Die Umfrage

Für meine illustrierte Kolumne in den Salzburger Nachrichten vom 17.10.2015.

Früher nannte man es “die Stimmung im Land”. Man deutete und gewichtete die Gespräche an Stammtischen, in Tabaktrafiken und Taxis, und schärfte damit die Einschätzung der politischen Großwetterlage. Wenn irgendwo in der Provinz gewählt wurde, maß man diesem Urnengang gerne das Gewicht einer Testwahl zu, verglich frische Wahlergebnisse mit früheren, zückte Millimeterpapier und Rechenschieber und füllte Zahlen in Tabellen. Mit viel Glück enstanden einfache Diagramme, mit denen die wenigen Parteizentralen des Landes Argumentationsnotstände sanieren konnten und Perspektivenschau betreiben. Das Augurenwerkzeug der Umfrage hatte sich noch nicht etabliert in Schnitzelland. Politiker entschieden aus dem Bauch, fragten ihre Haushälterin oder liessen sich von grauen Eminenzen treiben.

Mit dem Einzug der Marktanalyse in das Feld ökonomischen Handelns veränderte sich auch das Verständnis von politischer Strategie. Wähler wurden als Kunden erkannt, die es “abzuholen” galt. Die Marktforschung erweiterte ihren Kundenkreis um Presse und Parteien. Wahlwerber lernten von Waschmittelstrategen, Demagogen von Designern und Think-Tank-Denker von Trademark-Managern. Wer Staubsauger verkaufen konnte oder Sportlimonade, konnte auch Ideologie unters Volk bringen. Alles war nur mehr eine Frage der Zielgenauigkeit, und diese eine der richtigen Frage. Für die politische Kultur hatte das verheerende Folgen. Massnahmen wurden zu Verlautbarungen, Verlautbarungen zu Massnahmen. Den Diskurs bestimmten Umfragekaiser, politisches Gewicht wurde in Beliebtheitskurven gemessen. Die Nase hatte vorn, wer die bessere Daten in der Tasche hatte. Umfragen dienten nicht mehr der Politik, sondern die Poltik der Umfrage.

Das Wiener Wahlergebnis vom letzten Sonntag brachte einen Paradigmenwechsel auf diesem Feld: Umfragen und Prognosen haben die Genauigkeit von Lottotipps. Niemand weiss alles. Alle wissen nichts. Das hat auch etwas Gutes. Wahlen werden wieder geheim und frei. Und damit demokratisch.

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