Hol Dir, was Dir zusteht

Christian Kern steht zornig (ungewohnt) und hemdsärmelig (ungewohnt) hinter einem Spruch (ungewohnt), vor einer Menge stolzer und selbstbewusster Menschen (ungewohnt). Alle sehen uns an. Der Kanzler zeigt auf uns. An der Message und der Bildsprache des jüngsten SPÖ-Wahl-Sujets ist so vieles ungewohnt. Das Plakat berührt, irritiert, löst Diskussionen aus.

Wohlmeinende Kritiker (ungewohnt) vergleichen es mit dem legendären Gemälde „Der vierte Stand“ des piemontesischen Malers Giuseppe Pellizza. Kritischere Wohlmeiner sehen Uncle Sams Rekrutierungs-Claim in des Kanzlers Zeigefinger, Feministinnen die phallische Pistole von Cowboy Elvis Presley. Intellektuelle melden sich zu Wort, ringen um Luft, können die Bildsprache nicht lesen, der Spruch, so sagen sie fast wortgleich, mache sie ratlos. Übelmeinende aus Listenlagern und Heimatparteien reagieren mit dummen Vergleichen. Ein Wirtschaftskammerfunktionär meint die SPÖ in Propagandanähe zur NSDAP rücken zu müssen. Kornblumenfreunde und Parlamentstrolle applaudieren. Jenseits kruder Geschichtsbilder hyperventilieren sie angsterfüllt: Das Plakat schüre Neid und stifte zu Enteignungen an. Niedrigsten Instinkte wachgerufen sehen auch Grünbewegte und Magentaliberale. Ökonomen auf dem Kultursoziologieparcours schließlich werfen Kanzler und Sozialdemokratie Verrat am „Wir“ vor. Und einen verwerflichen Appell ans Individuum.

Der Spruch weckt Erinnerungen an den Kampf der Arbeitnehmer gegen die Kräfte des Kapitals. Es darft zitiert werden: „Und wenn die Abzocker oder die Börsenspekulanten unter den Spitzenverdienern zur Kasse gebeten werden und sie das Gefühl haben, wir zocken sie ab, dann sag ich euch nur: Die haben sowieso keinen Sinn für das Gemeinsame, für die Gemeinschaft. Dann sage ich bei denen nur: Her mit den Millionen, her mit dem Zaster, her mit der Marie!“ Tosender Applaus. Fast 94 Prozent der Anwesenden stimmten für die Frau am Pult. Das war 2011, der Anlaß eine ÖAAB-Wahl. Johanna Mikl-Leitner ist jetzt Landeshauptfrau von Niederösterreich.

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 12.8.2017.

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