Einschlafen in Österreich

Das Land zwischen Bodensee und Langer Lacke zählt zum Lager der Frühaufsteher. Das Militär des Landes, sonst eher mit der Kunst des energieschonenden Müssiggangs verbunden, weckt seine Rekruten Punkt 6 Uhr mit dem martialischen Schrei „Taagwachä“. Um ihre Arbeitsstätten im Norden rechtzeitig zu Arbeitsbeginn zu erreichen, müssen burgenländische und oststeirische Pendler zu Zeiten aufstehen, zu denen Spanier und Italiener gerade müde werden. Wem die Gabe des Frühaufstehens nicht in die Wiege gelegt wurde, muss ein Leben lang leiden, Szene-Kellner oder Krankenhauschirurgin, Nachtbuschauffeur oder Würstelfrau werden. Österreich steht auf, wenn sich andere gerade niederlegen. Warum ist das so?

Das frühe Aufstehen hat Gründe. Einen dürfen wir im Institut des Stalls ausmachen, wo seit jeher das österreichische Mutterrind auf das frühe Gemolkenwerden wartet. Ein guter Bauer, der die Milchdrüsen seiner Rosi, seiner Bella, Fiona und Adelheid nicht zu lange warten lässt. Da kann es draussen noch zappenduster sein. Klirrend kühl und böse dunkel. Der Schein der Stalllampe spendet trügerisches Licht, der frische Dung wärmt und weckt.

Als Chef aller Frühaufsteher können wir Kaiser Franz Josef identifizieren. Der Monarch, dem schon als Säugling eine Uniform angemessen und ein Holzgewehr überreicht wurde, war seit seinem 13. Geburtstag, wo er zum Oberst eines Dragonerregiments ernannt wurde, Vollzeitmilitär. Bis zu seinem Tod liess sich der Kaiser um 3 Uhr 30 wecken. Die Untertanen waren aufgerufen, es ihm nachzumachen. Über eineinhalb Jahrhunderte wurde das Frühestaufstehen als Tugend etabliert und der Unfug des Nichtausschlafens mit bleierner Schwere über das Land gelegt. Unseren südlichen Nachbarn ist das Phänomen so fremd wie unbegreifbar. Auch Engländer schütteln den Kopf. Deutsche würden das gerne tun, trauen sich aber nicht, weil das am Deutschlandbild der Österreicher kratzen könnte.

Konsequenz dieser Disposition des Landes ist die eigentliche Nationalkrankheit: Das schwere Einschlafen.

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 4.2.2017.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert