orf.at

„Kein Mensch kann 1100 Meldungen pro Woche lesen“, sagt die sehr einfach gestrickte Frau Medienministerin. Sie meint damit, das Meldungsangebot auf der Internetseite des ORF sei grotesk hoch. Und deswegen sei es notwendig, dieses Angebot zu verkleinern.

Medienministerin Raab hat da etwas nicht ganz verstanden. Das Meldungsangebot einer Medienplattform ist ein Florilegium, aus dem auswählt werden kann. Es darf, ja muss das Interesse Vieler abbilden. Reichhaltig sein. Größer sein als das Einzelinteresse. Wie das einer Buchhandlung, die ein paar tausend Bücher bereithält. Wie ein Supermarkt mit ein paar tausend Produkten in den Regalen.

Kein Mensch kann alle Bücher in der Buchhandlung lesen, sagt die Logik der sehr einfach gestrickten Frau Medienministerin. Und kein Mensch kauft alle Supermarktprodukte pro Einkauf. Kein Mensch schaut all die vielen Filme der Streaming-Plattform pro Wochenende. Alles grotesk?

Conclusio: Die Internetseite des ORF soll nicht mehr das Interesse Vieler abbilden. Reichhaltig sein. Größer sein. Sie soll das Einzelinteresse abbilden.
Das Einzelinteresse der ÖVP.

Sozialdemokratische Vorsitzgedanken

Ein paar Überlegungen zu den Kandidaten. Ich bin ja nur ein kleines Mitglied, ohne eine Funktion. Befreundet mit vielen anderen in der sozialdemokratischen Bewegung. Christian Broda war mein Onkel, kannte ich natürlich persönlich. Günther Nenning war ein Freund, driftete dann zu den Grünen. Sonst kannte und kenne ich nur andere einfache Sozialdemokraten, nicht wenige. Niki Kowall natürlich, über die Sektion 8, und alle Aktiven dort.

Und die Oberen? Gusenbauer traf ich mehrmals, im Bundeskanzleramt, er hat meine Nummer, ich seine. Kern traf ich auch immer wieder. Im Wahlkampf hatten wir sogar ausführlichen SMS-Kontakt. War nicht beratungsresistent. Mit Nationalratsabgeordneten hatte ich öfter Emailaustausch, zu politischen Haltungsfragen. Arbeiterkammerpräsidentin Renate Anderle lud mich mal zu einem langen Gespräch in ihr Büro, war sehr nett dort, wenn auch ergebnislos. Mit Gewerkschaftsbossen gab es auch Austausch, auch mit dem Chef. Mit Alt-Urgestein Rudi Edlinger plauderte ich stundenlang sehr gemütlich und anekdotenreich an einer Theater-Bar. Das sind so meine Kontakte in der Basis und weiter oben.

Pamela Rendi-Wagner mag ich sehr, schätze ihre Kompetenz als Medizinerin, sie war und ist mir sehr sympathisch. Pamela Rendi-Wagner habe ich ein paar mal aus der Ferne gesehen, bei Parteitagen, das wars. Doskozil? Nie getroffen, nie gesehen, ein Fremder. Letztens hat Niki Kowall (kein schlecht Vernetzter) bekannt, weder Rendi-Wagner noch Doskozil persönlich zu kennen. Das hat mich dann doch sehr erschüttert. Bin also nicht die einzige.

Mit Andreas Babler bin ich befreundet, und alle, die ich kenne. Ich war mit ihm und allen, die ich kenne auf Demos. Nicht auf einer. Das ist der ganze Unterschied. Hie die Fernen, Unerreichbaren, da der leiwande Babler Andi. Meine Stimme wird ihn erreichen.

Muttersprache

60erjahre. Schwarzkatholischer Erzieher „empfiehlt“ meiner Mutter dringend, mit den Kindern, also auch mir, nicht in meiner und ihrer Muttersprache zu sprechen. Die Kinder, also auch ich, würden ansonsten „verblöden“. Viele Tränen. Alle heimlich. Ungesehen. Das Sprachenverbieten hat Tradition. Auch bei der ÖVP. Röstet in der Hölle, kulturfeindliches Faschistengesindel.

Besorgte

Man solle Trotteln, die FPÖ wählen, nicht mehr Trottel nennen, weil sie sich diskriminiert fühlen und noch mehr Trottel dazu überreden FPÖ zu wählen, beziehungsweise sich bestärkt fühlen in ihrer Wahl und so weiter und so fort. Okay, mach ma. Ich nenne die Trottel ab jetzt nur mehr „besorgte Bürger von überragender Intelligenz“. Auch Politiker, die mit der FPÖ koalieren, sind ab jetzt keine Trottel mehr, und kein gewissenloses Drecksgesindel, sondern „besorgte Verantwortliche mit großer Redlichkeit“. Versprochen.

Bundespräsidentenwahl. Wen ich wählen werde

Wie war das damals, beim letzten mal? Es gab einen wichtigen Grund, damals, 2016, den grünen Kandidaten Alexander van der Bellen zu wählen. Beim Stichwahlgang der Bundespräsidentenwahl 2016, und dann, bei der Wiederholung dieses Wahlgangs. Zweimal hab ich seinen Namen auf einen Stimmzettel geschrieben. In Schönschrift. Damit ja nichts passiert, oder falsch gezählt wird. Falls es um jede Stimme ginge. Eventuell meine.

Alexander van der Bellen schien vielen (auch mir) ein Garant dafür zu sein, dass Schwarzblau nicht an die Regierung kommt. Bei seinem Kontrahenten war das nicht so klar, im Gegengeil, der meinte, wir würden uns noch wundern, was alles ginge. Er hat recht behalten, der seltsame Herr Hofer. Wir haben uns sehr gewundert, was alles ging.

Alexander van der Bellen hat Schwarzblau angelobt, Gymnasialabsolvent Kurz als Kanzler angelobt, Kickl als Innenminister, Strache als Vizekanzler und mit ihnen die ganze messagekontrollierte Familie, die Huren der Reichen, wie sich sich intern nannten. Präambel (wie unter Klestil) gab es keine. Abgelehnte Minister auch nicht. Ich habe das nicht vergessen.

Es war bald zu erkennen: Realpolitisch war es sinnlos gewesen, Hofer zu verhindern, weil Alexander van der Bellen das exakt selbe gemacht hat. Es war ein Zeichen, ihn zu wählen. Mehr nicht. Denn Alexander van der Bellen hat Schwarzblau angelobt. Und wir haben uns alle sehr gewundert, was alles ging.

Jetzt könnte man sagen, ja, er hat nicht anders können. Das stimmt, er hat nicht anders können. Hin und wieder hat er was gesagt, mit seiner großväterlichen Stimme, wir sind nicht so, oder so sind wir nicht, schon vergessen, wie der Spruch ging, solche Sachen hat er gesagt. Ja, aber er war doch ein linker Präsident in der Hofburg! Ja, so geht der Spin, aber der Spin ist falsch. Er geht von der irrigen Idee aus, die Grünen seien Linke. Sie sind keine Linken.

Ja, aber er hat doch die Grünen in die Regierung gebracht, post Ibizam, und zugelassen, ja vielleicht sogar eingefädelt, dass Strache fällt und nachher, dass Kurz geht, mit Hilfe vieler Gespräche. Alexander van der Bellen hat hinter den Tapentüren so vieles eingefädelt. Ja, so geht der Spin.

Und jetzt sind die Grünen in der Regierung, das ist doch gut! Ja, sieht man an vielen parlamentarischen Abstimmungen, wie da der Hase läuft. Ja, aber die Umwelt! Stimmt, die Grünen haben Windräder in den westlichen Bundesländern aufgestellt. Zu tausenden inzwischen, sie haben Tempo 100 auf der Autobahn eingeführt. Sie haben die Energiepreisspirale gekappt. Sie haben durch kluge Gesundheitsminister (drei an der Zahl) Corona gebannt. Gräben zugeschüttet! Sie haben Vermögensteuern eingeführt, die Besteuerung der Milliardenvermögen. Nun. Das haben sie nicht gemacht. Weil sie keine Linken sind.

So, und jetzt gehts wieder ans Wählen. Diesmal werde ich den Alexander van der Bellen nicht wählen.

Ich werde Dr. Dominik Wlazny wählen.

Vom Umgang mit Schwurbler·innen

Methodenvorschlag für den Diskurs mit Schwurbler·innen auf Twitter, Facebook und anderen sozialen Plattformen.

Sobald Schwurbler.innen Studien, Artikel, Videos verlinken, sollten wird sie die Schwurbler.in bitten, das Verlinkte in eigenen Worten zusammenzufassen. In eigenen! Es wird ihm/ihr in den seltensten Fällen gelingen. Dies ist in der Regel ein Hinweis auf kognitive Defizite der Schwurbler.in. Er/sie hat das Verlinkte nicht gelesen (sondern nur kolportiert), nicht verstanden oder falsch verstanden.

Dreimal

Eine unerwartet schöne Begegnung heute im leeren Billa. An der Kasse frage ich den Kassier, ob er geimpft sei. Zweimal, sagte er, alle hier seien geimpft. Dann fragte er mich, ob ich geimpft sei. Dreimal, antwortete ich. Da gingen die Augen des Kassiers in ein Leuchten über. Er fühlte sich verstanden, geschätzt und auf eine magische Weise verbunden. Sowas habe ich vorher noch nie in einem Geschäft erlebt. Und auch sonst so selten, dass ich mich nicht daran erinnere.

Mit dem Steppenwolf im Raucherkammerl

Interview für die 150-Jahre-Festschrift des Wasagymnasiums, publiziert im Oktober 2021. Meta Gartner-Schwarz sprach mit Andrea Maria Dusl am Dienstag, den 19. März 2019 über ihre Schulzeit am Wiener Wasagymnasium.

Meta Gartner-Schwarz, WasagymnasiumSie haben, wenn ich das richtig recherchiert habe, 1980 an unserer Schule maturiert. Übernehmen Sie bitte kurz die Rolle einer Zeitzeugin: Was war das für eine Zeit? Wie dürfen sich unsere Schülerinnen und Schüler diese vorstellen?

Andrea Maria Dusl, AlumnaEs ist schwierig, die Zeit aus der heutigen Perspektive mit den damaligen Augen zu sehen, weil sich alles zusammenschiebt. Ich müsste mich jetzt erinnern, nicht an meine persönlichen Erlebnisse, sondern daran, was eigentlich zwischen 1970 und 1980 passiert ist. Aus schulischer Perspektive hatte ich überhaupt keine Ahnung, was politisch ablief. Das war nicht wichtig. Wir waren politisiert in einem viel engeren Sinn, als es der gesellschaftliche Aufbruch war. Wir sind vielleicht auf Demonstrationen gegangen, aber wir waren nicht parteipolitisch politisiert. Wir waren auch nicht ideologisch motiviert, wir wollten ganz einfach nicht unterdrückt sein. Das war ein Beweggrund, aber das hat man auch gar nicht so ausgedrückt, es war irgendwie alles ein bisschen reglementierter. Und ich? Ich kann jetzt nicht wirklich in Erinnerung rufen, wie die 70er Jahre waren, ich kann es nur an den Unterschieden festmachen.

Welche prägenden Erinnerungen haben Sie an Ihre Schulzeit in der Wasagasse?

Ich will es jetzt mal so ausdrücken: Es gibt nichts in meinem Leben, was nicht durch die Schulzeit geprägt worden wäre, absolut nichts. In jedem Aspekt meines Daseins hat die Schule Spuren hinterlassen. Es ist sozusagen mein ganzes Leben schuldurchwirkt und seltsamerweise mehr durchs Gymnasium als durch die Volksschule. Das stelle ich immer dann fest, wenn es Situationen gibt, die ähnlich sind. Etwa beim Aufenthalt in Räumen, in denen man nicht das Kommando über das eigene Tun hat. Ich versteh darunter so Sachen wie das geplante Zuhören, das Konzentrieren gegen die eigenen körperlichen Wünsche, und der Aufenthalt mit und in einer Gruppe.

Solche Situationen kommen immer wieder. Auf der Universität kommt es wieder, bei Seminaren und bei Vorträgen, und da merke ich, dass ich von der Schule sozialisiert wurde. Wie geht man mit der eigenen Energie um, wie geht man mit den eigenen Wünschen um? Wie geht man mit dem Drang um, entweder etwas zu sagen oder zu verschweigen? Ja, wie interagiert man? Da gibt es ja so Strategien, ich weiß jetzt gar nicht, ob man sie Kommunikationsstrategien nennen sollte, aber es gibt in diesen geschlossenen Räumen, die wir in der Schule zum ersten Mal erfahren, so etwas wie nonverbale Kommunikation mit anderen, sehr komplexe Geflechte von Einbindung oder Ausgrenzung. Und das betrifft nicht nur die Lehrer und die Schüler. Wobei, jetzt fällt mir wieder auf, dass wir damals nicht Schülerinnen und Schüler sagten, sondern Schüler, und da war natürlich immer Schülerinnen und Schüler gemeint, aber es wurde nicht darüber gesprochen, dass darin alle inkludiert waren.

Wir hatten auch eine ganz andere Reflexionsebene über Sprache und über gesellschaftliche Zustände, und die Zeit, in der wir in der Schule waren, war insgesamt die ganze Suppe heute sehr berühmter Dinge. Da waren sehr viele Dinge drinnen, die wir ganz normal fanden, die aber gar nicht normal waren zu dem Zeitpunkt, als sie passierten. Zum Beispiel Gratis-Schulbücher, dass wir gratis mit der Straßenbahn fuhren, dass Mädchen und Buben – eigentlich hieß es damals Knaben und Mädchen – überhaupt gemeinsam in einer Klasse saßen. Das alles war damals absolut normal, aber aus heutiger Perspektive war es gerade eben erst eingeführt worden. Es muss also für die damaligen Lehrer, die aber auch nicht Lehrer hießen oder Lehrende, sondern „Professoren“, sehr anders gewesen sein. Die hatten das ja nicht so erfahren. Und selbst wenn man in einer modernen Schule war und vielleicht koedukativ erzogen wurde, war das nicht die Regel.

Für die Lehrenden war das auch etwas Spannendes, und diese 70er Jahre, die waren politisch gesehen in Österreich ein Aufbruch in sehr viele neue Felder, die vorher noch nicht beschritten waren. Daran erinnere ich mich, dass wir gespürt haben, dass sich da immerzu etwas verbessert. Etwas Analoges war der sogenannte Fortschritt, nicht der auf gesellschaftlicher, sondern der auf technischer Ebene. Jedes halbe Jahr wurde irgendetwas erfunden, das aus der Raumfahrt kam und die Welt verbesserte. Ich gebe ein Beispiel: Ich bin in die Phase hineingeraten, wo der Rechenschieber – es kann sich heute niemand mehr vorstellen, was ein Rechenschieber ist – wo also der Rechenschieber obsolet geworden ist. Wir hatten noch gelernt, wie der Rechenschieber funktioniert, aber wir haben ihn dann nicht mehr verwendet in der Oberstufe, wir konnten die ersten Taschenrechner verwenden, und das war eine unglaubliche Sensation, dass Kinder einen Apparat hatten, der einem das, was die Schule zu einem Großteil ausgemacht hat, nämlich rechnen zu können, abgenommen hat. Das war für die Eltern fast undenkbar, es gab ein einziges Modell, das an der ganzen Schule eingeführt wurde.

Die zweite technische Innovation, an die ich mich erinnere, die das Leben dann sozusagen geflutet hat, waren Overheadprojektoren. Eine heute völlig ausgestorbene Form. Der Overheadprojektor, der auf magische Weise etwas an die Wand warf, hat die Tafel abgeschafft. Die Tafel, die aus Kreide, Schwamm und diesen spezifischen Gerüchen bestand, die ist natürlich jetzt noch immer da, und auch das große Dreieck und der große Zirkel. Aber die Overheadfolie, das war ein Zauberding, und auf der haben die Lehrer, ich sag jetzt mal Lehrer, wir können das ja im Geiste gendern, mit ihren Overheadstiften herumgezeichnet. Sie haben das zwischendurch immer wieder abgewischt, oft auch unabsichtlich.

Meine Erinnerung ist gefüllt mit Vermittlungstechnik. Heute hatten wir in der Stunde, die ich besuchen durfte, einen Projektor, und da haben Sie vom Computer ein kleines Filmchen gezeigt. Das einzige, das ähnlich war an dem Ganzen, war die Tatsache, dass die Lichtsituation ungünstig war, weil es ja Tag war. Man kann nicht gut verdunkeln, sonst kann man auf den Tischen nichts mehr lesen. Das hat sich nicht verändert. Wir hatten damals 16-Millimeter-Projektoren und das ratternde Geräusch der Lehrfilme habe ich deutlich in Erinnerung. Interessanterweise war der Ton genau gleich wie heute. Er war so laut, dass er keinesfalls unhörbar war, also man konnte da kaum durchschlafen. Das ist völlig identisch mit damals, auch das schlechte Bild an der Wand ist identisch. Ich weiß nicht, ob der Projektor heute in Ihrer Stunde eine Entzerrungsfunktion hatte. Das gab es bei den bei Overheadprojektoren jedenfalls nicht, die warfen immer ein verschobenes Parallelogramm. Ja, selbst wenn es Projektionen waren, waren es greifbare Dinge.

