Nebelzeit

Für meine ‚illustrierte Kolumne‘ in den Salzburger Nachrichten Wochenende vom 23.11.2013, Seite VIII.

Wenn die Temperaturen in den Keller fallen und der Nebel sich über das Land legt, werden die Österreicher sentimental. Aber statt daheim den Zimmerkamin zu entfachen, sich aufs Sofa zu legen, gemütlich Nietzsche zu lesen und einer gepflegten Harfensonate zu lauschen, sich also einzustimmen auf das Kommen des Winters, drängen die Österreicher ins Freie. Sie fürchten die Freiheit, aber sie lieben das Freie. Der Österreicher und die Österreicherin. Aber nicht gemeinsam. Der Österreicher geht zum Glühweinstand. Die Österreicherin auch. Zu einem anderen. Gleich nach der Arbeit. Statt der Arbeit. Es mag Menschen geben, die kein Dach über dem Kopf haben. Nicht so der Glühwein.

Der Glühwein hat immer ein Dach über dem Kopf. So stehen also Österreicherin und Österreicher beim Glühweinstand, jeder bei einem anderen und trinken sich den Herbst schön. Den Herbst und die Probleme, die Sorgen und die Angst. Wenn der Glühwein durch die Kehle rinnt, seine Süße das Herz aufweicht und der Alkohol die Zunge lockert, beginnt das große Vergessen.

Am Glühweinstand steht der Österreicher zwar nicht gemeinsam, aber nicht allein. Stets sind Mitleidende da, die an derselben Krankheit laborieren. Am Schmerz der Zeit. An der Regierung. An der Firma. An der Gattin und am Gatten. Am Dasein. Elend wäre das, gäbe es das Vergessen nicht, das im Glühwein sitzt und in die Tiefe will. Dorthin, wo das Gehirn sitzt. Zwischen den Beinen. Das Gehirn in der Tiefe drängt zum nächsten Glühweinstand, weit ist er nicht weg, gleich Giebel an Giebel, dort wo so laut gelacht wird. Wo gelacht wird, hat das Vergessen schon eingesetzt und die Gatter der Lustigkeit geöffnet. Wo die Lustigkeit spaziert, ist die Lust nicht weit. Nach Hause ist es nicht weit. Man könnte ja jetzt geschwind. Obwohl: Der nächste Glühweinstand gehört auch noch ausprobiert . Wie ja überhaupt ein Glühwein nie wie der andere schmeckt. Der Nebel kriecht jetzt in den Österreicher und ein paar Giebel weiter auch in die Österreicherin, legt sich über beider inneres Land. Angst hat jetzt keiner mehr, auch keine Sorgen mehr. Einen Glühwein noch, dann geht’s nach Hause. Die Harfe spielt schon. Die innere. Ihre ist lauter.

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