Die neue Normalität

„Mögest du in interessanten Zeiten leben“, lautet ein chinesischer Fluch. Als gelernte Österreicher erliegen wir der Versuchung, die Malefiktion auch zu verorten: „Mögest du in einem interessanten Land wohnen!“ Beide Wünsche werden gerade von der Wirklichkeit eingelöst. Österreich ist in ein interessantes Zeitalter eingetreten. Das Coronozän erfasst uns alle, jung und alt, getestet wie ungetestet, gesund oder hospitalisiert.

Wir leben in einer neuen Normalität, erklärte der Bundeskanzler jüngst, die Diagnose wurde im Rahmen einer der täglichen Pressekonferenzen gestellt. Zur neuen Normalität gehört nicht nur Frischverordnetes aus dem Bergwerk der Message Control, sondern auch Bewegungsmuster aus dem Tagabbau der Motion Control. Wer auch immer sich die Choreographie ausgedacht hat, mit der türkismaskierte Regierungsmitglieder dieser Tage an ihre Plexiglaspulte schreiten, outet sich als Fan der deutschen Roboter-Band „Kraftwerk“. Die neunormale Auftrittsform wurde lange eingeübt, in den Ballettsälen der Ministerien, in den langen Fluren der Chefsektionen. Der stechgeschrittene Aufmarsch signalisiert Kontrolle. Eine Tugend, die gänzlich neunormal ist. Die sublime Form des mechanischen Abstandwahrens hat sich im ganzen Land durchgesetzt. Wo früher balkanhaft die Trauben standen, stehen jetzt, britisch gereiht, die Schlangen. Vor den Baumärkten und Heimwerkerläden, vor den Gartencentern und Floristikbetrieben, vor den Autowaschanlagen und den Grillkohlehandlungen. Österreich ist auf seine alten und gefährdeten Tage ordentlich geworden.

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 25. April 2020.

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