Ich erinnere ich mich an den Geruch der Stifte, an den Geruch der Taschen. Auf dem Weg hier her habe ich mich daran erinnert, wie meine Schultasche gerochen hat, weil ich wieder denselben Weg gegangen bin, den ich in meiner Schulzeit auch gegangen bin. Ich habe dann immer entschieden am Schulweg: Soll ich die fade Straße gehen? Die neben der Kaserne, oder die spannende, wo so viele Autos durchfahren? Die roch furchtbar nach Abgasen. Schon damals war die Frage: Soll ich gesund oder spannend gehen? Ich habe mir dann irgendwann ein Fahrrad schenken lassen, damit ich länger schlafen kann. Ich weiß das deswegen, weil ich eine frühe Kassettenaufnahme gefunden habe von einem Gespräch, in dem meine Eltern debattierten, warum ich noch nicht beim Frühstück sitze. Meine Entschuldigung, warum das so sei? Ich könne mit dem Fahrrad fahren, war das Argument, und dadurch müsse ich nicht so früh aufstehen. Ich bräuchte nur 5 Minuten mit dem Fahrrad, und nicht 20 Minuten wie zu Fuß.

Und wie sind Sie über den Donaukanal gekommen?

Das war sehr schwierig. Ich musste über die Hörlgasse rauffahren, in diesem fürchterlichen, mörderischen dreispurigen Verkehr, und da ist auch mal ein Unfall passiert. Ich bin gegen die aufgehende Autotür eines Richters gefahren, dessen Tochter in der Schule studierte, und ich hab dann unglaublich viel Schmerzensgeld bekommen, konnte mir gute Ski kaufen davon, also unleistbar gute Ski von dem Schmerzensgeld. Ich weiß, das waren 4000 Schilling, das Schmerzensgeld, und es war dem Richter furchtbar peinlich. Mein Finger war ein halbes Jahr lang gelähmt, mein kleiner Finger, sonst hat mir nichts gefehlt, aber es hätte natürlich auch böse enden können. Fast niemand fuhr damals mit dem Fahrrad. Es war eine bizarre Außergewöhnlichkeit, Fahrrad zu fahren, noch dazu in die Schule. Aber nochmal zurück, wie hieß die Frage?

Welche Erinnerungen haben Sie bis heute mitgenommen?

Dass es eine Zeit galoppierender Technik und Innovationen war! Taschenrechner von Texas, Texas Instruments, TI 30 hieß dieser Rechner, der hatte so kleine rote Leuchtfäden, der hatte noch kein Display. Und mit dem durften wir in der Schule rechnen. Das war unglaublich. Was mich sonst geprägt hat, waren Freundschaften, Liebschaften. Aber das hieß nicht Liebschaften, sondern man war verknallt oder verliebt oder man ist mit jemand gegangen.

Aber noch zu den prägenden Dingen an der Schule. Ist es jetzt von mir keine günstige Betrachtung, wenn ich sage, ich habe sehr gelitten unter der Schule? Aber ich habe tatsächlich sehr gelitten unter der Schule, am meisten unter der Unfreiheit. Vielleicht ist es heute anders. Ich hoffe es, aber es gab damals unglaublichen Druck, und der Druck war permanent. Es war der Druck zu versagen. Das hohe große Ziel war es, die Matura zu schaffen. Das war gleich von Anfang an klar definiert, also das war klar da, und das war von der ersten Klasse an das große Ziel. Wenn du das nicht schaffst, hieß es, wenn du zum Beispiel nicht in die Oberstufe kommst, wenn du also die Schule nicht schaffst, ist dein Leben verwirkt! Das war so ein bisschen das Grundthema von allem, und mit dieser Angst wurde auch operiert.

Auch die Eltern haben diesen Druck erzeugt. Und irgendwie war die Gesellschaft auch so drauf. Es drohte die Lehre oder ein Zurücksinken in die Hauptschule oder in eine HTL. Das waren so unglaubliche gesellschaftliche Abstiege, dass es, sobald man im Gymnasium war, einem Todesurteil gleichgekommen wäre. Es wäre einem lebensbestimmenden Prozess gleichgekommen, der nie wieder geändert werden konnte. Es gab ununterbrochen diesen Druck. Ich weiß nicht, wie ich ihn beschreiben soll, er war allgegenwärtig. Er hat das ganze Leben durchdrungen. Das ist mit Unfreiheit gemeint. Man hatte ganz lange Zeit überhaupt keine Idee davon, wohin das münden solle; man hat gewusst, es gibt nachher die Universität. Da ist dann alles besser und so ein Studium, das dauert drei Jahre, aber es war in so weiter Ferne. Die Matura war das Licht am Ende des Tunnels.

Ganz am Anfang gab es ja nicht Semester, sondern noch Trimester und ich kann mich erinnern, dass ich eine Aufnahmeprüfung absolvierte, obwohl sie gerade er abgeschafft worden war. Es war relativ bizarr, der Direktor stellte ein paar Fragen: Ist ein Wal ein Fisch oder ein Säugetier? Wie viel ist 7 mal 8 und 13 mal 2, und die C-Dur Tonleiter. Das war eigentlich sehr seltsam. Wichtiger indes waren die Eltern, also welcher gesellschaftlichen Schicht sie entstammten. Für die Schule war wichtig, dass die Eltern die richtigen Eltern sind, und daraus ergibt sich sozusagen die Richtigkeit der Schülerinnen und Schülern, und nicht umgekehrt. Das hat sich aber in meiner Schulzeit stark gewandelt. 1970 war noch eine ganz andere Zeit. 1971 gab es ebenfalls ein Jubiläum, allerdings das Hundert-Jahre-Jubiläum der Wasagasse. Das ist jetzt schon 50 Jahre her, aber damals war es für mich unvorstellbar, dass etwas hundert Jahre existieren kann.

Es war für mich eine lange Zeit. Woran ich mich erinnere ist die permanente Müdigkeit. Ich war ununterbrochen müde. Ich kann mich nicht an Munterkeit erinnern, es war immer ein Kampf gegen die eigene Müdigkeit in der Schule, die Munterkeit konnte durch Pausen nicht wiederhergestellt werden. Das war, weil die Schule zu früh begann. Eine Stunde später hätte schon sehr viel gelindert. Und sie dauerte zu lange, die Schule. Die 6 Stunden, die wir durchgehend drinnen saßen!

Man hatte seinen Rhythmus und wußte ziemlich genau, in 5 Minuten ist es so weit, dann läutet es, auch ohne auf die Uhr zu schauen. Das ganze Leben war in Minutenschritte eingeteilt. Das Ende der fünften und sechsten Schulstunde war das Anstrengendste, weil man da schon starken Unterzucker hatte. Wir haben ein Schulbrot mitgehabt, und das musste man sich gut einteilen. Die Pausen waren sehr wichtig, um kommunikativ zu sein, in den Pausen konnte man mit den anderen Kindern kommunizieren.

Ich halte das gesellschaftliche Leben für das Wichtigste an der Schule, das Lernen, wie man miteinander umgeht, wie man Freundschaften pflegt. Dafür aber gab es zu wenig Raum. Die Nachmittage waren gefüllt mit Aufgaben. Ich kann mich jetzt nur permanenter Müdigkeit erinnern. Es gab Stunden, wo man schlafen konnte, Musik war sehr, sehr gut um zu schlafen, an gute Nickerchen kann ich mich erinnern, und dann kann ich mich erinnern, dass man eine andere Beschäftigung nebenher machte, zum Beispiel in den Kalender besondere Malereien hinein zu machen oder kleine Ersatzhandlungen vorzunehmen. Die Bank einzuritzen. In der der ersten, zweiten, dritten Klasse war es sehr wichtig, die Schulbücher mit Zeichnungen zu füllen und einen Raum, einen eigenen Raum zu finden, in dem die eigenen Regeln galten, und es war natürlich furchtbar, wenn das sichtbar wurde. Das hat die Betragensnote geschmälert. Es wurde nicht als das erkannt was es ist, als ein Refugium, ein persönliches. Das war für mich prägend. Was auch prägend war – aber das liegt im Wesen der Schule – ich habe ganz viel gelernt, aber mir damals gedacht, ich lerne das falsche.

