben kleine Kügelchen, die sie mit gläsernen Röhrchen verschossen. So leicht verfügbar der Fensterkitt war, so wertvoll waren die Blasrohre. In späteren Zeiten wurden das ballistische System durch Bic-Kugelschreiber-Röhren aus Plastik und eingespeichelte Papierkügelchen abgelöst. Die von Hodina besungen Stoin (Stollen) dienten als Anti-Rutsch-Einsätze in den Hufeisen der Zugpferde von Bier- und Milchwagen. Verlorenengegangene Eisenstollen galten als als begehrte Sammelobjekte und fanden Verwendung als Tauschwährung und Wurfsteine beim Geschicklichkeitsspiel Anmäuerln.

Glasröhren und Stollen sind vergangen, Kitt kann man noch im Baumarkt kaufen.

comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina

2 Gedanken zu „Kittröhren und Stollen“

  1. Höchstverehrte Comandantina!

    Diesmal keine Frage, sondern bloß eine Anmerkung.

    Erstaunlich, die regional unterschiedliche Bewaffnung der Kittschützen zwischen Ottakring und Mostviertel: woher kamen die Glasröhrchen??? Wir verwendeten Segmente des Staudenknöterichstengels (Fallopia), die privilegierten Schützen hatten Lustarearln (Lusterrohre), welche dank Länge und dünnerem Kaliber erhöhte Reichweite und Zielsicherheit boten. Zudem war Kitt (woher nehmen, wenn nicht stehlen) nicht so populär wie Hollapä’ln (Hollunderbeeren), saisonal fast überall zu finden. Im grünen Zustand spontan sehr schmerzhaft, in der reifen, schwarzen Phase dann noch schmerzhafter durch elterliche Befotzung wegen der kaum auswaschbaren Flecken auf der Kleidung (gewissermaßen Vorläufer von PAINTBALL). Der Mund, halb-voll mit (grünem) Holler erlaubte sogar „Dauerfeuer“.

    Mit pazifistischen Grüßen

    Ossi Karas

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