Boboville ::: Vorabdruck in der „Presse“

„Die ,Negerlein‘ im heißen Afrika der Heiden und der wilden Tiere, so erzählten uns die Schwestern, befänden sich in den Fängen des Satans, der ihnen nicht nur den falschen Geburtskontinent, sondern auch die falsche Hautfarbe mit auf den Lebensweg gegeben habe.“ Aus meinem Roman Boboville. Vorabdruck in Die Presse – spectrum vom 19.09.2008
Präsentation und Lesung von Boboville: 24.9., 19h im Schikanederkino, Wien 4., Margaretenstrasse 24.
Weitere Lesung am 27.9., 21h im Loisium Langenlois.
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Boboville-220.jpgWeiter gegen den Wald, der hier einmal stand, jenseits von Boboville, im Dunkel der Provinz, da lag unsere Schule. Es war keine normale Schule. Ganz im Gegenteil, es war eine ganz und gar unnormale, absonderliche, eine ganz und gar abscheuliche Schule. Die Private Volksschule des Vereins der Schulschwestern vom 3. Orden des hl. Franziskus für Knaben und Mädchen mit Öffentlichkeitsrecht. Sie war das Gegenteil vom Bonbongeschäft. Aber für die Genese Bobovilles, für die Aufklarung der Andreamaria waren die Vorgänge in ihrem Inneren gewiss mindestens so wichtig. Denn wo Licht ist, so lernten wir es im Religionsunterricht beim Herrn, den wir den Herrn Katechet nannten, ist immer auch der Schatten. Und es war viel Schatten im Gebäude Leopoldsgasse 1a.
Auch dieses hatte seine Richtigkeit. Ein Gebäude wie das der Schulschwestern konnte nur die Hausnummer 1 tragen. Nichts anderes wäre denkbar gewesen als diese Zahl. Und um die Gelegenheit zu nutzen, diese Erstheit noch zu unterstreichen, fügte das Schulschwesternkommando auch noch den Buchstaben „a“ an. Jedes Gebäude, das diese Nummer hätte unterschreiten wollen, hätte tief in die Untere Augartenstraße hinein bauen müssen und sich Leopoldsgasse römisch eins groß A nennen müssen. Leopoldsgasse IA. Eventuell hätte ein solches Gebäude der Schulschwesternburg den Eminenzrang abgelaufen. Jenseits dieser Privatüberlegungen hatte die Hausnummer „1a“ etwas zutiefst Schulisches. Klar, dass ich eine Klasse besuchte, deren Kennzahl ebenfalls „1a“ war.
Als noch viel Schatten war im Dunkel der nonnengeführten Schulburg, wurde viel mit Licht hantiert. Es wurde Licht ins Dunkel gebracht. Mit Kerzen, schirmlosen Hundert-Watt-Birnen und mit dem Feuer der Spende. Erinnern wir uns doch, wie das ist in Schnitzelland. In heiligen Zeiten, meist ist das der Advent, die Zeit der Besinnung, gefällt sich Boboville darin, Gnade vor Unrecht walten zu lassen und den einen oder anderen Schein zu spenden. Im Kerzenlicht der Betroffenheitsgalas werden Spenden lukriert, dass sich die Konten biegen. Wie das geht, lernten wir 1968. In der Schule. Während anderswo die Pflastersteine aus dem Boulevard gerissen wurden. In Saint-Germain-des-Prés. Auf der Wiese des Widerstands. Wie man Spenden aus den Herzen schneidet, lernten wir in der Rue Léopold. In keiner Schule Bobovilles lernte man das Spenden besser als in der Volksschule des Vereins der Schulschwestern vom 3. Orden des hl. Franziskus für Knaben und Mädchen mit Öffentlichkeitsrecht.
Ich gebe nichts. Außer Roma-Musikern, in denen ich aus familiären Gründen meinesgleichen sehe, gebe ich nichts, nie, niemandem, außer meinen Freunden, den Musikern. Die Spende ist das Böse. Zwischen mir und der Spende steht die Unmöglichkeit. Schon das Wort löst in mir Beklemmungen aus. Die Abneigung gegen das Spenden überfiel mich in der Volksschulklosterburg. Die Schwestern, in deren Obhut ich mich befand, weil mein Vater am Auftrag zu einem Kirchenbau bastelte, die Schwestern in der Leopoldsgasse 1a, hatten ein ausgeklügeltes Ritual entwickelt, um an Geld zu kommen. Zu allen heiligen Zeiten, die riefen sie aus, wie ihnen das katholenkalendarisch passte, wurde der „Negerlein“ gedacht. Die „Negerlein“ im heißen Afrika der Heiden und der wilden Tiere, so erzählten uns die Schwestern, befänden sich in den Fängen des Satans, der ihnen durch eine Gnadenlosigkeit ohnegleichen nicht nur den falschen Geburtskontinent, sondern auch die falsche Hautfarbe mit auf den Lebensweg gegeben habe. Diese tragische Konstellation gelte es zu lindern. Direkt in die Hölle kämen die armen „Negerlein“, wenn nicht geholfen würde. Gestorben würde schnell in Afrika. Und wenn wir tatenlos zusähen, dann wäre alles verloren.
Ein „Negerlein“ nach dem anderen würde in den Höllenschlund hinabsausen, und was und wie es sich da abspielte, sollten wir uns lieber nicht vorstellen. So war das, in der dunklen Abgeschiedenheit der Leopoldsgasse 1a. Wir müssen helfen, Schwester Benedicta, rief es in Andrea Maria in der ersten Reihe, Birgit in der zweiten war den Tränlein nahe, und Silvia mit zwei i ohne Ypsilon neben mir saß stumm vor Schreck beim Gedanken an die unaussprechliche Satansgewalt an afrikanischen Kindern. Wie können wir helfen, schrien wir im innerlichen Chor, hätten wir tatsächlich geschrien, wäre es in einer Lautstärke gewesen, mittels derer im Urania-Kasperltheater die Prinzessin vor dem Krokodil gewarnt wurde. Aber tatsächliches Schreien war im Schulschwesternbunker nicht erlaubt. Nur das innerliche Schreien, der stumme Schrei der Seele, der hatte Gottes Segen.