Was empfinden sie davon auch heute noch als falsch?

Aus heutiger Perspektive? Ich kann es nicht beurteilen, wie die Schule heute drauf ist, weil ich in den letzten 30 Jahren genau 2 Stunden, und zwar heute, davon gesehen habe. Ich kann nicht wirklich beurteilen, wie die heutigen Lehrpläne aussehen. Aber ich weiß, dass es die Fächer noch immer gibt von damals, und diese Fächer, das wusste ich damals das Kind natürlich nicht, folgen einem humanistischen Kanon, der im 19. Jahrhundert aufgestellt worden ist, für eine ganz andere Gesellschaft. Man sollte konversieren können, vor allem in Französisch. Man sollte humanistische Bildung haben, Technik war nicht so gefragt, das war fast ein bisschen verpönt in diesem Zusammenhang. Die Gesellschaft hat sich auch geändert.

Geographie hat mich sehr interessiert, aber mir war bewusst, dass das ein Fach ist, das sonst niemanden interessiert. Biologie konnte ich identifizieren als wichtig, weil Medizin und das Leben und das Verständnis für organische Vorgänge wichtig waren. Aber schon Physik und Chemie, die Tatsache, dass diese Fächer getrennt waren, das ist mir sehr komisch vorgekommen. Mich haben Sprachen schon sehr interessiert, aber eigentlich wurden nur zwei Sprachen angeboten, die anderen waren Freifächer. Da hätte man sich mit dem Müdigkeitsgrad, den wir durchwegs gehabt haben, sehr überwinden müssen. Oder irgendwelche Tabletten nehmen müssen, die es damals nicht gab. In der Freizeit hätte man Französisch und Italienisch lernen können. Englisch war sehr wichtig für mich, denn es konnte ganze Welten öffnen, und dafür war ich sehr dankbar. Latein wurde uns anders verkauft. Es hieß, wenn du Medizin studieren möchtest, dann musst du Latein können. Aber man hat nichts Relevantes für Medizin in Latein gelernt, sondern eigentlich nur die Grammatik, die verstörend kompliziert war am Anfang und für mich mit Sprache sehr wenig zu tun hatte. Es wurde gesagt, die Struktur von Latein sei so genau, dass man, wenn man das könne, alles könne. Interessanterweise stimmt das sogar. Das Englische erschließt sich mir über das Lateinische, die englischen Fremdwörter sind für mich übers Lateinische viel besser begreifbar, nur hat das damals niemand so erzählt.

Zwischen den Fächern gab es keine Überlappungen, zumindest keine, die ich gespürt hätte, und Latein war sehr, sehr anstrengend, weil es aus einer toten Welt gekommen ist und weil dieses Tote überpräsent war. Wir lasen Texte, die ich zum Teil noch immer auswendig aufsagen kann, weil das ein Teil dieser spezifischen Lateinlehre, ja der Kultur des Lateinlehrens war. Latein ist ja noch älter als alle anderen Unterrichtsfächer, damit wurde eine Tradition transportiert. Das konnten wir natürlich überhaupt nicht einschätzen, und das wurde uns auch nicht erzählt. Es gab hier in dieser Schule, das passt hier gut rein, eine Kammer, im Erdgeschoss, und zwar genau in der Ecke Hörlgasse – Wasagasse, die gehörte einem Professor. Ich glaube, er hieß Lanz oder so, und der hatte ein Freifach. Das hat mich sehr fasziniert, denn da kamen immer wieder, unsere Klasse lag in dieser Ecke, für mich damals als Erwachsene empfundene heraus, aus dieser Kammer. Die hatten dort das Freifach Sanskrit belegt. Sie waren ungefähr doppelt so groß wie wir, es können nur Achtklässer gewesen sein und Siebtklässer, und es waren fast nur Männer. Es gab ganz wenig maturierende Mädchen. Das hat sich dann stark in Richtung Fifty-Fifty geändert. Als ich in der 1. und 2. Klasse war, waren wir sozusagen der erste Schub von gender-equalen Kindern. Die Klassen waren aber größer, 31, 32 Kinder. Es wurde damit gerechnet, dass sich die Klassen ganz natürlich dezimieren. Die verkleinern sich selber, hieß es, und dann werden aus drei Klassen zwei.

Einer unserer Mitschüler hat sich im Klo erhängt. Es hieß, es sei ein Unglücksfall gewesen. Ich glaube aber, dass er depressiv war, dass es sozusagen ein Kindersuizid war. Wie der auf die Idee gekommen ist? Keine Ahnung. Es war nicht zu verhindern, es gab keine Anzeichen. Und es wurde nachher nicht mehr viel darüber gesprochen.

Wie alt war das Kind?

Es war in der ersten Klasse.

Ich erinnere mich auch noch dran, dass wir sehr viele Mitschülerinnen und Mitschüler aus anderen Ländern hatten. Heute würde man das vielleicht anders ausdrücken, aber es war sicher ein Drittel nichtdeutscher Muttersprache, konnte aber trotzdem blendend sprechen. Weil das Gymnasium damals einen anderen Magnetismus hatte, kamen die entweder aus Diplomatenfamilien oder aus Familien, die den gesellschaftlichen Aufstieg schon geschafft hatten. Es war ganz normal, eine Vielzahl unaussprechlicher Namen kennenzulernen. An das erinnere ich mich: Dass das eben normal war. Aber dass ich mich erinnere, dass es normal war, gibt einen Hinweis darauf, dass es für andere nicht normal gewesen ist, sonst würde ich ja gar nicht drüber sprechen. Dass es normal war, war offenbar nicht normal, aber wir haben es als normal empfunden.

Und auch gemischte Klassen, außer in Turnen. Leibeserziehung hieß das damals, Leibeserziehung für Mädchen und Leibeserziehung für Knaben. Aber niemand sagte das so, es hieß „Turnen“, auch heute noch? Es gab noch einen anderen Namenswechsel, und zwar den von Naturgeschichte zu Biologie. Geschichte wurde nicht mit dem Buchstaben G abgekürzt im Stundenplan, sondern mit H, wegen History. Daran erinnere ich mich, auch daran, dass wir es Reflexion über die Bezeichnung dieser Fächer gab, wahrscheinlich auch, um Geschichte von Geographie zu unterscheiden. Und dann hatten wir ein Fach, ich weiß nicht, ob ich das heute noch gibt, es hieß DG, Darstellende Geometrie.

In gewissen Schulzweigen gibt es das noch.

Ich bin dann in den realistischen Zweig gekommen. Da hatten wir jeden Tag Mathematik, manchmal sogar 2stündige Mathematik. Für mich war damit Mathematik noch stärker lebensdurchdringend als Latein.

Die Müdigkeit war Teil einer Polarität, eines Wechselspiels vieler Pole. Interessanterweise habe ich gute Erinnerungen an Religion, obwohl ich sehr areligiös bin, aber Religion hab ich nicht als gegenpolig empfunden, sondern als fast sowas wie freundlich entgegenkommend.
Turnen war auch eine Art Refugium, in dem alles anders war, in dem eine Art von Freiheit möglich war.

Musik hingegen war anstrengend, weil ja damals gerade die eigene Musik wichtig geworden war: Rockmusik. Für manche war das dann auch schon Jazz, aber Rockmusik war so präsent, man kann sich gar nicht vorstellen, wie wichtig war. Als Antithese zur Musik in der Schule, und ich kann mich erinnern, dass wir versucht haben, damit kleine Breschen zu schlagen in den Lehrplan. Obwohl der Lehrer selber Jazzpianist war, hat er sich an den Lehrplan halten und mit uns über Schubert und Bach, Beethoven und die Klassik reden müssen, und das auch vorspielen. Da konnte man immer gut schlafen, und ich habe das gern gehabt, im Musikunterricht zu schlafen. Natürlich musste man dann reflektieren und viel Wissen abrufen, über die Dinge, die man beim Schlafen versäumt hatte.

Ein Beispiel für eine dieser Breschen, die wir geschlagen haben: Wir haben etwas mitgebracht von der Gruppe „Emerson, Lake and Palmer“, die hatten eine elektronische Version von Mussorgskys Pictures at an Exhibition eingespielt. Das durfte man mitbringen und es wurde vorgespielt, weil es von Mussorgsky war, und dann war da eine Einspielung auf einem Moog-Synthesizer von verschiedenen Bach-Stücken, die Platte hieß Switched on Bach, und auch das durfte man vorspielen. Obwohl der Synthesizer ein Teufelsinstrument war, schlimmer als Mord oder Totschlag, und die Musik ruiniert hat, aus Sicht der klassischen Musiker. Obwohl es moderne Musik schon gab in der schulischen Welt, war es noch eine Zeit, in der noch ganz viel aus dem 19. Jahrhundert hochgehalten wurde. Wenn man also auf dem Synthesizer Bach spielte, war das okay, das ging grad noch, aber das waren Schallplatten und Schallplatten waren unermesslich teuer.

