Schmetterlinge, Schmauch, Sofa

Vorwort zu meinem nächsten Buch: „Wien wirklich“, (Metroverlag, Herbst 2017):

Im Dezember 1971 fasste der Weltgeist prägende Bestandteile meines Daseins in gleichzeitig Geschehendem zusammen. Keinen der Akteure habe ich jemals persönlich kennengelernt. Und auch der Ort der Handlungen will noch von mir erforscht werden: Montreux am Schweizer Lac Leman. Dort spielte ein gewisser Ritchie Blackmore, nervöser Gitarrist der englischen Rockgruppe Deep Purple, das Riff zur Hymne des Jahrhunderts ein: „Smoke on the Water“. Mit dem Rolling Stones Mobile Truck, einem fahrbaren Aufnahmestudio – im legendären Kleintheater „Pavillon“. Der Rest des Albums wurde in den Gängen und Treppenhäusern des leerstehenden Montreux Grand Hotels aufgenommen. Hinter Matratzenwänden, in der hallenden Leere vergangener Glorie. Die beiden Locations dienten als Ausweichquartiere, nachdem das ursprünglich für die Schallplatten-Aufnahmen angemietete Casino Montreux während eines Frank-Zappa-Konzerts von der Leuchtpistole eines Schweizer Fans abgefackelt worden war. Der Arbeitstitel für die epochale Tonfolge war „Title nº1“, nach anderen Quellen schlicht „Drrr Drrr Drrr“. Die Inspiration der einzigen Melodiefolge, die selbst Unbegabte auf einer Gitarre zu intonieren sich erlauben, will Ritchie Blackmore dem Anfangsmotiv von Beethovens 5ter extrahiert haben. Der Text des Songs bezieht sich auf den erwähnten Brand des Casinos am 4. Dezember 1971. Den Titel „Smoke on the Water“ soll Deep-Purple-Bassist Roger Glover ein paar Tage später im Traum erfahren haben.

Die akustischen und optischen Echos der geschilderten Vorkommnisse wurden von dritter Seite mit kritischem Unbehagen wahrgenommen. Auf der Terrasse seiner Suite im Montreux Palace Hotel stand der große Petersburger Vladimir Nabokov. Was er hörte, gefiel ihm nicht. Laute Rockmusik anglosächsischer Proletarier (Nabokov hielt den Lärm für „Jazz“), von den frühen Winterwinden durch den mondänen Ort und über den See getragen. Auch was er sah, muss den scheuen Autor irritiert haben: Feuer, Rauch, Langhaarige, Panik. Chaos im Panorama der Nabokovschen Ordnung.

Es ist nicht bekannt, ob die drei erwähnten Protagonisten der geschilderten Vorkommnisse einander am Ort des Geschehens begegnet sind. Ich jedenfalls saß in der ersten Klasse des Gymnasiums in der Wiener Wasagasse und träumte den vergangenen Sommer nach. Fern der Geschehnisse in Montreux war ich diesen doch ganz nah. Und mehr noch ihrem Personal: Dem aristokratischen Gestus des Schmetterlingsfängers Nabokov, der kritischen Pedanterie des Bürgerschrecks und Welt-Tschuschen Frank Zappa und der entrückten Manie des Rockproleten Ritchie Blackmore. Wie gut kannte ich deren Befindlichkeiten und Beweggründe aus meiner eigenen Familie! Dieses explosive Gemisch aus Kunst und Krach, Schreiben und Schweigen. Wie der dauerentwurzelte Nabokov war ich mit dem Botanisieren schöner Fluginsekten infiziert worden. Und mit dem Aufschreiben von Erfundenem. Wie Franz Zappa suchte ich die Dämonen der Bürgerlichkeit mit satirischer Anarchie zu bekämpfen, wie Ritchie Blackmore verlor ich mich im Handwerk des Gitarrespielens und in den Arabesken der Melancholie.

Der vorliegende Band handelt von Gleichzeitigkeiten und will nicht mehr sein als eine Botanisiertrommel, in der ich schillernde Schmetterlinge gesammelt habe und auch den einen oder anderen Käfer. Wiener Schmetterlinge und Wiener Käfer. Vieles in der Wiese Wien will noch gefunden werden und auch die Frage nach der Legitimität des Botanisierens darf gestellt werden. Hier kann Frank Zappa antworten, dessen Musik das Schreiben dieser Sammlung begleitet hat: „You are what you is.“

Oder genauer:

„Ich bin der Himmel
Ich bin das Wasser
Ich bin der Dreck unter deinen Walzen
Ich bin dein geheimer Schmutz
Und verlorenes Metallgeld
(Metallgeld)
unter deiner Ritze
Ich bin in deinen Ritzen und Schlitzen
Ich bin Wolken
Ich bin die Stick[erei]
Ich bin der Autor aller Felgen
Und Damast-Paspeln
Ich bin der Chrome-Dinette
Ich bin der Chrome-Dinette
Ich bin Eier aller Arten
Ich bin alle Tage und Nächte
Ich bin alle Tage und Nächte
Ich bin hier 
Und du bist mein Sofa!
Ich bin hier 
Und du bist mein Sofa!
Ich bin hier 
Und du bist mein Sofa!“

Frank Zappa & The Mothers
The Sofa Suite (Live at Montreux Casino, 4th December 1971)

Unser seliger Vater war zu Neujahr nie zu Hause

Unser seliger Vater war zu Neujahr nie zu Hause. Er saß jahrzehntelang im Neujahrskonzert im Goldenen Saal. In der Balkonloge oben rechts. Er hatte einen Deal mit einem der Billeteure. Der stellte ihm für 30 Schilling einen Zusatzstuhl hin. Wenn das Parkett sich freigehustet hatte für den Auftakt von Boskovsky und Nachfolgern.

Tee mit Leibniz

Gmunden ist eine Kleinstadt in Oberösterreich, es ist, wenn man so will, das Genf des Salzkammerguts. Gmunden unterschiede sich trotz seiner splendiden Lage am schönen Traunsee nicht weiter von Nestern seines Kalibers, wäre es nicht auch das Exil der Exkönige von England.

Die Exkönige von Hannover, von Großbritannien und von Irland, Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und Dukes of Cumberland sind dem deutschen Publikum unter ihrem Familiennamen „Welfen“ bekannt und leben seit ihrer Exilierung aus dem British Empire, von der Yellowpress relativ unbeachtet, in dem verträumten Städtchen am Traunsee. Als Buckingham Palace von Gmunden diente ihnen ab 1866 die komfortable „Villa Cumberland“, heute tut es auch die etwas bescheidenere „Cöniginvilla“.

In der Gmundner Cöniginvilla ging mein Freund Conrad ein und aus. Das war in den 1960ern. Conrad war mit den Royal Highnesses, den Herzögen von Hannover, befreundet, ja, er war schon fast so was wie ein Teil der Familie geworden, und er unterrichtete die Sprösse des Hauses, die beiden Welfenherzöge Ernst August und seinen jüngeren Bruder Ludwig Ernst, in der Sprache Voltaires. Erster sollte später als „Haugust“ und Ehemann der monegassischen Prinzessin bekannt werden.

Weil nun die Welfen einerseits exilierte Könige von Hannover, andererseits aber legitime Exilregenten von England waren, kam es bisweilen zu schizophrenen Situationen. Die Ironie des Familienschicksals ließ es nicht zu, bei Fußballmatches Deutschland gegen England eine der beiden Mannschaften gegenüber der anderen zu favorisieren. Bei Deutschland-England jubelten die Welfen also bei jedem Tor, völlig unabhängig davon, welche Mannschaft es gerade erzielt hatte.

In der Cöniginvilla trank man traditionell „Calenberg-Tea“, ein Getränk, das Herzogin Ortrud, eine geborene Prinzessin zu Schleswig-Holstein-Glücksburg-Sonderburg, kreiert hatte und das auch Gästen gerne und oft gereicht wurde. Calenberg-Tea war aber kein Tee, sondern unverdünnter Whiskey aus dem Supermarkt, der aus Gründen der Etikette in feinem Teeporzellan und stets und ausschließlich zur Teatime serviert wurde.

Fünf Uhr hieß bei den Hannovers deshalb auch schlicht und einfach „Calenberg-Time“. Schlag fünf unterbrach der alte Welfenherzog Ernst August, was immer er auch gerade tat, und näselte mit durstiger Stimme: “It is Calenberg time!“ 

An einem dieser Nachmittage saß mein Freund Conrad mit den königlichen Hoheiten zu Teetische. Man sprach über dies und sprach über das, und irgendwann bekam die Konversation eine naturwissenschaftliche Färbung. Man plauderte erst über Äpfel, dann über Newton, und während man ausgiebig am Calenberg-Tea nippte, griff jemand nach einem Keks, und es kam die Rede auf Gottfried Wilhelm Leibniz.

Und als der Name des deutschen Philosophen fiel, guckte der kleine Herzog Ludwig Ernst, gerade mal acht Jahre alt, von seiner Tasse Calenberg-Tea auf und hauchte altklug: „Leibniz, hat der nich auch mal für uns gearbeitet?“

Aus: Andrea Maria Dusl: Fragen Sie Frau Andrea, Falterverlag, 2003, pagg. 181f.

