Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 17.9.2016.
Das österreichische Dilemma hat sich in einem simplen, aber folgenschweren Produktionsfehler (böse Zungen behaupten, in einem Akt der Sparwut) manifestiert. Zeichenhaft beschreibt der flüchtige Klebstoff, mit dem die Ränder der Wahlkarten (so heißen die elektoralen Versandkuverts im Amts-Chargon) verklebt wurden, den Zustand der Gesellschaft. Wie die Wahlkarte, so das Volk. Langjährig erprobte Mixturen des Zusammenhalts, pragmatische Adhäsionsmechanismen platzen auf, fest fügende Substanzen verflüchtigen sich, was zusammen war, weil es zusammen gehört, klafft auseinander. Übrig bleibt ein ungültiges Artefakt, präziser: ein Artefakt, das Ungültigkeit erzeugt.
Nun wäre man versucht, Klebergate als Summe passiver Zufallsereignisse im Rahmen behördlicher und gewerblicher Nonchalance zu werten, also in den aufgehenden Wahlkarten das Republik-Konstituens “Schlamperei” zu sehen. Kluge und klügere Köpfe sind jederzeit bereit, diese österreichischste aller Untugend als permanentes Erklärmodell auszurufen. Schlamperei wäre demnach GAÖ, die “größte anzunehmende Österreichischkeit“ und jederzeit und allerorten in Stellung zu bringen.
Dem darf widersprochen werden. Wäre Österreich in den behaupteten Maßen durchschlampt, würde überhaupt nichts mehr funktionieren. Die Eisenbahn entgleiste täglich, das Licht in unseren Häusern flackerte, aus unseren Wasserhähnen tropfte es braun und faulig.
Wer und was Klebergate verursachte, wird noch aufzuklären (oder zu verschleiern) sein, auf der Ebene der Effekte fallen aber Schlampigkeit und Sparwut in ein einziges Motiv zusammen: Den unbewussten Wunsch nach Wahrhaftigkeit in der Österreich-Selbstschau. Das ruinöse Wahlkuvert beschreibt die österreichische Gesellschaft hinreichend: An den Rändern geht sie auf. Die Mitte ist hohl. Links und rechts, nach anderer Lesart: oben und unten, sind nur über einen Bug verbunden, die eine Seite weiß nichts von der anderen. Insgesamt stellt man Ungültigkeit fest, dies aber mit Sicherheit. Oh, du mein Österreich, alles ist hin.