Warme Eislutschker

Essay für die „International Aids Conference“-Beilage des Standard vom 17. Juli 2010.
Life-Ball-bei-Ratzi.jpgWir waren Kinder und wir waren gesund. Im katholischen Klassenzimmer hing Franz Jonas, in San Francisco feierten sie den Summer of Love und unsere Krankheiten waren aufgeschundene Knie und Kirschen-Bauchweh. Ganz schlimme Opfer von Unpässlichkeiten klagten allerhöchstens über Nasenbluten und Zahnweh. Aber jenseits dieser Malaisen gab es ernstere Erkrankungen.
Die Männer in den weissen Mänteln und mit den randlosen Brillen, die Onkel Doktores machten strenge Gesichter, wenn sie davon sprachen. Spärlich war das Lehrerwissen darum, Händewaschen hiess es, wäre schon mal nicht falsch und unbekannte Dinge nicht anzugreifen oder abzuschlecken. Die Türschnallen von öffentlichen Gebäuden, die Hörer in den Telefonzellen, die Haltestangen in der Strassenbahn. Der Virus konnte überall lauern und jederzeit zuschlagen. Er war schlimmer als die Grippe, gefährlicher als Mumps und Masern, heimtückischer als Keuchhusten und Röteln. Und er hatte einen furchtbaren Namen: Kinderlähmung. Den Tod brächte er und ein Leben in der Eisernen Lunge und wer Glück hätte und wen es nur milde träfe, überlebte das Unaussprechliche mit schrecklichen Folgen.
Und alle von uns kannten irgendein Kind oder hatten schon mal eines gesehen, das an Krücken ging und dessen dünne Krüppelbeinchen in einem Gestell aus Lederschnallen und Metallschienen festgezurrt waren. Aber es gab Hoffnung, es gab Hilfe, es gab einen Ausgang aus dem Höllenzwang. Es gab die Impfung. Und es war keine Impfung, die gestochen wurde, sie kam nicht aus einem pieksenden Stachel, sie machte richtig Spass. Nie zuvor und nie danach habe ich, haben wir ein Zuckerstück gegessen, das gesünder war, als der kleine, mit einem Spritzer Medizin beträufelte Würfel. Die Schluckimpfung war eine feine Sache. Sie war geradezu lustig. Harmlos, aber heilbringend. Nie wieder Angst haben vor einem Leben als Krüppelkind. Und alle waren dabei. Niemand fehlte.
Aids-Galas funktionieren wie solche Schluckimpfungen. Sie sind geil, aber dienen einem hehren Zweck, sie verwirbeln Prominente, aufgeklärte Bildungsbürger, hedonistische Normalverbraucher und Betroffene aus der Szene zu einem glitzernden Gala-Amalgam. Sie immunisieren die Gesellschaft gegen ihr schlimmstes Ressentiment – dass Aussenseitertum und Krankheit ein Paar wären, dass sexueller Devianz Bestrafung folgt. Die einfache Message von Aids-Galas ist diese: HIV kann jeden treffen, der Kampf gegen die heimtückische Immunschwäche geht uns alle an. Es ist gut, dass es diese Galas gibt. Es ist gut, dass es den Life-Ball gibt. Und es ist fantastisch, dass er seit seinem Anbeginn unter dem Ehrenschutz des Wiener Bürgermeisters im Rathaus stattfindet und längst ein Fest von Weltgeltung ist.
Aber er ist die falsche Schluckimpfung. Er ist nur der Zucker. Ja, es wird gesammelt, ja medizinische und soziale Programme werden damit dotiert, Projekte finanziert; Aufklärung wird betrieben, Bewusstsein wird geschaffen, Barrieren und Ressentiments werden abgebaut. Darin ist der Life-Ball groß und mit ihm all die anderen, weltweit organisierten Aids-Galas. Das ist ihr Zweck und darin glücken sie. Aber sie sind nur der Zucker. Der Wirkstoff mit dem sie beträufelt wurden ist Bewusstsein.
