Böhmische Leinwände

Für meine Kolumne ‚FRAGEN SIE FRAU ANDREA‘ in Falter 23/2019 zum 5.6.2019.

Liebe Frau Andrea,
letztens, nach einem kräfteraubenden Morgenlauf, rutschte mir ein Ausdruck heraus, den ich tief in meinem Inneren vergraben hatte: „Dann bin i eingangen, wia a behmische Leinwand.“ Ich musste lachen, denn es wurde mir schlagartig bewusst, dass mein Vater öfters diesen Ausdruck verwendete! Aber woher kommt er wohl? Danke für die Aufklärung!
Liebe Grüße,
Uschi Mandl, Wien, Hirschstetten, per Email

Liebe Uschi,

unsere Urgroßeltern identifizierten mit Böhmen noch das habsburgische Kronland, tschechisch Čechy. Vermehrt um die Landesteile Mähren (Morava) und tschechisch Schlesien (České Slezsko) bildet es heute das Staatsgebiet der Tschechischen Republik, tschechisch Česká republika oder kurz: Česko. Der Name Böhmen (spätlateinisch Bohemia) kommt vom keltischen Stamm der Boier, die hier im namengebenden Boiohaemum, dem Heim der Boier lebten.

Als Leinwand wiederum verstehen wir Gewebe in Leinwandbindung, der einfachsten Art Fäden zu verweben. Dabei kommt jeder Kettfaden abwechselnd über und unter einem Schussfaden zu liegen. Bis ins 18. und frühe 19. Jahrhundert waren die Nebenerwerbsbauern Böhmens, Mährens und Schlesiens traditionelle Produzenten von Leinengeweben für Wäsche und einfache Kleidung aus Flachsgarn. Wegen schlechterer Appretur war böhmische Leinwand weniger beliebt als schlesische, und geriet vollends in Verruf, als die böhmischen Weber nach englischem Vorbild Baumwoll-Flachs-Mischgarne verwebten. Der Vorwurf der „eingehenden“, also stark schrumpfenden böhmischen Leinwand stammt mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem frühen 19. Jahrhundert.

Im übertragenen Sinn wurde so auch das Abmagern und der körperliche Verfall Untrainierter bei Sport und Schwerarbeit bezeichnet. Die Invektive „behmisch“ ist im Wienerischen noch in anderen Bezeichnungen produktiv geworden, so im Vorwurf des behmischen Einkaufs (der unbezahlten Mitnahme), im behmischen Dorf (alles unverständliche, fremde), in den behmischen (grellbunten) Farben, den behmischen Weintrauben (scherzhaft für Erdäpfel), und schließlich im böhmischer Fehler (der irrigen Vertauschung zweier Ziffern).

comandantina.com dusl@falter.at Twitter: @Comandantina

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