Auf dem Weg hierher habe ich mich erinnert, wie unsere Schultaschen ausgeschaut haben und ich hatte keine Idee mehr, wie meine Schultasche aussah. Wir hatten keine Schultaschen, sondern Army-Taschen. Das waren Umhängetaschen, die ein ganz langes Band hatten. Es waren original amerikanische Militär-Taschen, in denen, ich weiß jetzt nicht, Munition oder irgendwas in der Art transportiert wurde. Sie eigneten sich hervorragend zum Transport immens teurer Schallplatten. Und es war ganz wichtig, auf diese Army-Taschen mit Kugelschreiber die Namen der Lieblingsgruppen draufzuschreiben: The Who, Deep Purple, Pink Floyd, ELP, das hieß Emerson, Lake and Palmer. Ein bisschen weniger beliebt waren Uriah Heep und The Rolling Stones. Kann man sich gar nicht vorstellen, Bob Dylan hat überhaupt niemanden interessiert, das war nicht rockig genug.

Ein wichtiger Teil der Schule war, sich minutiös über diese Dinge zu unterhalten, über bestimmte Rocknummern. Irgendjemand hatte eine Schallplatte mitgebracht und die ist dann im Kreis gegangen, wurde eine Woche verborgt an die und eine Woche an den, und ist dabei natürlich immer schlechter geworden, zerkratzer. Aber man konnte sich in dieser Woche die gesamte Magie der Rock-Gruppe einverleiben und war Teil einer Geheimgesellschaft.

Haben sich Beziehungen oder Freundschaften aus dieser Zeit erhalten?

Wir machen manchmal Maturatreffen. Eigentlich alle 10 Jahre. Niemand plant es, weil es sehr kompliziert ist, die Namen, die Adressen wiederzufinden, aber es gibt erstaunlicherweise immer wieder jemand, der es organisiert. In meiner Erinnerung findet das alle 10 Jahre statt, und da treffen alle zusammen. Das Interessante bei diesen Maturatreffen ist, dass sich nichts geändert hat. Nichts. Also wer mit wem gut ist. Es ist wie damals in der Schule, es hat sich nichts geändert. Nur sind alle älter, dünner oder dicker, also älter im Sinne von körperlich älter geworden. Auch die Lehrer. Das einzige, was sich ein bisschen verändert, und das hab ich seltsam in Erinnerung, ist die Tatsache, dass die Lehrer ihre – ich kann es nur so sagen, wie ich es jetzt sagen werde – ihre Dämonie verlassen haben und Menschen geworden sind. Weil diese Hierarchie nicht mehr da ist. Das ist sehr angenehm. Die unangenehmsten Lehrer werden plötzlich zu lieben, netten Menschen. Es muss also das System sein, dass das mit uns macht oder gemacht hat, dass wir manche Lehrer fürchteten. Das ist ein interessanter Bericht: Die Furcht vor Lehrern. Es gab Furcht.

Wir haben ganz am Anfang über den Schüler Gerber gesprochen. Ich glaube, dass das ganz gewiss keine Schrift war, die Lehrer selbst empfohlen hätten, das wurde eher illegal gelesen, weil das Buch ja vom Verhältnis von Schülern und Lehrern handelt. Es handelt vom missgünstigen und dämonischen Lehrer, Gott Kupfer genannt, und es spielt in der Wasagasse, der Torberg hat seine eigenen schulischen Erinnerungen in einem Roman verarbeitet, ich glaube es war der erste, mit dem er überhaupt bekannt geworden ist. An das erinnere ich mich, das haben wir uns illegal besorgt, wussten aber nicht, dass es in der Wasagasse spielt, ja, das hat uns niemand erzählt. Es steht auch nicht im Buch. Aber sobald man gelesen hat, wie die Architektur der Schule beschrieben wird, diese kleine Gasse, auf die wir jetzt blicken, die Türkenstraße, die eigentlich eine Gasse ist, im Vergleich zur Hörlgasse, die eine Straße ist. Die ist abschüssig, und das haben wir sofort erkannt. Und auch die Beschreibung der Schule, also der Dämonie, die manche Lehrer, oder die Macht, die sie hatten.

Und dann komme ich wieder zurück zu diesem Ausgeliefertsein, das ich erst in der Schule kennengelernt habe. Das hat mir nicht gut gefallen. Ob das mit der Zeit zu tun hat, oder ob das noch alte Echos waren aus einer Zeit, die es gar nicht mehr gab? Was ich eigentlich glaube, dass nämlich Schule in einem technischen Sinn konservativ ist, also eine Gesellschaft, die draußen nicht mehr existiert, noch bewahrt. Sie ist eigentlich eine Nacherzählung anderer Zeiten, wofür es ja auch Gründe gibt, denn man kann ja die Zukunft nicht besprechen, sie hat ja noch nicht stattgefunden.

Politische Agitation war immer verboten. Was ich heute miterlebt habe, dass in der Klasse diskutiert wurde über Klimawandel, das hätte man ja auch damals schon machen können, war ja damals auch schon ein Thema. Vielleicht gab es progressive Lehrer, die das versucht hätten, so ein bisschen aus einem eigenen Antrieb. Ich kann mich erinnern an einen Zeichenlehrer, der hat uns beigebracht hat wie Filmen geht, aus eigenem Interesse, das war nicht vorgesehen.

Es hat ja auch nicht Zeichnen geheißen, sondern Bildnerische Erziehung. Da gab es noch so ein Wort, Werkerziehung hieß das. Werkerziehung für Knaben und Werkerziehung für Mädchen. Dass Mädchen da vielleicht lernen, wie man eine Zange benützt oder Laub sägt, oder umgekehrt Buben, es hieß damals Buben und Mädchen, nicht Knaben und Mädchen, Buben und Mädchen waren die Ausdrücke. Also es gab seltsame Wörter aus vergangener Zeit, Buben und Mädchen, und Buben haben sich heimlich nähen und stricken beigebracht, und Mädchen heimlich Werkzeuge benützt. Das war nicht vorgesehen.

Was aber überhaupt nicht verhindert werden konnte war, dass sich Liebe und Verliebtheiten eingestellt haben, und das war eine ganz wichtige Sache. Es war kein Ventil, sondern alles durchdringend, noch mehr als die Müdigkeit. Verliebtheit und das Verhältnis der Geschlechter waren bestimmend und durchdringend. Auch Verliebtheiten in Lehrer und Lehrerinnen waren bestimmend. Anders als heute haben da auch Beziehungen stattgefunden, von denen alle wussten. Mit Schwangerschaften, von denen alle wussten. Man wusste es, hat aber so unter der Hand gesagt, dass die in der Siebenten, weißt eh, von wem die schwanger ist. Weniger Kinder waren von einander schwanger, vielleicht ein Hinweis darauf, wie weit Beziehungen gegangen sind. Aber es waren immer zwei, drei Mädchen in der Siebenten oder Achten schwanger. Ja, heute wäre das undenkbar.

Ich kann mich erinnern, dass die Schulschikurse für die Lehrer, eigentlich für die Turnlehrer, unglaublich anstrengend waren. Erstens haben sie ihre eigenen Pantscherln auf den Schulschikursen mit den anderen Lehrern gehabt. Turnlehrerinnen und Turnlehrer konnten dort sehr viel machen, was sie zu Hause nicht gemacht haben. Die Kinder hätten das vielleicht auch wollen, so ab der 3., 4. Klasse, aber da wäre der Turnlehrer der Vormund geworden. Nein, er hätte tatsächlich Schuld getragen an der Schwangerschaft, und er hätte Alimente zahlen müssen. So wurde es erzählt, ob das stimmt oder nicht müssen Jus-Historiker beurteilen. Aber das war ganz präsent und auch die Frage: Wer geht mit wem?