Douglas Adams‘ legendäre Cookies-Geschichte

Douglas Adams describes why you never want to share a table with a stranger (Late Night with David Letterman, 14 February 1985):

„This actually did happen to a real person, and the real person is me. I had gone to catch a train. This was April 1976, in Cambridge, U.K. I was a bit early for the train. I’d gotten the time of the train wrong. I went to get myself a newspaper to do the crossword, and a cup of coffee and a packet of cookies. I went and sat at a table. I want you to picture the scene. It’s very important that you get this very clear in your mind. Here’s the table, newspaper, cup of coffee, packet of cookies. There’s a guy sitting opposite me, perfectly ordinary-looking guy wearing a business suit, carrying a briefcase. It didn’t look like he was going to do anything weird. What he did was this: he suddenly leaned across, picked up the packet of cookies, tore it open, took one out, and ate it.

Now this, I have to say, is the sort of thing the British are very bad at dealing with. There’s nothing in our background, upbringing, or education that teaches you how to deal with someone who in broad daylight has just stolen your cookies. You know what would happen if this had been South Central Los Angeles. There would have very quickly been gunfire, helicopters coming in, CNN, you know… But in the end, I did what any red-blooded Englishman would do: I ignored it. And I stared at the newspaper, took a sip of coffee, tried to do aclue in the newspaper, couldn’t do anything, and thought, What am I going to do?

In the end I thought Nothing for it, I’ll just have to go for it, and I tried very hard not to notice the fact that the packet was already mysteriously opened. I took out a cookie for myself. I thought, That settled him. But it hadn’t because a moment or two later he did it again. He took another cookie. Having not mentioned it the first time, it was somehow even harder to raise the subject the second time around. “Excuse me, I couldn’t help but notice…” I mean, it doesn’t really work.

We went through the whole packet like this. When I say the whole packet, I mean there were only about eight cookies, but it felt like a lifetime. He took one, I took one, he took one, I took one. Finally, when we got to the end, he stood up and walked away. Well, we exchanged meaningful looks, then he walked away, and I breathed a sigh of relief and st back.

A moment or two later the train was coming in, so I tossed back the rest of my coffee, stood up, picked up the newspaper, and underneath the newspaper were my cookies. The thing I like particularly about this story is the sensation that somewhere in England there has been wandering around for the last quarter-century a perfectly ordinary guy who’s had the same exact story, only he doesn’t have the punch line.“

Muhammed Ali

„Ich bin Boxer. Halbschwergewicht. Aber meine Zeit ist vorbei. Vorbei, bevor sie begonnen hat. Ich will den König besuchen. Er wohnt in Michigan. Hinter der Ampel, der einen Ampel, die sie haben in Berrien Springs, Michigan, Postleitzahl 49103. Hinter der Ampel links, dann die schmale Allee runter bis zum Ende. Dort ist sein Haus, ein weißes Farmhaus, die Scheune, die Bäume, der Teich. Kann man auf den St. Joseph sehen von dort. Dort lebt der König der Welt. 8105 Kephart Lane, Berrien Springs, Michigan. Mein Vorbild, mein Held, der König der Welt. Ich werde anklopfen, Guten Tag sagen, hier bin ich, Rotor! Lehre mich zu tanzen wie der Schmetterling, und ich werde dein Fahrer sein, ich, Rotor. Ich werde dich fahren. Wohin du willst, wann immer du willst. Ich, Rotor, der Minderste. Und dann werde ich ihn bitten, während der dreiunddreißigsten Fahrt wird das sein, mir den Traum zu erzählen, den der Schmetterling hatte, als er am Boden lag, zertreten zu Staub. Dann wird mir der König seinen Traum erzählen, den er hatte, als er noch ein Rotor war. Als er angeschlagen am Boden lag und sah, wie er gefangen war in einem Roten Raum. Er wird mir erzählen, wie die Alligatoren Gitarre spielten, wie die Bären Trompete bliesen. Er wird mir erzählen, wie er den Zauberer sah, an der Wand hängen, auf einem Kleiderbügel. Wie er in das Kostüm des Zauberers schlüpfe, den Raum verließ, zu sich kam und den Kampf gewann. Danach werde ich ihn fragen, während der dreiunddreißigsten Fahrt, den König der Welt, Muhammad Ali.“

Andrea Maria Dusl: Channel 8, Residenz, 2010, pagg. 111f.

Zur Frage des 1. Mai.

