Die Mitte

Andrea Maria Dusl. Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 4.6.2016.

Mit großem Furor wird dieser Tage eine politische Gegend beschworen, die jeder kennen will, aber kaum jemand fassen kann, die sogenannte “Mitte“. Die Mitte, so die Annahme, sei jene Bevölkerungsgruppe, die sich weder als links begreife noch an rechts anstreifen wolle. Wer die Mitte für sich gewinne, so die These der politischen Meteorologen, habe es geschafft. Ohne Mitte winke ein Schicksal im Abseits. Nur die Mitte spiele eine Rolle. Nur die Mitte spiele mit. Die Mitte also.

Wir alle (auch die Mathematikfernen unter uns) kennen die Gaußsche Verteilungskurve, auch Glockenkurve genannt. Sie sieht aus wie eine Blindschleiche, die einen Hut verschluckt hat, links ist sie dünn wie ein Faden, dann schwillt sie an, steigt steil an, bildet einen runden, gemächlichen Höcker, um an der anderen Seite, nach rechts hin, in umgekehrter Form wieder zu fallen und sanft in einem Fädchen auszulaufen.

Die weite Verbreitung dieser Kurve in Statistiken aller Art, so auch der des Wahlverhaltens und der politischen Präferenz, verdankt die Welt der Diagramme dem zentralen Grenzwertsatz aus der Wahrscheinlichkeitstheorie, nach dem bei endlicher und positiver Varianz der Zufallsvariablen Verteilungen, die durch Überlagerung einer großen Zahl von unabhängigen Einflüssen entstehen, annähernd normalverteilt sind.

Zu schwerer Mathematiktobak? Es geht auch einfacher: Ein dicker Mittebauch ensteht in Statistiken immer dann, wenn etwas verteilt wird. In der Mitte, so die Glockenkurvenerfahrung, bauscht es sich immer auf. Egal, was die Frage war. Egal wer fragte. Eine Mitte gibt es immer dann, wenn die Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten auch ein Zögern, ein Verharren, ein Unschlüssigsein, ein Verweigern erlaubt. Die Mitte ist keine Entscheidung sondern sein bloßes Phantasma. Der luftgefüllte Bauch zwischen da und dort.

Wen hat die Mitte bei der letzten Bundespräsidentenwahl gewählt? Den grantigen Professor aus der Haschtrafikantenpartei oder den sanftzornigen Überflieger aus der Heimatpflegebewegung? Man weiß es nicht, denn die Mitte ist nur ein statistisches Artefakt.

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