Ganz einfach könnt ihr helfen, antwortete Schwester Benedicta mit ihrer weihrauchbelegten Stimme, und ihr nacktes Gesicht glättete sich unter dem schwarzen Schleier: Ihr müsst ein Negerlein taufen lassen. Denn nur wenn es getauft sei, so verkaufte sie uns den Deal, nur wenn es gekauft sei, misslänge es dem Satan, seine schmutzigen Krallen nach dem unschuldigen Heidenkindlein auszufahren. Gekauft, sagte die haarlose Benedicta, so wahr dieses Buch hier Bobovilleheißt. Nur wenn einer von den katholischen Missionaren, den Helfern und Heiligmäßigen der päpstlichen Armee, die Erbsünde von ihnen abwüsche, wären sie rein und fein für den Erlöser, so dieser sich anschickte, eines der armen „Negerlein“ zu sich zu rufen. Und der Erlöser rief gerne und oft. Das war Teil seiner Agenda. „Negerlein“ zu sich rufen.
Ob man nicht Suppe schicken sollte oder Semmeln, wollten wir wissen, und Schulbücher, ja vielleicht Spielsachen? Mehlspeisen? Neinneinnein, grimmten die Haarlosen, all das wäre nichts, ja Hohn, wenn es Ungetauften dargebracht würde. Denn nichts, nichts und aber nichts wäre so heilbringend wie die Taufe. Ohne Taufe wäre das Heil hinüber. Und die Taufe, so versprach uns Schwester Benedicta in einem feierlichen Tonfall, die Taufe könnten wir ihnen bringen. Wir. Niemand anderer. Nicht der Papst, nicht der Herr Katechet, nicht die Schwester Direktor, die Schwester Treppe oder die Schwester Pforte, nicht Bürgermeister Marek, nicht die Frau vom Papiergeschäft. Wir.
Hundert Schilling koste die „Negertaufe“. Hundert wohlfeile Schilling, so viel wie hundert Bensdorp-Schokoladeriegel, so viel wie tausend Stollwerck-Zuckerl. Unermesslich wohlfeil für eine Gnade, die das Höllentor verschließen konnte. An jenem Tag, dem ersten dieser Art, den ich erinnere, gingen einunddreißig Schulkinder der 1a in der Schule der Schulschwestern in der Wiener Leopoldsgasse nach Hause und machten ihren Eltern klar, dass, wenn morgen nicht alle mit Hundertschillingscheinen in der Klasse erschienen, all die „armen Negerlein“ mit ihren „schwarzen Häuten“ und kurzärmligen Hemden vom Satan persönlich verspeist würden. Ungetauft und nach ewig langem Rösten im Fegefeuer der Versäumnisse.
So kam es, dass am nächsten Tag dreißig Wiener Schulmädchen, vom Gedanken an die Rettung von einunddreißig „Negerlein“ erfüllt, dreißig Kuverts mit Hundertschillingscheinen übergaben und mit der Kenntnis des Ausdrucks „Gutes Gewissen“ belohnt wurden. Klara Polacek, die Tochter vom Fleischhauer am Karmelitermarkt, hatte ein Kuvert mit 5 Hundertern mitgebracht – eine geradezu überirdische Christentat, wie Sr. Benedicta sich bemühte zu erklären. Einige Monate später, der Krampus war ins Land gezogen, das Christkind, Frau Holle und auch die Heiligen Drei Könige, brachte Sr. Benedicta Nachricht aus Afrika: Bilder unserer Taufkinder. Der Glaser in der Leopoldsgasse hatte sie zwischen zwei postkartengroße Glasscheiben gepresst und mit rosafarbenem, mit korngelbem, mit giftgrünem Textilband eingerahmt. Fünfunddreißig verglaste Selige. Das waren sie, die Spätgetauften, die „Negerlein“, die von uns Geretteten! Wir hatten Tränen in den Augen und Christus im Herzen. Und das Gute Gewissen des gefälligen Glaubens.
Bis mein Bruder Christian, wir nennen ihn Kai, im übernächsten Jahr mit dem Bild seines „Negertäuflings“ nach Hause kam. Und seltsam: Der Porträtierte sah genauso aus wie meiner, und hätten wir fotografische Zusammenhänge benennen können, hätten wir gesagt: Das ist ein Abzug vom selben Negativ. Weil auch unbenennbare Zusammenhänge neugierig machen, kletzelten wir die korngelben Textilrahmen entzwei und verglichen die beiden Bilder miteinander. Sie waren identisch. Emanuel Izuagha und Markus Adegboye glichen einander wie ein Ei sich selbst. Auf der Rückseite trugen beide Bilder den gleichen Stempel: Foto Hubalek, Favoriten.
Seither hege ich berechtigte Zweifel daran, dass auch nur irgendein Teil jener Summe, die wir jahrein, jahraus in das Taufen dunkelhäutiger Heidenkinder investierten, dazu diente, den nach dem Seelenheil Ungetaufter gierenden Höllenschlund zu verriegeln. Im Garten meiner Erinnerung riechen die Wörter Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Spende nicht nach Rosen, sondern nach dem taubenbeschissenen Efeu im Hinterhof der Schulschwestern vom franziskanischen Gnadenwohl.

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