Da gab es manchmal, das ist wahrscheinlich heute auch noch so, Show Cases. Das „Gehen“ war eher die Proklamation von einem Verhältnis. Man hat gefragt: „Gehst du jetzt mit mir?“ oder „Ich würde gerne mit dir gehen“. Dann hat man gesagt: “ Wir gehen jetzt miteinander“, aber das hat überhaupt nichts beinhaltet. Über die Sachen, die schon schärferer Natur waren, ist weniger gesprochen worden. Da hat man gespürt, oh da ist was Ernstes, aber es hat nicht „ernst“ geheißen, es gab dazu keine Begrifflichkeiten.

Die sind „zusammen“?

Nein, das hat man auch nicht gesagt. „Miteinander gehen“ habe ich ganz deutlich in Erinnerung. Wahrscheinlich war das Sprechen darüber tabuisiert, aber man hat es gewusst. Man hat es auch vor allem gewusst, wegen der sogenannten Partys. Es gab immer irgendwelche Eltern, die einen Wochenendurlaub gemacht haben, und dann wurde dort sofort Party gemacht. Das war das Wichtigste überhaupt, und Party war fast jede Woche, natürlich immer am Wochenende. Und diese Wohnungen wurden ausgiebig verwüstet. Wichtig war, dass man dort schmusen konnte, „schmusen“ war ein Wort. Damit hat sich ja überhaupt erst das Sprechen über Sexualität in der Gesellschaft etabliert. Was die Eltern an sexueller Befreiung durchmachten, konnte man auf kleiner Ebene gleich mitmachen.

Es hat nur eine Angst gegeben. Die vor Schwangerschaften. Man hat nicht gesagt „vor ungewollten Schwangerschaften“. Maximal haben Mütter davon gesprochen, dass verhütet werden solle, vielleicht auch vereinzelte Väter. Man hat gesagt: „Geh in die Apotheke, die werden dir schon sagen, wie das geht.“ Das war etwas, das Familien nicht miteinander besprochen haben. Das haben auch Kinder nicht miteinander besprochen. Ich kann mich aber schon erinnern, dass wir in Biologie „aufgeklärt“ wurden, nur waren wir schon alle davor aufgeklärt. Niemand wurde wirklich aufgeklärt, es war eher eine Art Bekanntmachung, dass man jetzt offiziell in dem Alter sei, in dem man aufgeklärt werden solle, obwohl, wie gesagt alle schon aufgeklärt waren. Vorher hätte man es ja nicht verstanden, die Körpersäfte nicht zuordnen können und sich nichts unter dem Begriff „Geschlechtsmerkmal“ vorstellen können. Es war sozusagen der Schritt vom kindlichen ins Erwachsenenalter. Der war radikal, nur hat niemand Pubertät dazu gesagt. Das gab es nicht, das Wort. Man war Kind und dann war man eine Frau, aber auch das hat niemand so gesagt. Sexualität wurde nicht in Sprache gegossen.

Ich erinnere mich, dass es trotzdem Momente gab, in der 6., 7. Klasse, wo es Simulationen von Fernseh-Gesprächsrunden gab, sowas wie eine Art Club 2 für die Schule. Da wurde gesprochen über Sexualität, und da war ich mal eingeladen bei so einer Gesprächsrunde als Teilnehmende und habe mich selbst gewundert, wie gut es mir gelang, über Sexualität so zu sprechen, wie man über Buntstifte redet. Ganz normal die tabuisiertesten Dinge zu besprechen. Da ist mir selber aufgefallen, wie normal mir etwas war, was offenbar davor nicht normal war. Das muss aber mit der Gesellschaft insgesamt zu tun gehabt haben.

Wichtig war es auch, in Filme zu gehen. Das Kino war noch eine Form von, nicht Refugium, sondern Paradies, ein Ort, an dem man ganz weit wegreisen konnte. Das kann man sich heute kaum vorstellen, weil es so wenig Kinos gibt, und Film nicht mehr so präsent ist. Aber ins Kino zu gehen und Filme anzuschauen, das waren große Expeditionen, und ganz wichtig. Es gab auch im Umkreis von hier mehrere Kinos.

Eine eminente Erfahrung vergaß ich zu erwähnen: Schulschwänzen war eine ganz wichtige Sache. Da gab es doch gerade eben eine Debatte, ob man bei dieser letzten Demonstration, die glaub ich diesen Freitag war, wo es drum ging, dass Schüler entweder nur unter Erlaubnis ihrer Klassenvorstände oder zusammen hingehen durften. Das Hingehen galt als unentschuldigtes Fernbleiben. Und der Minister hatte davor auch eindrücklich gewarnt, man sah so richtig, wie er sich windet, eigentlich gefällt ihm das eh ganz gut, merkte man, andererseits kann er es nicht zugeben, weil der Minister von einer rechten Regierung sowas nicht gutheißen kann. Also jedenfalls nicht, wenn es um die Natur geht.

Zurück zu unserer Schulzeit. Das Managen von Schulschwänzen war damals ganz wichtig. Es war eine richtige Managementaufgabe. Erstens: Wo? Wann? Mit wem? Wie lange? Das waren die wichtige Fragen. Und: Kann ich es mir leisten? Man war dann plötzlich, überraschend krank bei einer Schularbeit, aus dem Nichts, hat hohes Fieber gehabt – das Thermometer wurde zwischen den Händen gerieben, oder auf die Heizung gelegt (im Sommer ging das natürlich nicht), und da hat man dann spontan Fieber bekommen und musste zu Hause bleiben.

Meine Eltern haben diese Spiele gar nicht mitgemacht, ich habe nur gesagt, „ich kann heute nicht, ich bin so fertig, ich will heute nicht“. Das Schulschwänzen war eingeteilt in zwei ganz unterschiedliche Bereiche: Zuhause bleiben, oder Schulschwänzen und Wegbleiben – das hat in Wien „Schulstangeln“ geheißen. Das Zuhause bleiben war aber sehr lohnend, weil man das Vormittagsfernsehen sehen konnte. Was könnt ich werden? war eine wichtige Sendung. Im Radio gab es Sendungen von Walter Richard Langer über ganz besondere Jazzsachen. So war es also eine Zeit der Ausbildung, wenn man zu Hause geblieben ist. Russisch gabs auch schon, aber das Schichtarbeiterfernsehen wurde zum Großteil von uns Kindern geschaut. Und die haben das schon ganz gut hingekriegt. Also, dass man dann vor dem Fernseher geklebt ist, das war das Schulschwänzen zu Hause.

Das öffentliche Schulschwänzen bestand darin, ins Kaffeehaus zu gehen. Es gab noch mehr Kaffeehäuser hier in der Gegend, eins in der Türkenstraße, nein in der Berggasse, es hieß Café Liechtenstein, da ist jetzt eine Pizzeria drinnen oder ein Chinese. Dann gabs in der Kolingasse das Votivcafé, das ist jetzt irgendeine Art Bistro. Das waren eigentlich die beiden. Das wichtigere war das Café Liechtenstein, und dorthin sind auch Lehrer hingekommen, und interessanterweise haben die dazu geschwiegen. Meistens sind sie hingekommen mit irgendeiner anderen Lehrerin. Das waren immer illegale Pantscherl von Lehrern. Die haben gewusst, dass sie nicht verraten werden, wenn sie sich dort zeigen, und wir, dass wir nicht verraten werden.

Ich erinnere mich, dass das auch mit Geld zu tun hatte. Denn man konnte nicht in ein Kaffeehaus gehen ohne zu konsumieren, und wir waren ja immer zu viert oder zu fünft. Man hat gewusst, es ist sicher jemand anderer Schulstangelnder auch da, man hat bestellt ein Achtel Soda und eine Mannerschnitte. Damit konnte man drei, vier Stunden zubringen. Kaffee hat niemand getrunken, das war kein Getränk damals. Ich erinnere mich aber, dass es Kinder gab, die schon Alkoholiker waren. Sogar in der Unterstufe, und wo man auch gemerkt hat, dass die besoffen waren, sich davor irgendwo ein Bier besorgt haben. Wir haben nicht so genau gewusst, was da los ist, aber sie haben gesagt, „ja ich habe mir jetzt ein Bier eineghaut“. Das war so ein komischer, sehr seltsam entrückter Zustand.

Rauchen war auch ganz wichtig, um dabei zu sein. Es gab ein Raucherkammerl in der Schule, es war der zentrale Kommunikationsort, die Keimzelle, nein nicht Keimzelle, sondern das Herz der Schule, und es hat bestialisch gestunken dort. Es war völlig zugenebelt, aber es waren alle Wichtigen da, und da wurden die wichtigen Bücher mitgebracht und ausgetauscht.

Es war wichtig, ein Buch in der Jackentasche zu haben. Ein ganz bestimmtes, zum Beispiel Sartre, irgendetwas von Sartre, oder irgendwas aus dem Suhrkamp Verlag oder irgendwas aus dem Residenzverlag, um zu sagen: „Das lese ich gerade.“ Steppenwolf von Hesse, oder Siddhartha, das waren die wichtigen Bücher. Also überhaupt, Hermann Hesse hat eine so unglaubliche Wichtigkeit gehabt in dieser Zeit. Ich versteh noch immer nicht, warum das so war. Aber ich erinnere mich, wie ich das gelesen habe, es war wunderbar! Der Hesse ist einer von uns, war das Gefühl, und Steppenwolf nicht nur ein Buch, sondern die Musik der Band Steppenwolf. Das war keine berühmte Combo, aber diese Kombination eines Hermann-Hesse-Buchtitel und wilder Rockmusik hat beide legitimiert. Die Band Steppenwolf lieferte ja auch die Musik für den Film Easy Rider. Mit Hermann Hesse verbunden war also die verbotene, gesuchte Welt.

Oder das Glasperlenspiel, das war so undurchdringlich, ein unglaublich dickes Buch, fünfmal so dick wie Siddhartha und viermal so dick wie Steppenwolf. Ach, haben wir das geliebt! Das musste man lesen, und ja, es gab zwar Philosophieunterricht, aber das waren lauter fade Leute, die Philosophen. Nichts was man in Philosophie gelesen hatte, konnte man ins Raucherkammerl als Literatur mitnehmen. Und nichts was man im Musikunterricht gehört hatte, hätte man als Schallplatte mitgenommen.

Wichtig war auch die Schulband. Im Festsaal hat an bestimmten Nachmittagen die Schulband ein Konzert gegeben. Das war unfassbarer Krach. Unfassbar laut und progressiv. Ich habe vergessen, wie die Bands hießen, hab aber selber in einer gespielt und war Teil dieser Wirklichkeit ab der fünften und sechsten Klasse. Als ich noch jünger war, waren das richtige Götter, die Menschen mit Stromgitarren. Es gab da oben in der Alserstraße ein Musikgeschäft, es hieß „For Music“,  und ich erinnere mich, dass ich, obwohl ich müde war, jeden Tag ins „For Music“ gegangen bin und mir die Stromgitarren angeschaut und sie bewundert habe. Ärger als in einem Zuckerlgeschäft bewundert habe. Es hat eine religiöse Verzückung gegeben, anders kann man es gar nicht beschreiben.

Es gab diese Vermischung von Sinnlichkeit, von Liebe und Verliebtheit und Sexualität und Fremdbestimmung und Zeitmanagement und Erkenntnisgier. Ich war schon sehr gierig darauf, zu verstehen, wie die Welt funktioniert. Ich habe es eingangs schon gesagt, die Schule hat es nicht immer ganz verstanden, diese Gier zu stillen. Sie hat sie oft zugedeckt mit falschen, oder unbrauchbaren Hinweisen und das hat mich sehr, sehr traurig gemacht. Aber ich habe kein Ventil gehabt dafür. Es gab welche, die dann in der sechsten, siebten Klasse aufgehört haben. Die haben einfach aufgehört, sie haben gesagt: Ich habe keine Lust mehr. Es hat sich meistens angekündigt durch viele Fehlstunden, oder Haschischrauchen, durch eine Art von Interesselosigkeit.

Auch mir wurde attestiert, ich sei rauschgiftsüchtig. Ich habe aber weder geraucht noch Alkohol getrunken, oder irgend sonstwas genommen. Ich war nur „auf Musik“. Für mich war Rockmusik so wichtig, und ich habe meine Müdigkeit mit Schulschwänzen bekämpft. Das ist mir als Drogensucht ausgelegt worden. Mein Vater war sehr entsetzt, er musste mit mir ein Gespräch über Drogensucht führen. Empfehlung des Professors. Mein Vater war aus einer noch viel älteren Generation, gewissermaßen vormodern, für ihn waren Drogen irgendwie nicht real. „Was ist eine Droge? Sowas gibts ja gar nicht!“ Für ihn war das gar keine Bedrohung, also hat er mit mir eigentlich nur technisch geschimpft: „Du musst das mit deinem Klassenvorstand regeln, weil ich habe keine Lust für diesen Blödsinn. Sag, dass du das nicht machst und damit ist es erledigt.“ Und die, die wirklich geraucht haben, sind unentdeckt und unbetreut geblieben und haben ihre Schulkarriere hingeworfen. Interessanterweise sind die Mädchen, die schwanger waren, durch die Schwangerschaft nicht aus der Schule geflogen. Also weder selbst noch durch Fremde, die hatten dann einfach Kinder zu Hause. Also ich kann mich nicht erinnern, dass sie ihre Schulkarriere beendet hätten.

Und wie hat ihr Alltag ausgesehen?

Der Alltag war minutiös durchstrukturiert. Es gab einen Stundenplan, es war alles auf die Minute planbar, es gab kaum ein Entkommen. Ich erinnere mich, dass ich mir manchmal einen Samstag weggezwickt habe und diese unfassbare Freiheit genossen habe, dass ich an einem Samstag in die sogenannte „Stadt“ gehen kann, um dort, ich weiß nicht, irgendwelche Auslagen anzuschauen. Das wäre ansonsten nicht gegangen, als Schulkinder waren wir nicht in der Welt draußen. Wir waren eigentlich eingefangen, ich versteh schon, warum das notwendig ist und dass das auch nicht anders geht, aber es war ein Gefühl des Eingesperrtseins, und das Studieren hat das behoben. Aber das war ein Teil einer komplexen Erzählung, das eine hat das andere bedingt. Diese Karotte war immer vor der Nase: Wenn du die Matura schaffst, wird alles gut. Alles wird gut.

[Gab es sonst noch Zukunftswünsche?]

Niemand hat gesagt: „Ich heirate“. Vielleicht ist das erst später gekommen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass irgendjemand einen sogenannten Ehewunsch gehabt hätte, im Gegenteil. Sexualität war eh präsent, das hat man also durch die Ehe nicht bekommen. Kinder sind halt passiert, und man ist dann halt lieb zu den Kindern, hieß es, und kümmert sich um sie. Wenn wirklich irgendwelche ehemaligen Schulkolleginnen oder -kollegen geheiratet hätten, hätte man sich gedacht: „Was ist denn da passiert, irgendwas stimmt da nicht mit denen!“ Das war weder ein Ziel noch ein Wunsch noch irgendeine Art von realistischer Hoffnung, weder für Knaben noch für Mädchen, aber, und jetzt kommen wir zu etwas, was trotzdem sehr seltsam klingt.

Es gab nur eine sehr überschaubare Studienauswahl. Im letzten Jahresbericht musste man jeweils bekanntgeben, was man vorhätte zu studieren, und ich habe mir das genau angeschaut, weil ich nicht wusste, was man da schreibt. Man kann ja nicht hineinschreiben: Rockmusikerin oder Jazzpianistin oder irgendwas in der Art. Da ist dann immer gestanden, in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeiten: Jus, Medizin, Pharmazie, Lehramt, Architektur. Aus. Mehr gab´s nicht. Lehramt war sehr, sehr wichtig. Ich würde meinen, ein Drittel aller Maturierenden, die hießen damals alle „Maturanten“, hat gesagt: Lehramt! Das hat zwar nicht gestimmt, aber Lehramt galt als ganz wichtig. Es haben ja alle, die in der Schule unterrichtet haben, ich glaube, es waren 90%, selber Lehramt studiert. In der Hierarchie war es weiter unten. Wenn man keine Idee hatte und nichts konnte: Jus. Vielleicht Jus und dann heiraten, oder Jus und dann Richter. Also solche Sachen.

Und Ihre eigene Wahl, wie ist die zustande gekommen?

Ja, ich habe in meinen Jahresbericht hineingeschrieben: Architektur. Ich wollte eigentlich Philosophie studieren und Kunst, das wäre ein Doppelstudium gewesen, und das ist nicht gegangen, denn diese Kombination war nirgends vorgesehen. Also musste ich auf der Uni zwei Fächer belegen. Das ist heute absurd, aber ich musste auf der Uni zwei Fächer belegen. Eines, das mich interessiert hat, und eines, das mich zumindest nicht ganz abgestoßen hat. Gleichzeitig war ich auch noch auf der Akademie der Bildenden Künste. Diese Kombination war völlig undenkbar, und daher ist es auch nicht gegangen. Ich musste mich also entscheiden. Wo sie mich lieber gehabt haben, das war auf der Kunstakademie, denn da hatte ich eine Aufnahmeprüfung machen müssen. Der Prozentsatz derer, die dort nicht hineingekommen ist, war sehr hoch. Diese Chance wollte ich nicht gehen lasse, dass ich da reingekommen bin.