Vielfach wird die Bedeutung des Aufmarsches der Wiener Sozialdemokratie am 1. Mai falsch verstanden. Von Aussenstehenden, wohlwollenden wie übelwollenden, in der Regel aber neutralen, wird der Sternmarsch aus den Bezirken und Sektionen Wiens zum Rathausplatz als Huldigung der Stadtspitze, der Gewerkschaft und (so der Fall) des Bundeskanzlers verstanden. Wie wird das Ereignis wahrgenommen? Auf massiv erhöhter Tribüne stehen Auserkorene, winken mit roten Taschentüchern und freuen sich über die Einziehenden. Das ganze wird als seltsame Parade verstanden, die Traditionen des Vorbeimarsches an der Ehrentribüne am Roten Platz (i.e. der Balkon des Leninmausoleums) nacherzählt.
 
Es ist ganz anders. Auch Teilnehmende auf der Tribüne mögen das nicht in aller Konsequenz wissen.
 
In den Bezirken Wiens formiert sich die sozialdemokratische Basis, die Mitglieder und Bewegten von Sektionen, Organisationen, Vorfeldorganisationen, Verbänden, Fraktionen der SPÖ, in der Regel jener der Stadt. Unter Mitnahme ihrer Fahnen, von Transparenten und anderen Sichtbarkeiten marschieren Sie auf alten Routen Richtung Rathausplatz. Zu einem einzigen, gerne vergessenen Zweck: Dem Rathaus, also der Obrigkeit ihre Stärke zu zeigen. Gehuldigt wird nicht den dort stehenden, sondern einzig einer Idee, der Sozialdemokratie und ihren Werten. Und so heißt der 1-Mai-Aufmarsch auch „Demonstration“.
 
Wenn sich nun die Tribüne (oder ausgewählte Partizipierende dort) von den Zielen der Sozialdemokratie entfernt haben, wird das von der Basis sichtbar und hörbar kundgetan. Zugegeben, das geschah noch nicht so oft. Aber wenn es notwendig ist, geschieht es. Muss es geschehen.
 
Im Lichte dieser Erkenntnis war also dieser 1. Mai und die gellenden Pfiffe, Buhrufe und Schilderwälder für Werner Faymann und seine Prätorianer ein Zeichen der Stärke der Sozialdemokratie, nicht eines der Schwäche.
Freundschschaft!

Wassermair sucht den Notausgang XIII

Wassermair sucht den Notausgang – comandantina hilft dabei

Gespräch zu Politik und Kultur in Krisenzeiten
Sendetermin: Dienstag, 19. April 2016, 13.00 Uhr
Gast: Andrea Maria Dusl
Die Sendung war per Live-Stream auf dorf TV zu sehen und ist hier abrufbar: https://dorftv.at/video/24673

 

In der dreizehnten Ausgabe der Sendereihe auf dorf TV ist Andrea Maria Dusl zu Gast. Die Comandantina tritt gerne auch als Buchautorin, Kolumnistin, Zeichnerin, Filmemacherin und Kulturwissenschafterin in Erscheinung – und inspiriert damit politische und mentalitätsgeschichtliche Diskurse.

Im Mittelpunkt des Gesprächs stehen u.a. Fragen, wie mit Veränderungswillen den politischen Realitäten am besten entgegentreten, inwieweit identitäre Volkstribune für die satirische Kritik eine Herausforderungs darstellen und warum die Sozialdemokratie noch immer Hoffnung auf Erneuerung verdient.

Andrea Maria Dusl, geb. 1961 in Wien; lebt in Wien und San Francisco; Bühnenbild-Studium an der Akademie der Bildenden Künste in Wien; Dissertationsstudium der Philosophie an der Universität für Angewandte Kunst in Wien; Magistra Artium; Doktorin der Philosophie; Universitätslektorin an der Angewandten; Spielfilm: „Blue Moon“ (Locarno-Wettbewerb, 2001, Großer Diagonale-Preis); Publikationen: „Die österreichische Oberfläche“ (2007), „Boboville“ (2008), „Channel 8“ (2010), „Ins Hotel konnte ich ihn nicht mitnehmen“ (2012). „So geht Wien!“ (2016). Essays, Kolumnen und Zeichnungen v.a. für Falter, Standard, Salzburger Nachrichten.

http://wassermair.net/media/notausgang_190416/

https://dorftv.at/video/24673

 

Danke Heinz!

Badewitz02Der liebe Heinz Badewitz ist gestorben. Ich mochte ihn sehr gerne. Er war ein Kinomensch. Er war DER Kinomensch. Ich erinnere mich, wie ich mit ihm hinter dem Vorhang stand, in Hof, vor der Projektion meines Films. Er war mehr aufgeregt als ich. Wir lugten durch das kleine Loch im Vorhang, schauten auf das Publikum im Saal, wie eine Kamera in die Welt. Wer das nie gemacht hat, sollte es erleben. Danke Heinz Badewitz für Deine Liebe zum Film!