Schulanfang

Österreich ist ein Land der Dichtkunst. Kein Schlagerlied kommt ohne Reim aus, Faschingsreden bersten vor Lyrik, die Kalenderindustrie wäre verloren, ohne die sinnstiftende Kraft der Poesie. Das erste Gedicht im Leben junger Österreicher ist der schulische Vierzeiler: „Erste Klasse: Tafelkratzer. Zweite Klasse: Tintenpatzer. Dritte Klasse: Luftballon, Vierte Klasse: Flieg davon.”

Das Alter des Poems lässt sich daran erkennen, dass es von Schreibversuchen auf Schiefertafeln spricht. Ein Lehrgerät, an das sich nur mehr die Ältesten aus der Generation Wiederaufbau erinnern können. Im Schreiben mit der Füllfeder, Gedächtnisgerät der Boomer, sehen heutige Kinder das Erlernen einer historischen Kulturtechnik. Muss doch Erstklasslern das Wischen über Oberflächen und das Antippen von Buttons erst mühsam abgewöhnt werden. Die jungen Menschen sind mit Tablets und Smartphones aufgewachsen. Schule ist traditionell ein Blick ins Gestern, auch wenn das die Pädagoginnen nicht so gerne hören.

Eingedenk dieser Verhältnisse appelliert der amtierende Unterrichtsminister an Schulgebräuche aus seiner Jugend, dem Mittelalter. Wenn die Luft schlecht ist (Pesthauch! Covidnebel! Coronadampf!) möge man die Fenster öffnen. Wer nicht abgehärtet ist, darf Fäustlinge und Anorak tragen. Das Einmaleins lässt sich auch bei Minusgraden aufsagen! Die obligaten Gurgeltests dürfen mit Warmwasser durchgeführt werden. Ausnahmsweise.

Wir dichten: „Erste Klasse: Fenster auf. Zweite Klasse: Maske rauf.
Dritte Klasse: Gurgelbecher. Vierte Klasse: Rachenstecher.”

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 12. September 2020.

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