Mein Jesus

Mein Jesus war ein guter Mann. Er wandelte über Wasser, machte Blinde sehend, Lahme stellte er auf die Füße und bei einem großen Fest verwandelte er Wasser in Wein. Ich hätte zwar Himbeersaft angeraten, aber Jesus war ein Erwachsener und Wein wohl für Seinesgleichen die bessere Wahl. Ich war rundum zufrieden mit Jesus, er war mein Freund Harvey. Sichtbar unsichtbar. Bereit mit dem Teufel zu streiten und dabei zu gewinnen. Mit Jesus an meiner Seite konnte mir nichts geschehen.

Dieses Glück sollte nachhaltige Erschütterung erfahren.

Benedikta hieß sie, Schwester Benedikta. Nicht Helga, nicht Roswitha, nicht Gertrud, nicht Inge. Benedikta, die Gebeneidete hieß sie, gebenedeit unter den Frauen. Benediktas hagerer Körper war von schwarzem Tuch verborgen. An ihrem Finger steckte ein goldener Ring. Schwester Benedikta war, wie ihre Mitschwestern auch, und wie wir bei wiederkehrender Gelegenheit expliziert bekamen, Ehefrau des Heilands, Jesu Christi, des Gottessohnes, des Auferstandenen. Jesus, mein Freund, war der Ehemann der Schwestern? Der Ehemann aller Schwestern. Goldene Ringe trugen sie alle. Welch Verrat an der Freundschaft mit mir. Benediktas goldener Ring war nicht bloß ein Ring, der Ring war das sanctum praeputium. Die Vorhaut Jesu, im kirchlichen Schamgefühl „heilige Tugend“ genannt. Das kostbar penile Gewebe war der Heiligen Katharina von Siena während einer Ekstase von Jesus persönlich geschenkt worden.

Jesu Ehering konnte man auch spüren. Wenn Schwester Benedikta Schläge austeilte, wegen Laufens am Gang, wegen verbotenen Flüsterns in der „stummen Pause“. Der goldene Ring, die Vorhaut Jesu, hart und kalt, hinterließ eine kurze Spur des metallischen Schmerzes, wenn Benediktas flache Hand, von hinten über unsere Hinterhäupter zog. Der erste dieser Schläge war der Moment, in dem ich Jesu Schmerz in mir spürte. Das Ostern aller Ostern. Die gesamte Passion. Und in einem, erst später verstandenen Moment der Klarheit fuhr da mein Jesus, mein guter Freund in den Himmel. Für immer. Andere hatten ihn verraten. Er blieb für mich verloren. Ich muss in meine Kindheit zurückreisen, um ihn zu finden. Das ist eine eigene Passion.

Andrea Maria Dusl. Essay für die Oster-Wochenendausgabe einer Österreichischen Tageszeitung. 20.4.2019. NICHT VERÖFFENTLICHT.

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