Auf dem Zahnfleisch gehen

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 25/2021 zum 23. Juni 2021

Liebe Frau Andrea,
soeben kam uns hier im äußersten Westen der Ausdruck „auf dem Zahnfleisch gehen“ unter. Aber was bedeutet er?
Nach langer Fragenabsenz bin ich jederzeit Ihre
Karin F. Knolle, Hörbranz, per Email

Liebe Karin,

wir alle kennen das Bild vom Zusammenbeißen der Zähne bei körperlichem, seelischem und wirtschaftlichem Ungemach. Den von Ihnen aufgelesenen Ausdruck kennen wir ebenfalls bestens, wenngleich wohl niemand von uns je tatsächlich auf eigenem Zahnfleisch gegangen sein dürfte. Arbeitet die Metapher doch mit radikaler Übertreibung. Sehen wir uns das Sprachbild genauer an. Das Zahnfleisch ist jener Teil der Körperoberfläche, der trotz Zartheit und intimer Ausdehnung an stetiger Arbeit beteiligt ist. Jeder Biß gleitet nach Zerteilung oder Zermahlung durch unsere Zähne am Zahnfleisch entlang. Das Bluten unseres Zahnfleisches gibt Auskunft über Verletzung und krankhaftes Geschehen. Bei anhaltendem Rückgang des Zahnfleisches droht gar der Zahnverlust. Einen größeren Gegensatz als jenen zwischen harten, schroffem Schmelz gesunder Zähne und der verletzlichen Weichheit von Zahnfleisch ist kaum denkbar. Der Zähne verlustig Gegangene beklagen das Beißen auf dem ungeschützen Zahnfleisch. Aus dieser Erfahrung zahnloser Kauvorgänge speist sich wohl das Bild der körperlichen Radikalabnutzung. Wer auf dem Zahnfleisch „geht“, tut dies nur unter Schmerzen und großer Anstrengung. Zahnfleischgänger sind erledigt, erschöpft und krank, wirtschaftlich und körperlich ruiniert. Im Sprichwort verbindet sich die Erfahrung der unbeschuhten Fußsohle mit jener des zahnlosen Kiefers.

Die Metapher hat kaum Entsprechungen in anderen Sprachen, sieht man davon ab, dass sie für das Niederländische in dieser Bedeutung bereits 1858 beschrieben wird: „Hij loopt op zijn tandvleesch“, soviel wie: Er läuft auf seinem Zahnfleisch.

Wem das Wandern auf der Gingiva nicht eindrücklich genug ist, mag an ein anderes Sprachbild unserer Breiten erinnert sein. Ausgebeutete und der Unversehrtheit Beraubte beschreiben ihre Qual nicht selten mit jener Metapher, nach der ihnen gerade das „Weiße aus den Augen“ geholt werde.


comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina

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