Über Mütter

Andrea Maria Dusl. Für den Standard vom 9./10. Mai 2015.

(Die anderen Texte schrieben Gertraud Klemm, Andreas Maier und Lojze Wieser.)

Mutti sagte man damals. Zu den Zeiten, als meine Erinnerung einsetzt. Mutti sagte man damals und meinte die Mutter. Mutti war die moderne Version des lieben Mütterleins, die Wirtschaftswunderversion, die Wirtschaftsmutterversion. Der Mutti zu Ehren wurden Kluppenhälften zu Untersetzern verbastelt, Kochlöffel bemalt, Topflappen gehäkelt und Schlüsselhaken in Sperrholzbretter gedreht. Dies und anderer Geschenkeunsinn mehr. Der Blumen Meere nicht zu vergessen.

Zumindest in meiner Familie gab es keine Mutti. Es gab die Mama, sie war groß und stabil (oder klein und stabil), und es gab nicht nur eine. Der Mamas gab es viele. Bei uns in Mamaland. Meine Mama war die Mamamonica, meiner Mutter Mutter die Mamamargit. Vaters Mutter firmierte als Mamadora, Mamas Muttersmutter, sie hatte nur ein Bein und war die Frau eines Seekapitäns, war die Mamasigne. Mamavaters Mutter, eine Königin von Saba, lief familienintern unter Mamamartha. Sehr kompliziert, das Mütterregime. Multinational, vielsprachig, aber matriarchal. Wer auf die Idee kam, die Mütter in meiner weitverzweigten Familie durchzumamifizieren, ist nicht eruiert.

Das Mamanomwesen war indes nicht die einzige Möglichkeit, die eine von der anderen Mutter, das eine Gebärverhältnis vom anderen zu scheiden. Die Mamatitel waren nur die offiziellen Bezeichnungen, die Benennungen für Hochfeste und Familienkonvente. Deren gab es viele und umfangreiche. Im täglichen Gebrauch hatte jedes Kind in meiner großen, ja sehr großen Familie eine Privatbezeichnung für jede Mutter, jede Großmutter und jede Urgroßmutter. Dass die Schwestern, Tanten, Töchter, Nichten und Großverwandte weiblichen Geschlechts ebenfalls betitelt waren, versteht sich.

Meine Mutter hieß erwähnterweise nicht Mutti, nicht Mama allein, meine Mutter hieß geschwisterintern „Knackin“. Was sich mein Bruder, der Originator dieses Titels bei der Benennung gedacht haben mag, wurde noch nicht erforscht. Auch meine Großmütter mütterten nicht, ich nannte sie Mummu und Mussima. Mamas Großmütter? Großis und Mammele. In Momenten matriarchalischer Einkehr fantasiere ich eine Genealogie dieser Sonderbezeichnungen und ihrer ideengeschichtlichen Hafenplätze.

Von den Vätern in meiner Familie sind keine Sonderbezeichnungen und Papafizierungen bekannt. Ein Vater hieß bei uns maximal Papa. Er stand brav am Herd, kümmerte sich um die Kinder, fuhr zur See, spielte Klavier. Was Papas so machen. Die Szepter führten bei uns die Mütter. Ihnen gehörten die Häuser und Fabriken, die Kutschen und Autos, sie planten und ersannen, führten zusammen, bauten aus. Die Mütter, Großmütter und Urgroßmütter waren bei uns die Chefs. Die Chefinnen. Und wenn sie noch nicht gestorben sind, dann cheffen sie noch heute.

Muttertag, der Anlass für diesen Report, wurde bei uns niemals gefeiert. Schon die Idee eines solchen Feierdatums wäre familienmütterweit als Absurdum empfunden worden. Bei uns, ich spreche hier von wehmütigem Glück, war jeder Tag Muttertag.

Andrea Maria Dusl. Für den Standard vom 9./10. Mai 2015. (Die anderen Texte schrieben Gertraud Klemm, Andreas Maier und Lojze Wieser.)

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