Herbst

Es zieht also wieder der Herbst ins Land, löst den Sommer ab, der mit heisser Hand auch bis spät in den September regiert hatte. Herbst ist nach landläufigem Verständnis der Verhältnisse die Zeit der Ernte, die Zeit der Lese, die Zeit des agrikulturalen Gewinns. Blenden wir in dieser sentimentalen Aufzählung aus, dass nur ein verschwindender Teil der Bevölkerung mit der Ernte beschäftigt ist und die Supermärkte des Landes, die wahren Vermittler zwischen Mensch und essbarer Natur, den Herbst nur als Marketing-Aufhänger verstehen. Jahreszeiten gibt es de facto in den Supermärkten nicht.

Der Herbst ist eine andere Zeit, als früher. Gewiss, die Tage werden kürzer, die Sonne steht tiefer, die Temperaturen sinken, aber die Ernte wird zu anderen Zeiten eingefahren. Die Schulen beginnen erst mit der Aussaat, wenn man dieses kitschige Bild bemühen wollte. Die Wintersportindustrie, die einzige Industrie von internationalem Rang, die das Land hervorgebracht hat, bereitet sich erst auf das Kommen der Umsätze vor. Weihnachten und Advent, die Zeiten des großen Geldmachens, werfen vorerst nur kalendarische Schatten. Trotzdem taumelt das Land durch einen Termintrubel. Universitätsstädte, ihre Zahl wächst, anders als das Haar auf den Scheiteln der Herrscher, wie böses Myzeel, ächzen unter dem Präsenzdruck studentischer Anwesenheit, Hauptstädte unter der Volllast von Ämtern und Behörden. Herbst ist keine Zeit der Muße. Und keine der Ruhe. Herbst ist die Unzeit.

Leben wir vielleicht doch noch in den alten Rhythmen? Fahren wir Ernte ein, auch wenn nichts am Wagen liegt? Nötigt uns alter Zauber, aus Feld und Acker zu holen, was nur geht, auch wenn Furche und Krume nur mehr Erinnerungen sind? Ist uns der Herbst epigenetisch eingeschrieben?

Erinnern wir uns. Was die Bauern vor dem Wintereinbrauch nicht unter Dach gebracht hatten, das gab es nicht. Das machte niemanden satt, das brachte niemand durch die Eismonate. Also doch Erntezeit. Und Vorsorge gegen das Verhungern. Auch für uns achtundneunzig Prozent Nichtbauern.

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 8.10.2016.

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