Comandantina und das Hamburger Sie

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 22/2020 zum 27. Mai 2020.

Liebe Frau Andrea,
was ist da los? Der ORF-Moderator begrüßt einen Experten mit „Guten Morgen, Vorname“. Man denkt, okay, die beiden sind erstens per Du und zweitens genregemäß locker. Und dann am Ende: „Vielen Dank, Herr X, haben Sie noch einen schönen Tag!“ Woher kommt diese Tendenz zur Anrede per Vornamen bei Leuten, die sich dann per Sie voneinander verabschieden? Wird hier Sprachwandel intendiert oder fremde Gewohnheit unreflektiert imitiert? Ich empfinde geradezu allergischen Widerwillen gegen diese ambivalente Ausdrucksweise. Oder ist die Position Vorname ist gleich „per Du“ – Nachname ist gleich „per Sie“ fast schon überholt?
Gespannt auf eine Erklärung wartend grüßt Sie
Martin Lischka, Alsergrund

Lieber Martin,

ich fühle mich direkt angesprochen, verwende ich doch selbst den von Ihnen monierten Anredemodus. Und zwar hier, in dieser Kolumne. Von Anbeginn an. Sprachtechnisch gesehen handelt es sich bei dieser Formel um das „Hamburger Sie“. Es gilt unter eleganten Hanseaten und Citoyens der alten Schule als respektvoller Mittler in der Verbindung Gleichgesinnter: „Florian, das haben Sie wieder mal großartig hinbekommen!“ Damit ist es seinem süddeutschen Pendant, dem Münchner Du („Frau Übelhör, kannst ma du an Cappuccino richten?“), in Form und Moral weit überlegen. Österreich verwendete lange Zeit, vor allem in Schulen und beim Militär das Du mit Nachnamen: „Gruber, du fauler Hund“, „Novak, du Kameradenschwein“. Das Siezen mit Nachnamen wird nur noch in der österreichischen Amtsstube, beim Arzt und in der Apotheke hochgehalten. Im Mailverkehr werden Sie das „Sie“ nur von Mitbürgern aus dem letzten Jahrhundert einfordern können, auf Facebook nicht einmal von denen. Im Umgang mit Handwerkern, Baumarkt-Mitarbeitern und Polizisten hat sich das „Ihrzen“, streng wienerisch eigentlich das „Esen“ eingebürgert: „Hobts es neiche Kappln?“, „Wo hobts es die Akkuschrauber?“ Völlig aus der Mode gekommen ist das das Erzen des apostolischen Monarchen und anderer aristokratischer Instanzen, geübt im Umgang mit hierarchisch Defizitären: „Hat er ein neues Palais erbauet?“, „Trag‘ er uns ein paar Flaschen vom Tokaier auf!“

comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina

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