Essen auf dem Markt

Die Geschichte einer Annäherung
Andrea Maria Dusl für Falters Wien, wie es isst 2010
Am Anfang war der Karmelitermarkt, ich bin nämlich ein Leopoldstädter Kind. Am Karmelitermarkt trieb ich mich schon herum, als die Bobos und Ihre Entouragen noch in Abrahams Wurstkessel trieben. In Timmelkam, Schladming, Hall und Rankweil. Als es noch nichts gab am Karmelitermarkt, nichts ethnoaffines, ausser kopftuchbedeckte Standlerinnen aus Mistelbach, die erdverschmierte Bramburi feilhielten, Häuptelsalot, Karottna, Kööch und Sauerkraut. Als der Karmelitermarkt noch im Urzustand war. 
Wer Hunger hatte, ging zum Fischlokal in der Südwestecke, schräg gegenüber der Post. Das Fischlokal hatte Donnerstag große Konjunktur, warum wissen die Katholiken. Das Fischlokal Ecke Werd und Krummbaumgasse roch etwas streng, aber es war der einzige Ort am Markt, an dem es etwas zu essen gab. Fisch. Dünne, ledrige Filets, in Panade gewälzt und in Motoröl herausgebacken. Man sass drinnen, auf weissem Plastikmobiliar, auf nassen Fliesen. Scholle mit Majonaisesalat war das Königsgericht. Dazu reichte die Schank No-Name-Weissen aus der Dopplerflasche. Essen am Markt hatte etwas archaisches. Italien war noch nicht entdeckt worden und der Kebap nicht erfunden. 
Meine Beziehung zum Essen am Markt sollte sich am Hannovermarkt ändern. Mein Schulfreund der Schlagzeuger wohnte dort, in einem mondänen Gemeindebau mit Balkon und Fernsicht. Die Marktstandeln hier im Zwanzigsten waren aus Plattenbeton, die Standler aus dem nördlichen Niederösterreich. Auf den Hannovermarkt zog es mich weniger des DDR-Charmes, als einer Köstlichkeit wegen. Die rohe Mettwurst, die ein dickes, sonnensprossengesichtiges Fleischerpaar in handspannlange durchsichtige Plastikpellen passte und zweimal im Monat feilhielt, hatte überirdisches Geschmacksniveau erreicht. Die Mettwurst aller Mettwürste war weissgesprenkelt, ziegelrot. Hatten die Mongesichter LSD beigemischt oder Baldrian? Geheime Rezepturen aus dem Mittelalter? Vielleicht waren es auch nur simple Geschmacksverstärker, die die Wurst zum Suchtgift meiner Wahl machte. Wie auch immer, die beste rohe Mettwurst der Welt, die Mettwurst vom Hannovermarkt musste ich auf einen Sitz verdrücken. Auf der Stelle. Stantapeder, wie man dort zu sagen pflegte.
Es war die Zeit der ausgeschlagenen Hosen, der Diskokugeln und Schnitzelssemmeln. Essen am Markt hatte die zweite Stufe gezündet. Die Schnitzelsemmelmafia errichtete eine Schnitzelsemmel-Filiale nach der anderen. Nie wieder würden Marktbesucher hungern müssen. Ich behaupte: Die Schnitzelsemmel hat den Wiener Gaumen langsam auf die Kebap-Revolution vorbereitet. Fettigwarmes Fleisch obskurer Provenienz, in Weissbrothäften gelegt.  
Es war Zeit, die Millieus zu wechseln. >>


