Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 46/2022 zum 16. November 2022
Liebe Frau Andrea,
ich bin jetzt schon längere Zeit in Wien und habe mich eingelebt. Jetzt habe ich den erschütternden Satz gehört: Plausch mi net an, besprich des min Würstelmann. Soll ich? Bitte um Aufklärung.
Dirk Pritschke, Menden im Sauerland, jetzt Wien, per Email
Lieber Dirk,
der Ansprechpartner meist nächtlicher Wurst- und Konversationswünsche, der Wiaschdlmaun (Würstelmann) ist Fortgeschrittenen auch als Flaksnbondscha (Sehnen-Pantscher), Wiaschdlbroda (Würstelbrater), oder schlicht Wiaschdlinga (Würstlinger) bekannt. Der Würstelmann übt sein Amt mit olympischer Geduld aus. Er ist weder gütig noch verzeihend, weder interessiert noch ratschlagend. Wie Kellner und Wirt ist der Würstelmann stets grantig. Seine salomonische Distanz ist weniger Geschäftsmodell als ehrliche Gesinnung. Wurstsieden ist Schwerarbeit, Gurkerlfischen Hochleistungssport. Wie die Psychiater in den geschlossenen Abteilungen tragen die Würstelmänner den weißen Mantel. Ambulanzzeit ist die Nacht, Wind und Wetter sind stumme Zeugen jeder Therapie.
Die ersten Würstelstände wurden wie die Tabaktrafiken von Vorbeschädigten betrieben, Kriegsversehrten mit seelischen Traumata, fehlenden Körperteilen und traurigen Biographien. Der Typus des kioskartigen, wetterfesten Standes mit dem klassischen Kanon der Würstelstandgastronomie sollte sich erst spät herausbilden. Bis in die 60er-Jahre waren die „Nachtrestaurants auf Rädern“ mobil und ähnelten mehr den Kirtagsbuden und Marktwägen als den Stahlblechkastellen von heute. Aus der Genealogie der Institution erklärt sich auch das Missverhältnis zwischen Männern und Frauen. Traditionell ist die Würstelperson männlichen Geschlechts. Durch die Arbeitskleidung Schürze angedeutet und in der labenden Funktion konstituiert, wird der Würstelmann aber zur Mutter.
Beim Würschtlinger sind die Standesgrenzen aufgehoben, Ballbesucher treffen auf Taxler, Pülcher auf Nachtvögel, Schmähbrüder auf Nervenschakl. Der Würstelmann ist Amme und wärmende Matrix, Medizinmann und Lagerfeuer, jedenfalls aber Hohepriester am Altar der Religion Wien.
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