Später im Leben habe ich mir dann die Uni dazugeholt, mehr oder weniger als Wiedergutmachung einer schändlichen Verletzung, die mir das System angetan hat. Das hat sich bis heute durchgezogen, wie man ausgebildet sein muss, damit man in diesem System, das damals in den Siebzigerjahren implantiert wurde, als vollwertiger Mensch gilt. Das ist sehr komisch. Also, dass ich dem nicht entkommen konnte. Niemals. Weil die Flucht ist ja auch nur eine Flucht vor etwas. Sie steht in Beziehung zu dem, wovor man flieht. Ja, und das, glaube ich, habe ich schon immer erkannt, nur konnte ich es nicht immer überwinden. Und seltsamerweise ist es nie weggegangen. Eine Zeit lang konnte ich diesen Ort hier, die Schule, nicht besuchen. Mir war das Gebäude so widerwärtig, dass ich Beklemmungen bekam. Das ist nach ungefähr fünf, sechs Jahren vergangen. Der Ort selber war für mich belastet. Jetzt ist natürlich alles völlig weg, jetzt ist es hier romantisch für mich und lustig und schön.

Als mein Neffe Maximilian gymnasial eingeschult wurde, den ersten Schultag hier hatte, ich glaube das war sogar in der Klasse, in der wir heute gemeinsam waren, da habe ich zu seiner Lehrerin gesagt: „Ich bin auch vor vierzig Jahren in diese Schule eingetreten, und es ist, als ob es gestern gewesen wär.“ Und da hat sie gesagt: „Vor vierzig Jahren war ich noch nicht geboren!“ Da ist mir aufgefallen, wie die Zeit sich verschiebt. Früher war ein Jahr eine Welt, und vor zehn Jahren gab es Menschen hier, die mir erzählten, sie seien erst auf die Welt gekommen, als ich Matura gemacht habe. Das ist alles irgendwie so verschoben, weil ja mein Ich und meine Erinnerungen nicht weg sind, sondern noch immer ganz frisch und ganz da. Der Kalender hat mit einer rasenden Geschwindigkeit die Zettel heruntergezupft und auf einmal werden aus den Jahren fünf und dann zehn und dann zwanzig. Wohin ist die Zeit marschiert?  Sehr komisch, sehr, sehr, sehr komisch.

Ich hätte Sie dann noch gerne noch zu [einem Teil Ihres jetzigen] beruflichen Wirken interviewt. Mein Sohn und ich haben uns eingehend mit Ihren Karikaturen beschäftigt und uns natürlich köstlich amüsiert, glauben Sie uns wird das Lachen im Hals stecken bleiben?

Hoffentlich nicht! Ich nenne sie ja nicht Karikaturen, sondern einfach nur politische oder satirische Zeichnungen. Aber das hat mit meinem Begriff von politischer Karikatur zu tun. Mir gehts weniger darum, das Gesicht eines Herrschers bis zur Kenntlichkeit zu entstellen, sondern darum, eine uns allen bekannte Situation zu beschreiben. Das Lachen ist ja nur ein Lachen über etwas Bekanntes, das Lachen liegt ja sehr nahe bei der Trauerarbeit. Wir lachen über Dinge, die eigentlich gar nicht lustig sind. Ich bin ganz gegen jede Lustigkeit. Je ernster etwas ist, desto genauer kann man es mit den Mitteln der Satire darstellen. Es ist nicht meine Absicht, dass uns das Lachen je vergeht. Denn das Lachen ist nur unsere Methode das Weinen zu überkommen. Eigentlich sind die Sachen tragisch.

Ich bin sehr optimistisch. Geschichte wiederholt sich nicht. Das ist meine Erkenntnis. Früher hat man gesagt, Geschichte wiederholt sich, aber die Geschichte wiederholt sich nicht. Wir müssen Angst haben vor den Dingen, vor denen wir keine Angst haben. Es gibt andere Entwicklungen, die wir vielleicht gar nicht erkennen, in denen wir schon drinnen stecken, über die wir jetzt gar nicht lachen. Das ist das Eine, dass wir das vielleicht gar nicht erkennen können, wo die Gefahren sind. Oder dass wir die falschen Sachen als Gefahr erkennen. Und die andere Erkenntnis, weswegen ich Optimistin geblieben bin, ist die, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Es gibt ja dieses Diktum von Marx, demnach sich Geschichte das erste Mal als Tragödie, und das zweite Mal als Farce ereignet. Das heißt, wir lachen eigentlich über Dinge, die wir schon bewältigt haben.

Also der Rechtspopulismus in Europa kann Sie nicht mehr schrecken?

Nein, davor habe ich keine Angst. Es wird auch wieder vergehen. Das ist irgendwie eine gesellschaftliche Erektion. Trump ist eine unfassbare Klamaukfigur, aber ich glaube nicht, dass er den roten Knopf drücken wird. In den Siebzigerjahren hätte man gesagt, der wird den Atomkrieg entfesseln. Es gibt keinen roten Knopf. Dieser Koffer ist ein James-Bond-Utensil, den gibt es nicht.

Und die Codes für die Atomraketen gibt es auch nicht. Warum kann ich das sagen? Weil es, wenn es diese Mechanismen gäbe, schon passiert wäre. Also, das gibt es nicht, das sind Surrogate, die uns erzählt werden, damit wir das Gefühl haben, es gibt Symbole, die das ausdrücken. Die Macht gibt sich ein Symbol, in Wirklichkeit ist es ganz anders.

Aber mir hat das gut gefallen, dass die Schüler (ich weiß nicht, wie das in der Wasagasse war) gerade eben auf die Straße gegangen sind, um für ihre Zukunft zu demonstrieren. Das habe ich außerordentlich gut gefunden. Ich finde auch wichtig, dass sie erleben, dass es verboten ist. Das klingt paradox. Dass jemand sagt, machts das nicht, ist sogar wichtiger, als dass es alle erlauben, oder es begünstigen, weil eine Demokratie, wenn sie in Gefahr ist, muss immer gegen die Gefahr gerettet werden. Ich hätte plädiert, dass man es ein bisschen mehr verbietet. Dass das sehr viele waren, ist eine starke Hoffnung, weil die Generation davor nicht sehr viel demonstrieren ging, und die sind jetzt gerade regierend. Also die Generation Kurz und Blümel. Deren Ventil sich auszudrücken ist der Machtapparat. Wenn sie aber vorher mehr gegen die Macht ankämpfen hätten müssen, mit Aufstand, oder mit Schulschwänzen, dann wäre es jetzt nicht notwendig, die Macht so auszukosten.  Aber das sind jetzt schon wieder politische Sachen, und um die Frage abschließend zu beantworten, ob uns das Lachen im Hals stecken bleiben wird: Es soll überhaupt nichts im Hals stecken bleiben.

Welchen Rat, welchen Tipp, oder welche Botschaft würden Sie gerne unseren 18jährigen Schulabsolventinnen und -absolventen geben?

Ich habe gar nicht so viele Finger an den Händen wie Ratschläge, die ich geben könnte. Aber ich sage trotzdem: Das Bild mit den Händen ist ganz gut, weil die Finger gehören zu einer Hand. Wir haben zwar zwei Hände, aber nur einen Körper. Die Finger sind nicht nur Finger, sondern es gehört alles zusammen. Eine Sache ist: Alles wird besser, alles wird wieder gut. Das ist eine ganz wichtige Erkenntnis. Wie schlimm auch immer etwas ist, es wird wieder gut. Die Guten gewinnen. Die Geschichte zeigt das auch: Die Guten gewinnen. Vorher gewinnen die Bösen, aber die Guten gewinnen, und die Guten sind besser als die Bösen. Das ist wichtig.

Die zweite Erkenntnis: Lass dir nichts gefallen, aber wähle deine Mittel klug.

Und das Dritte ist: Alle scheitern, auch du.

Hoch der Erste Mai!

Der Erste Mai. Wegen Corona, diesem elendigen Vollschoitlvirus marschiere ich also ein zweites mal nicht mit der Bezirksorganisation Alsergrund zum Wiener Rathaus. Niemand marschiert. Corona und die vielen Unvorsichtigen und Leugner haben uns den 1. Mai geraubt. Er findet an den Fenstern und in den Herzen statt. Und im Netz.

💕 ❤️ Hoch der Erste Mai! Hoch die Internationale Solidarität! ❤️💕