Weihnachten

Nun ist es also da, das schönste Fest des Jahres, das Kalenderereignis mit der größten psychodramatischen Aufladung. Nach gängigem Verständnis der landesweit vorherrschenden Religionszugehörigkeit wird der Geburt des Glaubensgründers gedacht. Ochs und Esel sind zugegen, weil der Ort der Niederkunft als Stall gelesen wird. Der strahlende neue Erdenbürger, so lernen wir aus Krippen und im Religionsunterricht, liegt in einem Futtergestell, auf Stroh gebettet. Die jungfräuliche Mutter hat den Säugling unbefleckt empfangen, der Vater ist im Himmel, sein irdischer Platzhalter als Familienunterhalter ist ein gutmütiger, älterer Herr aus dem Zimmermannsgewerbe. Von einem Schweifstern aufgescheucht haben sich drei Magier, nach anderer Interpretation drei Könige, jedenfalls aber Orientalen mit Geld und Räucherwaren eingefunden. Vor der Stalltür besingen Schafhirten und Engelsscharen mit Posaunen das Geburtsglück. Königinnen, Schafhirtinnen und fliegende Frauen sind nicht anwesend, die Gottesgebärerin ist die einzige Frau am Heiligen Geburtsort.

Dieses Szenario hat sich gegen Ende des letzten Jahrtausends entschieden erweitert (wenn auch nicht verweiblicht). Ein rotwamsiger älterer Hipster mit Figurproblem ist dazugestossen, statt morgenländischer Schätze bringt er anderen Kindern Geschenke, jedenfalls nicht dem frohbotschaftlich Frischgeborenen. Sein Fahrzeug ist ein neunspänniger fliegender Rentier-Schlitten, zugelassen am Nordpol. „Ho, ho, ho!“ ist sein Fuhrkommando, aus dem Schlittenradio schmettert das Lieblingslied des alten weißen Mannes: „Jingle Bells“.

Weihnachten ist komplex.

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 24. Dezember 2022.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert