Mein Jesus

Mein Jesus war ein guter Mann. Damals, in den frühen Sechziger Jahren, als ich ein Kind war und die Volksschule der Schulschwestern besuchte.
Mein Jesus wandelte über Wasser, machte Blinde sehend, Lahme stellte er auf die Füße und bei einem großen Fest verwandelte er Wasser in Wein. Ich war rundum zufrieden mit Jesus, er war mein Freund Harvey. Sichtbar unsichtbar. Bereit mit dem Teufel zu streiten und dabei zu gewinnen. Mit Jesus an meiner Seite konnte mir nichts geschehen.

Die anderen Mädchen in meiner Klasse, und auch die Schwestern, waren mehr von den schieren Wundern eingenommen, die das Wandeln des Heilands auf Erden begleitet hatten. Von Jesu Heilfähigkeiten, den Spontankuren an Leidenden aller Klassen, von Fischfangvermehrungen, Speisungsmirakeln, Totenerweckungen und Bilokationen. Das waren schon Dinge, die von jenseits aller Vorstellungskraft in unsere kleinen Kinderseelen drangen. Wundersam in jedem Sinne. Heilig. Aber auch unerreichbar.

Mich indes erreichte der Mensch Jesus. Wenn ich hörte, dass er Durst litt in der Wüste, wenn ihn Dämonen plagten und er anderen welche austrieb. Wenn er stritt mit den Geldwechslern im Tempel. Wenn er altklug war als Kind und klug als Erwachsener. Ja, auch der zornige Jesus gefiel mir. Es machte seine Güte so viel wertvoller, soviel menschlicher. Dass Jesus Gottes Sohn war und Mitglied der Dreifaltigkeit, war mir weniger wichtig, als die Verletzlichkeit seiner Person.

Ein einziges Mal hat ein Kunstwerk aus Stein Tränen bei mir ausgelöst. Michelangelos Pieta. Da war er. Der liebe Jesus meiner Kindheit. Der Mensch Jesus. Mein Freund. Leblos und tot in den Armen seiner Mutter. Kein von Menschen gemachtes Werk vermochte je an dieses Erlebnis reichen.

Andrea Maria Dusl. Essay für das Oster-Wochenendausgabe in den Salzburger Nachrichten vom 20.4.2019.

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