Aids-Galas immunisieren nicht gegen die Krankheit, sie sind der Beipackzettel, aber nicht die Pille. Sie sind ein raffinierter, hochgestylter Aufschrei einer liberalen Mediengesellschaft. Das ist besser, als es sich anhört, aber viel zuwenig, um Aids zu stoppen.
Immunologen und Zellbiologen forschen fieberhaft an Strategien zu Aushebelung des heimtückischen Erkrankungsmechanismus. Und es gibt mittlerweile erfolgreiche Therapien, den Ausbruch von Aids zu verzögern. Und vielleicht eines Tages eine Schluckimpfung. Einen kleinen Würfel Zucker, mit ein paar Tropfen Medizin beträufelt. Aber solange es den nicht gibt, wird es Angst geben, Ansteckung, Unsicherheit, Fahrlässigkeit und Leid. Und Millionen Neuinfektionen in Drittewelt- und Schwellenländern. Denn Aids ist auch eine Krankheit der Armen und Unterinformierten.
Was kann man tun? Man kann sich was wünschen. Ich wünsche mir einen Life-Ball im Vatikan. Sie lesen richtig. Eine saftige Gala beim Heiligen Vater. Eine Modenschau am Petersplatz, eine Charity-Gala in der sixtinischen Kapelle, weltweit übertragen, so hochrangig besucht wie die UNO-Generalversammlung. Dass die Herren im Apostolischen Palast organisieren können, ist bekannt, dass sie ein weltweites Netzwerk kontrollieren, ebenfalls. Ich wünsche mir eine Fest-Loge, in der Jean-Paul Gaultier dem Heiligen Vater und Nelson Mandela Prosecco einschenkt, in der Vivienne Westwood, Kardinalstaatsekretär Tarcisio Bertone und Carla Bruni aus der gleichen Wasabinüsschenschale fischen und dabei über Safer Sex plaudern. Ich wünsche mir, dass die Bekämpfung von Aids für William Joseph Levada, Kardinalpräfekt der Kongregation für die Glaubenslehre ein ebenso grossen Stellenwert hat wie für Sharon Stone und Elton John.
Bevor Gary Keszler mit seiner Gala vom Rathaus in den Vatikan übersiedeln kann, braucht es allerdings einen päpstlichen Paradigmenwechsel. Sieht doch die gültige Lehrmeinung der vatikanischen Immunologen in der sexuellen Enthaltsamkeit die einzige gangbare Methode, die Verbreitung der Immunschwäche zu stoppen. Den Gebrauch von Kondomen hält der Heilige Stuhl gar für der Ansteckung förderlich. Dass die Weltgesundheitsorganisation und die Fachwelt den Gebrauch von Kondomen für die preiswerteste, die am einfachsten verfügbare und sicherste Methode der Aids-Prävention hält, ficht die Experten aus dem Patrimonium Petri nicht an. Das Aids-Virus sei ungefähr 450 Mal kleiner als eine Spermazelle, schon diese könne leicht durch ein Kondom dringen, beharrt der Vorsitzende des Päpstlichen Rates für Familienfragen. Statistiken und epidemologische Erkenntnisse, die dem widersprechen, fegt er vom Tisch.
Ich wünsche mir eine Schluckimpfung. Warum nicht gleich im Vatikan? Ein Umdenken. Die Erkenntnis, dass Aids ein böse, aber keineswegs gottgesandte Erkrankung ist. Und neben diesen warmen Eislutschkern wünsche ich mir, dass jemand vom oben beschriebenen Sixtinischen Aids-Kommittee den grossen Pharmakonzernen Feuer unterm Hintern macht. Zugang zu Medikamenten darf keine Frage des Wohlstands sein. Und hej, Weltenlenker! Die Schluckimpfung gegen Aids muss so wichtig werden wie die Rettung der Banken dieser Welt. Nie wieder sollen wir Angst haben müssen. Niemand von uns.
Essay für die „International Aids Conference“-Beilage des Standard vom 17. Juli 2010.

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