Glühwein

Die besinnlichste Zeit des Jahres ist angebrochen. Hinterhältige Genua-Tiefs schaufeln kalte Luftmassen nach Europa, feucht wie sie sind, gehen sie als Nebel, gefrierender Nebel, kalte Güsse, Graupelschauer und Eisregen auf uns hernieder. Unter allgemeinem Jubel, der Seltenheit geschuldet, auch als Schnee. Zum Leidweisen sorgengeprüfter Liftkaiser und Seilbahnimperatoren immer erst, nachdem kostbare Millionen durch die Beschneiungsanlagen geblasen wurden.

Es ist ein Jammer mit der Besinnung. Sie führt direkt in das österreichische Dilemma: Wohin mit den Gefühlen? Wut, Verdruss und Furor wollen besänftigt werden, Furcht und Angst gestillt, Trauer erstickt. Die Beschallungsindustrie antwortet mit Weihnachtsgedudel, der Küniglberg mit rasenden Schneefahrtreportagen und betulichen Geldsammelsendungen. Licht soll ins Dunkel. Nichts davon kann die österreichische Seele erreichen. Tief drinnen in ihr steckt der Weltschmerz. Bedroht durch Pflichten, und verfolgt von Zwängen flieht die österreichische Seele in die Benommenheit. Als bestes Remedium für die Jahreszeit-Entrückung dienen abendliche Kurzkuraufenthalte an den Bretterbuden, die die Welt bedeuten: Punsch-Stände, Glühwein-Hütten und Jagatee-Kioske. Dort wird die österreichische Seele mit dem Vergessenstrunk behandelt. Heißem Wasser mit Alk und Farbe und weihnachtlichem Aromamix. Heißer Likör also. Er befährt die verzweigten Wege der österreichischen Seele und schneit Vergessen auf sie. Aus bitterem Klagen wird haltloses Lallen, aus Furcht Zuversicht, Not wird zum Nachbar. Wenn alle dicht sind, gibt es keine Grenzen mehr. Der Winter kann kommen.

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 10. Dezember 2022.

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