Stagln, stogln, stassln, stessn

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‚ in Falter 43/2012
Liebe Frau Andrea,
folgende Frage beschäftigt unsere kleine Schulschwänzgruppe seit kurzem: Heißt das, was wir manchmal machen Stangln oder Stagln? Und woher kommt dieser Begriff überhaupt? Eine Stange macht doch gar keinen Sinn.
Fragt sich und Sie
Thorben Winter, 1010
Lieber Thorben,
die Frage nach dem Sinn des Schulschwänzens ist eine existentielle. Die Geschichte des Fortbleibens von der Lehranstalt hat in Wien grosse Tradition. Espresso-Diskurs und Kaffeehaus-Literatur sind fette Früchte vom dünnen Stamme dieser Prokrastination. Manches Café hatte und hat ihr Vormittagsgeschäft ganz in den Dienst institutionellen Schwänzens gestellt. Mangels wahrer Abenteuer in der Stadt fanden und finden diese, wenn schon nicht im Kopf, so doch im bürgerlichen Kaffeehaus statt. Schulstageln war und ist nicht Verlust, sondern Gewinn. Freiheitsgewinn. Eine Konstituente unabhängigen Denkens. Ein Sturm im Wasserglas des Erkenntnisinteresses. Im Schulstagel-Café war und ist die Lektüre der Times, von Le Monde und den deutschen Feuilletondacken grösseren Wahrscheinlichkeiten unterworfen als in der Schule. Selbst das Studium der Klatschpresse kann einen Tag ausserhalb der Schulbank zum Akt der Aufklärung machen. Auch die Grundrechnungsarten werden gefordert, die Budgets sind klein, die Zeit muss mit grossen Braunen und kleinen Bieren gestreckt werden. Der Begriff des Schulstagelns, korrekt: schuischdagln, hat nichts mit der Stange zu tun. Das Schdagln bezeichnet eigentlich den kleinen Diebstahl, eine Tätlichkeit, die auch als flauchen, schdessen, schdasseln und schdöön firmiert. Schdagln kommt nach Ansicht führender Viennoetymologen vom italienischen staccare – loslösen, trennen, wegnehmen. Das Schdagln, hier sprechen wir die bundesdeutschen Bildungsimmigranten an, sollte mit langem a ausgesprochen werden, sonst wird es mit dem Schdogln verwechselt, dem Behandeln mit heissem Stahl. Im alten Wien wurde Bier gschogld, warm gemacht. Aber auch der Schdogl kommt nicht von der Stange, sondern vom Stachel, dem Stahl. Mit dem Schdagln wolle es aber nicht übertrieben werden, meint die Exertin, denn schad wär, schod waa, käme es zum Schulverweis, dem Weisel und ergo dem Status: Schuischdaad.
www.comandantina.com dusl@falter.at

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