Was ich lese…

Atlanten, politische
Schwarten, Blogs.
Was man heutzutage
halt so alles liest.

GERADE EBEN bin ich übersiedelt.Meine allerpersönlichsten
Wertsachen hatten in einer Bananenkiste Platz.Meine Garderobe
in fünf Baumarkt-Kartons.Meine Bibliothek füllte 57 Profi-
Container. Irgendetwas mache ich falsch. Lese ich zu viel?
Wohnen Kobolde in meinem Haushalt, die über Nacht Bücher
anschleppen und heimlich auf Halde stapeln? Bin ich über ein
Raum-Zeit-Inkontinuum mit dem Hauptlager der Frankfurter
Buchmesse verbunden? Hab’ ich sie noch alle? Dass ich zu viel
lese: Soll ich das behaupten? Fünf Stunden Lesen täglich ist
doch nicht viel. Dass ich zu viel Bücher besitze, könnte schon
eher stimmen.Aber was lese ich? Versuchen wir mal, nicht zu lügen.
Im Bad liegt, schon leicht aufgeweicht,Heinz Fischers Retrospektive
der Ära Kreisky. Ein Schaumbad mit Broda, Firnberg,
Sinowatz, das hat schon was. In meinem Schlafzimmer
liegt irgendetwas Halbsaloppes,Coffee-Table-Fähiges über die
gallorömische Geschichte Pannoniens.Was genau in meinem
halbsaloppen Pannonicum steht,weiß ich nur in homöopathischer
Dosis.Nach zwei Minuten Coffee-Table-Halten nicke ich
ein. Ich gebe aber zu, dass ich in letzter Zeit häufig von La-Tène-
zeitlichen Eisen-Kultwagen träume, von keltischen Grabhügeln
und norischen Hüten. Neben meinem Sofa – es duckt
sich unter acht Laufmeter Bücherwand wie ein Biwak unter die
Eiger-Nordwand – liegen drei glimmende Lunten Noam
Chomskys. Die werden wohl bald detonieren. Wenn ich
Chomskys überdrüssig werde, lese ich den Online-Standard.
Erst lese ich jeden, aber auch wirklich jeden Artikel dort, dann
jedes Posting dazu.Verrückt, aber wahr. Auch den Spiegel, die
New York Times und Variety lese ich im Netz. Netz. Ein blödes
Bild. Das Netz sollte eigentlich Leseteich heißen. Rundherum
begrenzt vom sumpfigen Schilf der Onlineforen. Mit einer
schnuckeligen Zone voll blühender Seerosen. In der Mitte tief,
schwarz und unheimlich.Und auf einer Luftmatratze aus Google-
Ergebnissen paddle ich durch die Seerosen.Was ich noch lese?
Atlanten,Haustürprospekte,E-Mails, Bedienungsanleitungen,
Anruflisten, Blogs, Graffiti, Speisekarten, Drehbücher,
Türschilder,Untertitel und mehrmals täglich die Uhrzeit.
………. ………. ……….

…und was nicht.

Ich weiß gar nicht, was
ich nicht lese. Dafür
weiß ich, was ich alles
unnötig anlese.

MAL EHRLICH, wie soll ich wissen, was ich nicht lese? Müsste
ich das Nichtgelesene nicht zumindest angelesen haben, nicht
zumindest einen Zipfel seines literarischen Wesens verinnerlicht
haben, um zu wissen: Den Mist lese ich nicht weiter? Und
zählte das solcherart Angelesene nicht automatisch zum Schatz
des Gelesenen? Meinetwegen müsste die Spalte da drüben heißen:
„Absichtlich Gelesenes“. Für diese hier schlüge ich vor:
„An-, aber willentlich nicht Weitergelesenes“. Zugegeben, kein
zündender Titel. Einigen wir uns auf:„Was ich nicht weiterlese“.
Ich leide unter einer Aufmerksamkeitsstörung, zu deren
Symptomen die Unfähigkeit gehört,Romane zu lesen.Zwei Seiten,
drei,vielleicht fünf:Mehr schaffe ich nicht.Buchstaben verschwimmen
vor meinen Augen zu Brei,Bilder springen aus den
Seiten wie Popups aus dem Browser. Romane lesen ist Qual,
weil meine Fantasie dem Text Sporen gibt und mit mir durchgeht.
Ich habe nie den „Zauberberg“ gelesen, nie „Der Name der
Rose“, nie „Finnegans Wake“, nie den Kanon all dieser herrlichen
Autoren,deren Werke alle glücklich in sich spazieren tragen.
Drehbücher, Essays, Gedichte, Telefonbücher: kein Problem.
Aber Romane: njet.Meine Krankheit hat auch Gutes: Ich
spare viel Geld, weil ich nie auf Urlaub fahren muss. Denn wo
lesen wir Romane? Im Strandkorb in Ostmasuren, im Sonnendeckstuhl
auf Santorin und Kreta, auf der Swimmingpool-Liege
in Havanna.Gut auch, dass ich Harry Potter nicht einmal in
Zeiten größten literarischen Verdurstens lesen könnte.Wer sich
nach Magie sehnt, soll Aleister Crowley lesen und nicht die Geschichten
einer englischen Lehrerin.Ungelesen bleiben bei mir
auch Zeitungen. Die lese ich online. Das spart Nerven und,
wenn es mehr täten, auch Wälder. Kaffeehäuser, denen man
andichtet, sie seien traditionell Orte des Lesens, sind für Intrigen
da und nicht fürs Gratisstudium von NZZ, Süddeutscher
und FAZ. Sehr ungern lese ich Mahnschreiben und Rechnungen,
Einladungen zu kirchlichen Kulturveranstaltungen und
den Marketingzinnober, der mir die Mailbox verkleistert.
Kleingedrucktes und Amtsstübisches lese ich schon aus optischem
Unvermögen nicht.
© Andrea Maria Dusl 2004
Erschienen in Datum 5/2004

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