>>>Der Naschmakt trat in mein Leben. Wir waren erwachsen geworden und munter, hatten Italien auf die Landkarte gemalt und Griechenland dazu, hatten England bereist und einen Zipfel von Frankreich und den Kopf voller Flausen. In der Akademie am Schillerplatz malten wir uns ein Bild von der Welt und wenn wir Hunger bekamen, gingen wir hinunter an den Fluss. Das muss man wissen, wenn man zum Naschmarkt geht. Dass man zum Fluss geht. Nie geht man “in” den Naschmarkt, dazu ist er zu dünn. Stets geht man zum Naschmarkt. Der Naschmarkt ist ja eigentlich eine immens breite Brücke. Eine Brücke über den Wienfluss. Wenn man am Naschmarkt einen Olivenkern in den Gulli spuckt, landet er im Wienfluss. Und von dort schwimmt er gemächlich bis zur Urania, um über den Donaukanal in die Donau zu plätschern und dann ins Schwarze Meer.
Diese Zusammenhänge erörterten wir in unseren Pausen, wenn wir vom Elfenbeinturm am Schillerplatz herabgestiegen den Hunger stillten. Wir stillten ihn stets bei Ehrenreich, einem kleinen grantigen Wurstgriller, der in einer kleinen Höhle im Durchgang unter der Naschmarktuhr residierte. Ehrenreichs Würstereich war mit grossen Blechschildern ausgeschlagen, auf die Würste gemalt waren, die einander an der Hand hielten und kluge Sprüche aus dem Wurstuniversum von sich gaben. Ehrenreich briet köstliche Bratwürste, lang und dünn wie Ballerina-Ärmchen, schlug sämigen Kremsersenf dazu und fischte abgetropfte Pfefferoni aus einem hundertjahrealten Einmachglas. Seine Frankfurter waren zart wie Engelswangen und bei Ehrenreich meine ich die ersten Käsekrainer der Welt gegessen zu haben. Einer Kapazität wie Ehrenreich war es zuzutrauen, eine Wurstsorte in die Welt zu setzen. Waldviertler gab es in zweierlei Manifestationen, gesotten und auf der heissen Eisenplatte gegrillt. Wenn der mürrische Zerberus einen guten Tag hatte, sprach er mit uns. Auch wenn es nur einzelne Worte waren. Und irgendwann hatte der Autist uns so weit in sein Wurstbraterherz vorgelassen, dass er uns ein erstes Geheimnis anvertraute. Die Waldviertler sei ohne Haut zu essen, meinte er eines Tages: “Nur die Trotteln loss i’s min Schöla essn.” Drei Beziehungen braucht der Wiener, sannen wir damals, drei Beziehungen fürs Leben. Eine zu seinem Zahnarzt, einen zu seinem Steuerreferenten und eine zu seinem Würstelmann.
Andrea Maria Dusl für Falters Wien, wie es isst 2010
Während wir also tagsüber im Elfenbeinturm sassen und mittags beim Ehrenreich standen, drehte sich die Welt weiter. Essen am Markt, so verstand man, existierte jenseits von Schnitzelsemmerln, Sauerkraut und Gabelrollern. Marco Prolo hatte die Märkte der Welt bereist, in Italien Kunde von der köstlich-knusprigen Porchetta bekommen, in Spanien Tapas genascht und vor den Istanbuler Bazaren die Nase in turkmenische Garküchen gesteckt. Ganz Mutige waren weitgereist und berichteten von den Märkten in China, Thailand, Indien und in Kenia. Und während Spaghetti, Sugo und Parmesan die Supermärkte besiedelte, etwas später Kokosmilch, Sojasprossen und Zitronengras, machte es sich auf den Wiener Märkten der Kebapspiess gemütlich.
Essen auf dem Markt wurde zum Spiegel ethnokulinarischen Bewusstseins. Wer in Hongkong aus Bratnudeltöpfen bedient worden war, mochte das in Wien am Markt nicht missen. Sushi und Sashimi, Bulgogi und Tom Yam Gung mussten erst in San Francisco, London und Berlin an den Yuppie gebracht werden, ehe sie ein Jahrzehnt später den Wiener Bobogaumen erfreuen konnten.
Die grossen Naschmarktpavillons, in denen sich angehende Burgtheatermiminnen und frühgealterte Artdirektoren hinter Sonnebrillen verstecken, um bei nerviger Loungemusik dem Nachmittags-Frühstück avec Aperol-Spitz zu huldigen sind meine Sache nicht. Auch nicht die Stehbars, an denen rotnasige Prosecco-Tschecheranten hängen, in schmierigen Antipastitellern stochern und Immobilienpreise, Intimrasuren und Golfverletzungen erörtern.
Ich gehe lieber zu Glavinics Inder, und Neda Beis Sushineshen. Und wenn sich Masochismus zu Müdigkeit auf ein Packl hauen, kann es sein, dass ich schwach werde und bei der Tochter des Pantomimen einkehre. Dann muss nur noch ein kleines Lüfterl wehen und die Sonne schöne Schatten werfen. Dann gefällt es mir. Auch wenn der Speisenbeauftragte der Pantomimentochter sich Zeit lässt und auf mich vergisst. Denn wenn er auf mich vergisst, will es mir selbst gelingen, auf mich zu vergessen. Dann tritt das Glück ein. Mitten am Naschmarkt.

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